Liebes Tagebuch… 81
„Die Gefühle der Masse sind stets sehr einfach und sehr überschwänglich. Die Masse kennt also weder Zweifel noch Ungewissheit.“ (Sigmund Freud)
Neulich auf einer Milonga hatte ich ein bemerkenswertes Erlebnis:
Ich war gerade auf der Tanzfläche unterwegs, als ich aus dem Augenwinkel bemerkte, wie sich ein Gast zu meiner Begleiterin setzte und ein Gespräch begann. Er saß auch noch auf meinem Platz, als ich nach dem Tanzen zurückkam, und machte zunächst keine Anstalten, diesen zu räumen. Na gut, holte ich mir halt einen unbesetzten Barhocker.
Ob ich ihn denn nicht mehr kenne? Nein, leider nicht… ich mogelte mich um die Frage, bis er schließlich meine Begleiterin zum Tanzen aufforderte und aufs Parkett entschwand.
Später erfuhr ich dann den Inhalt des Gesprächs: Er berichtete von seinen Besuchen Münchner Milongas. Eine hat es ihm wohl besonders angetan, da dort „Ordnung“ auf der Tanzfläche herrsche. Der dortige Chef, so seine Erzählung, habe mal mitten in der Tanda die Musik gestoppt und das „Kreuz und quer-Tanzen“ verboten.
Ich fragte meine Begleiterin: „Hast du ihm gesagt, dass wir diesen ultimativ arroganten Veranstalter aus früheren Zeiten sehr gut kennen? Und selber ganz bestimmt keine Milongas besuchen, wo uns solche Vorschriften gemacht werden?“
Nein, hatte sie natürlich nicht. Und auch ihre Begründung sah ich bereits voraus: Sie hatte keine Lust, sich mit dem Herrn zu streiten. Man sei schließlich zum Tanzen hier und nicht zum Debattieren.
Klar, das ist grundsätzlich auch meine Einstellung. Ich mag auf Tangoveranstaltungen eh keine tiefschürfenden Gespräche – und käme nie auf die Idee, einem Gast oder gar einer Tanzpartnerin meine persönlichen Einstellungen zum Tango aufzudrücken. Es reicht doch wahrlich, mit mir als Tänzer klarzukommen! Wer sich für meine speziellen Ansichten interessiert, kann ja meine Blogtexte lesen.
Andere sehen sich zu dieser edlen Zurückhaltung nicht bemüßigt. Und da ihnen keiner widerspricht, gehen sie davon aus, dass ihre Ansichten völlig überzeugend und daher Allgemeingut sind.
Genau das halte ich für ein Problem.
Ich kenne das aus meiner Kindheit und Jugend: Da meine Eltern mich jahrelang jeden Sonntag zur Messe schickten, bekam ich jede Menge nicht nur theologischen Mülls mit, welcher damals noch von der Kanzel abwärts auf uns regnete. Der kostümierte Herr dort oben brauchte sich um Widerspruch nicht zu sorgen: Die Gläubigen hatten seine Suada still zu ertragen.
Als ich dann mit einigen Freunden vor der Kirche eine Unterschriftensammlung gegen unseren autoritären Pfarrer organisierte, war das für mich ein Befreiungsschlag, auf den ich heute noch stolz bin. Und inzwischen habe ich mich von den kirchlichen Bodentruppen steuerlich wirksam abgemeldet.
Ähnliche Erfahrungen machte man in diesen Jahren (vor der 68er Revolte) laufend: In der Schule hatten die Lehrer und insbesondere der Chef von Natur aus Recht – Widerspruch wäre eine Todsünde gewesen und entsprechend geahndet worden.
Und auch im „Zivilleben“ hatte man fein stille zu schweigen, wenn bei einem Verwandtenbesuch irgendein beknackter Erwachsener deutschnationale Sprüche klopfte und Vorurteile zementierte. Widerworte wären als störend empfunden worden und hätten zum Vorwurf geführt: „Du verdirbst uns die schöne Feier!“
Welche schöne Feier eigentlich?
Warum schreddert nicht der eine Zusammenkunft, welcher meint, die Mitwelt sei an einem Referat zu seinen seltsamen politischen Vorstellungen interessiert?
Die Antwort ist einfach: Weil er glaubt, für eine riesige Mehrheit zu sprechen – wenn er nicht gar der Überzeugung ist, zu dem Thema gebe es gar keine zwei Meinungen! Widerspruch verunsichert ihn dann, weil er damit klarkommen muss, dass es doch Andersdenkende gibt. Das führt nicht selten zu unsachlichen, ja bösartigen Angriffen auf den Minderheiten-Vertreter.
Diese Erfahrungen mache ich auch heute noch beim Tango: Wer findet, Piazzollas Musik sei untanzbar, für die Parkettbenutzung und das Auffordern seien strenge Regeln nötig, Tangomusik nach 1960 sei tänzerisch wertlos, der kann das gerne und überall propagieren – und muss es nicht mal begründen. Er (oder sie) spricht ja für die überwältigende Mehrheit.
Wer gegenteiliger Auffassung ist, steht unter ständigem Rechtfertigungszwang – schlimmer noch: Er hat oft das Gefühl, etwas geradezu Ungehöriges geäußert zu haben. Jedenfalls aber hat er keine Ahnung von der Sache:
„Es ist allerdings interessant, wie schnell in der Tangoszene nach nur kurzer Zeit der Beschäftigung mit der Sache so schnell Fachleute entstehen. Da mutieren Menschen nach nur relativ kurzer Zeit der Beschäftigung mit dem Thema zu reinsten Fachleuten in allen Gebieten des Tangos und können plötzlich mit allen Themen mitreden. Manche davon schreiben sogar Bücher.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/03/dont-be-that-way.html
Ich hatte noch nie ein gutes Gefühl, wenn große Mehrheiten
eine Sache unterstützen. Mag ja sein, dass sie Recht haben – aber die Gefahr
ist groß, dass es nur einer dem anderen nachplappert. Man fühlt sich halt wohl
auf der Seite der Vielen. Das erspart eigenes Nachdenken. Und historisch lagen Mehrheiten oft gruselig daneben.
Daher ist mir ein Platz bei den Zweiflern lieber. Und ich habe kein Problem damit, zu einer Minderheit zu zählen. Im Gegenteil! Hinterfragt man scheinbare „Wahrheiten“, macht man oft erstaunliche Entdeckungen. Auch beim Tango. Und die darf und sollte man dann auch laut aussprechen. Damit sich nicht der Eindruck verfestigt, es gebe keine Alternativen.
Mir geht es da wie Christian Morgenstern:
„Ihr andern werdet sichrer immerdar. Ich werde fragender von Jahr zu Jahr.“
Zum Weiterlesen:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/03/dont-be-that-way.html
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