Der Giro und ein Flaschenzug
Meinem Leser Tom Opitz verdanke ich den Hinweis auf ein Video. Er schrieb mir dazu: „Ein tolles Video, das zeigt, wie undogmatisch spontan sich die Entfaltung des Tangotanzens vollzog.“
Ich habe mir die ziemlich antike Produktion sehr gerne angesehen. Petróleo, ein steinalter Milonguero, unterhält sich mit Mingo Pugliese, Miguel Ángel Zotto und Milena Plebs über die alten Tangozeiten. Ich habe die wesentlichen Aussagen übersetzt:
„Petróleo erzählt vom Aufstieg des Tangos.“
„Er hat den Tanz neu belebt.
Im Jahr 1939 gehörten Petróleo und Cacho Lavandino zu einer Gruppe, welche die Giros (Drehungen) ins Leben rief. Cacho war Maurer. Beim Bau musste er die Eimer mit einem Flaschenzug hochziehen. Weißt du, was das ist? Du hast ein Seil und einen Metallring, mit dem du die Eimer hochziehen musst.
Cacho dachte, dass er sich um das Seil herumschwingen könnte. Er hielt sich an dem Seil fest. Am Abend erzählte er Petróleo von seiner Idee.
Lass mich sehen, was du meinst, sagte Petróleo. Er hängte ein Seil auf und sagte: Schwinge darum herum. Und noch einmal. Das sollten wir mit den Frauen machen. Und so begann der Giro im Jahr 1939.
Diese Anekdoten sind die Essenz des Tangos. Denn ursprünglich war der Tango eine Improvisation. Menschen, die den Tango tanzen, denken nicht darüber nach. Sie legen sich eine Choreographie zurecht, und jeder tanzt auf seine Weise. Es gibt eine Rivalität zwischen den professionellen und den nicht professionellen Tänzern. Die Choreografie ist schwierig, aber das Improvisieren auch.
Ein professioneller Tangotänzer muss auch im Ballsaal tanzen. Ich rate jungen Leuten immer, tanzen zu gehen. Wir haben die Entwicklung des Tanzes nie wirklich erlebt. Man muss sich auf die wenigen noch lebenden Altmeister stützen, die in den vierziger Jahren dabei waren. Man muss von ihnen lernen. Aber wenn du es nicht in dir hast, kann es dir niemand beibringen.“
„Ich war jung. Wir hatten es geschafft. Ich habe mit reichen Frauen getanzt. (...) Ich verdiente bis zu 100 Pesos. Eine Menge Geld. Das waren riesige Scheine. Ich steckte sie hier ein. Ich arbeitete bis neun Uhr morgens als Milonguero. Ich habe immer nachts gearbeitet.
Miguel hat damals gezockt. Um Mitternacht kam er rüber, um zu sehen, wie viel ich verdient hatte.“
„Er verdiente etwa 2000 Pesos. Sie teilten es. Normalerweise hätte er für so eine Summe zehn Monate arbeiten müssen.“
„Zehn Nächte! Ich habe manchmal bis zu 1600 Pesos verdient. Ein ziemliches Vermögen! Um euch eine Vorstellung zu geben: In den Jahren, von denen er spricht, den Dreißigern, konnte man für diese 2000 Pesos ein großes Haus kaufen.“
„Und wo ist das ganze Geld geblieben? Ich werde es euch sagen: Alkohol und Glücksspiel. Und natürlich hat er die ganze Zeit über gut gelebt.“
„Und jetzt habe ich nichts mehr.“
„Für die Länge eines Pferdekopfes hat er alles aufs Spiel gesetzt.“
(Musik: Por una cabeza)
Hier das Video:
https://www.youtube.com/watch?v=quHDYyqnJcE
Ich glaube, man erhält einen ganz guten Eindruck davon, was diese Zeitzeugen ausmachte: Von der bürgerlichen Welt, die heute in der Szene dominiert, waren sie meilenweit entfernt. Sie tanzten die Nächte durch, weil sie verrückt nach Tango waren. Und es waren sehr einfache Männer, die plötzlich erlebten, dass man für ihre Künste gut bezahlte. Das schnell verdiente Geld wurde aber ebenso rasch versoffen und verspielt. Richtig schräge Typen also, die aber eines besaßen: ein unglaubliches Gespür fürs Tanzen, für die Musik.
Es waren totale Individualisten, die ihre ganz persönliche Art des Tango erfanden. Man wollte sich ja von der Konkurrenz absetzen.
Kürzlich las ich von einem Tangolehrer, ich sei ja nur „ein pensionierter Chemie- und Biologielehrer“ aus Pörnbach, der „nur über sporadische Tanzkenntnisse verfügt, die nicht über untere Mittelklasse hinausgehen“ und „kaum über mehr tiefere Kenntnisse der Tango-Geschichte, Tanz-Theorie und Praxis, über Tangomusik-Kenntnisse, Tango-Unterricht“ verfüge.
Und schließlich gebe es in Buenos Aires die „Academia Nacional de Tango“ mit jeder Menge Experten zu Themen wie „Tanzgeschichte, Musik und Musikgeschichte des Tangos, Tango-Literatur, Ethnologie, Lyrik, Musiker, Tangonoten, Instrumentalisierung“ (er meinte wohl „Instrumentierung“).
Nun weiß ich nicht, ob es dieses Institut schon in den 1930er Jahren gab – nur: Von alledem hatten die verrückten Kerle, die sich mit Tango die Nächte um die Ohren schlugen, wohl auch kaum Ahnung.
Lustig, dass heute zertifizierte Bewegungstherapeuten Drehungen unterrichten, auf die vor über 80 Jahren ein Maurer kam, der einen Flaschenzug bediente…
Genau das ist aber Tango. Jedenfalls der Tanz, welcher – wie es ein argentinischer Freund einmal ausdrückte – „von ganz einfachen Menschen erfunden wurde“.
Daher werden wir in Pörnbach auch weiterhin das tanzen, was sich für uns richtig anfühlt – und an unseren persönlichen Stilen arbeiten. Auch ohne Genehmigung einer staatlichen Tangoakademie!
So wie die Ollen – die zu einer Musik tanzten, die damals modern war. So wie wir zu einer, die heute angesagt ist! Nur müssen wir nicht davon leben. Und ohne viel Alkohol und Glücksspiel. Das macht es noch leichter!
Das Sie mich ja immer wieder mit meinen Zitaten in Ihre Beiträge hineinziehen und über meine Worte jammern, muss ich dazu noch etwas schreiben:
AntwortenLöschenWas wollten Sie uns denn mit diesem Beitrag sagen, Her Riedl?
Das man als „einfacher Mann“ auch die Qualifikation haben sollte, Blogartikel zu schreiben und keine „Academia Nacional de Tango“ besucht haben muss, um Wissen zu vermitteln?
Dass Leute wie Petroleo (der Name ist ein Spitzname, weil er gerne ein bisschen zu viel Wein „petroleo“ trank) Gespür fürs Tanzen und für die Musik der EdO-Jahre hatten, loben Sie, aber dass diese gleichzeitig Piazzolla verpönt haben, weil seine Musik für sie nicht tanzbar war, verschweigen Sie …weil diese Leute eben Gefühl für die Musik hatten. Piazzolla hat erst viel später auch bei den Puristen die Anerkennung bekommen.
Erklären Sie doch mal, was mit dem Seil gemeint war und was so revolutionär an der Drehung war. Oder glauben Sie, dass das jemand anhand Ihrer Übersetzung verstanden hat? Oder etwa Sie? Das Petroleo die Giro erfunden hat, stimmt übrigens nicht. Nur die Art und Weise, die sie auch auf vollen Tanzflächen praktikabel machte, war das Neue daran. Diese Geschichte kreist seit Jahren als Legende in der Tangoszene, aber den Schlüssel dafür haben Sie nicht erwähnt. Mir hat es Antonio Todaro (übrigens auch Maurer), ein Freund von Petroleo erzählt und etwas entscheidendes hinzugefügt. Dieses Wissen darüber habe ich mir per teurer Einzelstunden erworben und nicht vom Schreibtisch per Facebook, Wikipedia oder YouTube erschwurbelt, wie Sie.
Sie beschweren sich unentwegt über Kommerzialisierung des Tangos und erbauen sich darüber, dass ein einfacher Maurer riesige Summen als Taxi-Tänzer verdient, verspielt und versäuft.
Und Ihre Heuchelei ist kaum zu ertragen: Wie harsch würden Sie diese Spezies „Tango-Taxi-Tänzer-Profis (Tango-Elite, die dann ihr Geld von den armen, reichen „ausgesaugten Damen“ versaufen und verspielen), verbal verdreschen, wenn es sich um Zeitgenossen in Ihrer hiesigen Tangoszene handeln würde?
Sie messen mit zweierlei Maß, Herr Riedl, mit Ihrer „Tango-waren-wilde-Zeiten-Romantik“, nur um mit diesem Artikel zu vernebeln, dass Ihnen für sachliche Artikel im Bereich Tanzmusik, Tanz und Unterricht theoretisch die Qualifikation und praktisch in Sachen Musikalität und Tanzen fehlen.
Außerdem sollte man die Fähigkeiten dieser Tänzer im Vergleich zu heute nicht überbewerten. Was das Trio Salas, Naveira, Veron, Frumboli in den 90ern gemacht haben, war nochmal eine Stufe höher und das waren anfangs auch keine Profis.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Wendel
Lieber Herr Wendel,
Löschenich habe aufgehört zu zählen, wie oft Sie schon geschworen haben, keine Kommentare mehr zu schicken. Dazu sind meine Texte aber offenbar zu interessant. Ich nehme das als Kompliment.
Ihr Gedöns hätten Sie sich aber weithin sparen können, wenn Sie meinen Artikel sinnentnehmend studiert hätten. Ich preise diese alten Maestros und ihre Marotten keineswegs. Weitgehend habe ich schlicht die Texte des Videos übersetzt. So können sich meine Leserinnen und Leser ein eigenes Bild machen.
Gelobt habe ich lediglich ihr musikalisches und tänzerisches Gespür. Und ich fand es interessant, dass einfache Leute das Tanzen weiterentwickelt haben – und nicht verkopfte Experten auf wissenschaftlicher Basis. Ich wünschte Ihnen, Sie könnten auch einmal „loslassen“, statt mit Rechthaberei überzukompensieren.
Dann haben Sie also per teure Einzelstunden herausgekriegt, wie das genau mit dem Eimer und dem Seil funktionierte? Gratuliere!
Dass die alten Seckel wohl nichts von Piazzolla hielten, ist ein übliches Zeichen von Vergreisung. Das dürfte Ihnen doch bekannt sein! Die haben halt damals getanzt, was angesagt war, und dabei sind sie geblieben. So wie wir heute zu zeitgenössischer Musik tanzen – außer im Tango.
Aber danke für die Erkenntnis, dass ein Trio aus vier Personen besteht!
Beste Grüße
Gerhard Riedl