Anfänger oder Masterclass?
Der Blogger-Kollege Helge Schütt hat kürzlich eine interessante Frage bearbeitet: „Anfänger? Oder Fortgeschrittener? Oder beides?“
https://helgestangoblog.blogspot.com/2023/07/anfanger-oder-fortgeschrittener-oder.html
Was ist an den Einteilungen dran, mit welchen viele Lehrkräfte die Schülerinnen und Schüler sortieren? Für den Tango, so der Autor, scheine es „sehr wichtig zu sein, die Fähigkeiten der Tänzer in verschiedene Stufen einzuteilen.“
Na ja, sagen wir so: Für das Lehrpersonal oft schon – falls man genügend Interessenten hat, um abgestufte Kurse zusammenzustellen. Wenn nicht, bietet man halt Lehrgänge „für alle Niveaus“ an oder beschränkt sich auf Privatstunden. Schon diese Beliebigkeit wirkt nicht gerade überzeugend. In dem Artikel heißt es auch zurecht, dass man die Leistungseinteilung an den verschiedenen Instituten ziemlich unterschiedlich sehe.
Aber Schütt will’s trotzdem wissen – weniger, um sich und andere zu bewerten, sondern, um herauszukriegen, wie weit er sich selber schon entwickelt habe und wo noch „Luft nach oben“ sei.
Abgesehen davon, dass ich es für bestes Kabarett halte, wenn man angesichts des heutigen Treibens auf den Tangopisten den Blick in höhere Sphären wagt: Brauche ich diese Selbsteinschätzung tatsächlich?
Ich jedenfalls nicht. Was soll ich mich darum kümmern, ob
ich (oder eine Partnerin) nun zu den Fortgeschrittenen oder zur Mittelstufe
gehöre? Bringt mir das etwas, wenn ich mit einer Frau tanze? Und zu
Kursen und sonstigen Lehrgängen habe ich mich schon viele Jahre nicht mehr
angemeldet. Wenn schon, dann bevorzuge ich private Practicas, in denen Leute unterschiedlicher Erfahrung miteinander üben
Helge Schütt schlägt Kriterien für die Einstufung vor, die von seinen „drei Säulen des Tango“ ausgehen:
· den eigenen Fähigkeiten
· denen des Partners (bzw. der Abstimmung mit diesem)
· der Musik
Na ja, so genau wollte ich es gar nicht wissen…
Der Autor trägt aber zu den drei Bereichen sicherlich viel Vernünftiges vor, daher empfehle ich gerne die Lektüre. Bei manchen Punkten allerdings komme ich ins Grübeln:
Wieder einmal macht er Tangokenntnisse vorwiegend an den zu lernenden „Figuren“ und ihren Variationen fest. Danach sind ja auch viele Kurssysteme aufgebaut. Nun kenne ich aber Paare, die mit sehr einfachen choreografischen Mitteln beeindruckende Tänze hinbekommen, während ich so manche Gymnastik mit komplizierten Schrittfolgen eher als „Tangoparodie“ empfinde.
Helge Schütt sieht Lernfortschritte daran, dass man nicht nur mit dem eigenen, sondern auch mit fremden Partnern mehr und mehr harmoniere. Einen gelungenen „Dialog“ im Paar ordnet er erst hohen Leistungsstufen zu. Ich meine dagegen: Wer nicht von vornherein bereit ist, es auch mit neuen Partnern zu versuchen, betritt einen gefährlichen Weg. Oft bleibt es nämlich dabei, in fester Verbindung zu verharren. Und häufig fällt es sogar leichter, mit einem Fremden zu tanzen, weil man dabei nicht die ganze „Beziehungskiste“ mitschleppt.
Ich habe Frauen erlebt, die mir zu Beginn einer Tanda mitteilten, sie „ließen sich nicht führen“. Wer sagt das? Natürlich ihr Ehemann! Na, dann muss es wohl stimmen…
Der Autor schreibt: „Als Anfänger beginne ich mit keinerlei Kenntnissen.“ Damit spricht er einen zentralen Punkt des Tango-Elends an. In unserem Tanz treibt sich eine große Zahl von Leuten herum, für welche die Bewegung auf dem Parkett lange Zeit ein No-Go war: Den Schultanzkurs empfanden sie als Schrecklichkeit, und später in den Discos und Clubs gehörten sie zu der (eher männlichen) Fraktion, die, an die Bar gelehnt, höchstens im Takt der Musik (oder leicht daneben) mitwippten.
Um die Fünfzig sowie nach einer gescheiterten Ehe oder zur Belebung der lahmen Beziehung kommen sie dann auf die Idee, es mit dem Tango zu versuchen. An der Spitze der Wunschliste stehen dabei Geselligkeit, kuschelige Nähe sowie die Chance, einen neuen Lebensabschnitts-Gefährten kennenzulernen. Und das mit dem Tanzen, so wird ihnen von den Instruktoren erklärt, sei ganz einfach, das könne jeder (und jede) lernen. Dann beginnen sie tatsächlich bei Null. Und so sieht es dann aus – oft auch nach zahlreichen Kursen.
Ich habe einmal gelesen, internationale Top-Lehrerpaare seien oft verzweifelt, wenn sie die Paare in einem höheren Kurs beim Eintanzen beobachteten. Mental strichen sie dann einen Großteil dessen, was sie eigentlich lehren wollten – weil es für die angetretene Gruppe viel zu schwierig sei.
Ich frage mich immer, warum dieser Personenkreis viele Jahre das Parkett gemieden hat. Wahrscheinlich, weil ihnen das „Tanz-Gen“ fehlt. Inhaber dieser ganz besonderen Erbanlage können nämlich nicht stillsitzen, wenn inspirierende Musik erklingt. In irgendeiner Form versuchen sie dann, diese aufs Parkett zu bringen – und zwar schon in jungen Jahren. Dabei ist es piepegal, ob es sich um Standard, Ballett, Flamenco oder indischen Tempeltanz handelt.
Wenn man dann irgendwann an den Tango gerät, fängt man eben nicht bei Null an, sondern beherrscht schon eine Menge an Bewegungstechnik. Diese auf den neuen Tanz zu orientieren, ist nicht furchtbar schwierig. Nach meinen Erfahrungen haben die meisten, die wirklich gut tanzen, diese Karriere hinter sich – und haben nicht erst mit Fünfzig erstmals per Tango das Parkett betreten.
Leistungs-Einteilungen würde ich, wenn schon, an viel allgemeineren Kriterien festmachen: vor allem an der körperlichen Fitness und tänzerischen Begabung. Ein passendes Körpergefühl ist teilweise genetisch bedingt bzw. entsteht in vielen Jahren der Bewegung auf der Piste. Mit ein paar lächerlichen Kursstunden ist da nichts zu machen.
Weiterhin ist zu gutem Tanzen eine große Sensibilität
erforderlich. Beide Partner müssen empfänglich für die körperlichen Reaktionen
des anderen sein. Männern einzureden, sie müssten per „Führung“ nur senden,
aber nicht empfangen, ist eine Todsünde. Auch hierbei spielt die Gesamtpersönlichkeit
eine entscheidende Rolle – und nicht das Erlernen irgendwelcher „Figuren“. Hört
man auch im restlichen Leben anderen zu oder redet man nur auf sie ein? Das
sagt viel über die Eignung zum Tanzen aus! Im Zweifel sollte man lieber DJ werden, da kann man den ganzen Abend lang senden.
Weiterhin entscheidend sind für mich Gelassenheit und Humor. Man darf das Tanzen nicht zu ernst nehmen und sich von „Fehlern“ oder Pannen nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Wer selber Spaß hat, kann den auch dem Partner vermitteln. Lachen entspannt, Ehrgeiz verkrampft. Leider ist Gaudi beim Tango geradezu verpönt – und den Mangel an Humor kriegt man als Blogger in diesem Bereich ständig um die Ohren.
Ebenso wichtig sind Interesse und Freude an der Musik. Leider ist diese in unserem Bereich nur spärlich vorhanden. Eher fungiert sie als formaler Tanzanlass – die meisten Sitzenden unterhalten sich lieber, statt den Klängen zu lauschen. Nicht selten wird das Gerede sogar auf der Piste fortgesetzt. Und mit den sattsam bekannten, ständig wiederholten Playlists aus fernen Zeiten, den ewig gleichen Aufnahmen vertreibt man musikalisch Begabte und lockt diejenigen an, für welche es ein Metronom auch täte.
Wie gesagt: Ich habe mich nie darum gekümmert, ob ich nun beim Tango eher zu den ein wenig Fortgeschrittenen oder zur „Masterclass“ gehöre. Entscheidend ist es doch, dass es mit einer Partnerin auf dem Parkett klappt! Wenn nicht, nützt mir die ganze Einteilerei nichts. Und wenn wir harmonieren, ist es doch ebenfalls wumpe, ob wir beide auf begnadetem Level agieren oder einfach gleich doof sind.
Ich werde den Verdacht nicht los, dass dieses Ranking vor allem dem tangoüblichen Rangordnungsdenken dient. Daher veröffentlichen die Tangolehrenden auch gerne ganze Listen von Berühmtheiten, bei denen sie schon Unterricht hatten.
So entstehen dann Videos mit dem branchenüblichen Gespreize. Die begnadeten Lehrkräfte tanzen vor, und das Fußvolk darf sich bestenfalls ein Smartphone vor die Birne halten:
https://www.youtube.com/watch?v=T6c47U1raeg
Wenn ich Werbung machen müsste, würde ich bestenfalls schreiben:
„Ich nehme keinen Unterricht, weil mir keiner mehr was vormachen kann!“
P.S. Zum Weiterlesen:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/09/stufenweise-zum-tango-erfolg.html
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