In Sachen Aiwanger

 

„Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist nach dem 2. Weltkrieg von der Idee ausgegangen, ein Deutschland zu schaffen, das die Wiederholung der Schrecken der Vergangenheit ausschließt.“ (Dr. Kurt Schumacher, 1895-1952)

Ich muss zugeben, den anderen Mann unterschätzt zu haben. Lange Zeit war der Vorsitzende der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, für mich so eine Art lustiger „Komödienstadel-Politiker“. Allein der Dialekt… wobei ich mich stets über sein Alter Ego Wolfgang Krebs noch mehr amüsieren konnte.

Das erste Fragezeichen erschien für mich, als der stellvertretende bayerische Ministerpräsident während der Corona-Krise durch seine zeitweise Impf-Verweigerung in Richtung „Querdenker“ driftete.

Entsetzt war ich dann über seine berüchtigte „Erdinger Rede“, in welcher er weit über eine Kritik an dem „Heizungsgesetz“ der Ampel-Regierung hinausging.  

Man muss sich dieses reaktionär-populistische Gedröhne wirklich einmal im Detail anhören: Da werden die „Vernünftigen“ mit den „Narren in Berlin“ kontrastiert, denen man „das Gas einstellen“ müsse. Deutschland werde „kaputtgemacht“ – schon in der Früh höre man im Radio „linksgrünen Gender-Gaga“. Es gehe auch nicht, für diejenigen Steuern zu zahlen, welche das Bürgergeld kriegten, obwohl sie arbeiten könnten. Erbschaftssteuer sei „Enteignung durch die Hintertür“.

Die „schweigende Mehrheit“ müsse sich endlich „die Demokratie wieder zurückholen“. Die Politik habe das umzusetzen, was der Bürger „in der Mehrheit“ wolle. Dazu muss dann „der gesunde Menschenverstand“ herhalten. Und die Medien sollten sich „endlich an die Seite der normalen Bevölkerung“ stellen. Die Anwesenden seien auf dem richtigen Weg, „Deutschland zu retten“.

Zum Glück hat Aiwanger nicht auch noch den Wunsch geäußert, Deutschland möge „erwachen“. Gepasst hätte es: Der schreckliche Vereinfacher probt den Aufstand.   

Hier die gesamte Ansprache:

https://www.youtube.com/watch?v=e4MwQ1tXi4Q

Ich habe mir zum Vergleich die Rede von Alice Weidel zum Heizungsgesetz angehört und fand sie sprachlich zurückhaltender.

https://www.youtube.com/watch?v=VfYfWZLzzoc

Letzten Samstag hat nun die „Süddeutsche Zeitung“ ein dreckiges Pamphlet veröffentlicht, das zunächst dem damals 17-jährigen Hubert Aiwanger zugeschrieben wurde. Nein, so erfuhr man kurze Zeit später: Der ein Jahr ältere Bruder Helmut, seines Zeichens Waffenhändler, habe es verfasst. In Huberts Schultasche fanden sich allerdings Exemplare der antisemitischen Hetzschrift, und er musste sich dafür vor dem Disziplinarausschuss seines Gymnasiums verantworten.

Inzwischen hat sich die Chose zu einer veritablen bayerischen Regierungskrise hochgeschaukelt. Der Wirtschaftsminister wird peinlich befragt, sein Chef scheint kurz davor zu sein, ihn zu entlassen.

Warum ich diesen Artikel schreibe: Man hört nun zunehmend Stimmen, man solle es doch mit diesen „Jugendsünden“ gut sein lassen. Was habe man nicht selber in jungen Jahren alles angestellt…

Ich darf dazu schon anmerken: Sich über den Holocaust lustig zu machen, als Schüler den Hitlergruß zu zeigen und nicht nur ein solches Flugblatt, sondern offenbar auch Hitlers „Mein Kampf“ im Schulranzen zu transportieren, antijüdische Witze zu reißen oder Reden im „Führerstil“ zu halten – all das geht deutlich über pubertäre Eseleien wie Saufen oder ohne Führerschein zu fahren hinaus.

Ich finde, schon ein solches Bild ist gruselig genug:

https://www.der-postillon.com/2023/08/klassenfoto-aiwanger.html

Die Brüder Aiwanger besuchten fallweise sogar dieselbe Klasse. Wie glaubhaft ist es eigentlich, dass der eine sich rechtsradikal äußerte, der andere jedoch damit überhaupt nichts zu tun hatte?

Bruder Helmut berichtet nun, sein Flugblatt sei nur entstanden, da er den Frust über das Durchfallen verarbeiten musste – und fügt hinzu, er habe damit „offen linksradikale Lehrer“ ärgern wollen, welche gegen die Bauernschaft sowie die Kernenergie agitierten. Er habe wegen „Meinungsverschiedenheiten“ mit ihnen öfters zum Direktor gemusst.

https://www.pnp.de/nachrichten/bayern/aiwanger-bruder-zu-flugblaettern-in-schultasche-hubert-hat-sie-eingesammelt-um-zu-deeskalieren-14198894

Als Bürger des Freistaats habe ich eine dunkle Ahnung davon, was man in Mallersdorf-Pfaffenberg unter „linksradikal“ versteht – und wie schnell dort eine Lehrkraft ihren Beamtenstatus verloren hätte, wäre sie tatsächlich linksextrem gewesen.

Insgesamt scheinen die Gebrüder Aiwanger in der Jugendzeit ganz schöne Früchtchen gewesen zu sein. Nun gut, der Mensch kann sich ändern – nur wäre dafür die Voraussetzung, sich klar zu jugendlichen Verfehlungen zu bekennen. Doch der Chef der Freien Wähler eiert herum, kann sich im Zweifelsfall nicht mehr erinnern. Aber wenn man anderen vorwirft, sie hätten „den Arsch offen“, so sollte man selber wenigstens einen in der Hose haben. Und sich bei Bierzeltreden daran erinnern, dass man den gesamten Staat repräsentiert – nicht nur reaktionäre Dumpfbacken.

Offensichtlich ist dies nicht der Fall.

Die Fremdenfeindlichkeit und auch der Antisemitismus sind ja in Deutschland – trotz sechs Millionen ermordeter Juden – nie verschwunden. Ich bin in einem kleinbürgerlichen Viertel am Stadtrand von Ingolstadt aufgewachsen. Da reichte es schon, ein „Fliechtling“ zu sein, um angefeindet zu werden. Juden gab es in dieser Stadt kaum noch, die ehemalige Synagoge hat man Anfang der 1950er Jahre verkauft, da nicht mehr benötigt. Die jüdische Bevölkerung wurde bereits bei den Novemberpogromen aus der Stadt vertrieben.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/11/der-9-november-und-die-zivilcourage.html

Der Fall Aiwanger zeigt: Wir sind hierzulande wieder auf einem gefährlichen Weg. Vor dem hat vor über 70 Jahren schon der damalige Vorsitzende der Sozialdemokraten gewarnt:

„In Deutschland sollte keine politische Richtung vergessen, dass jeder Nationalismus antisemitisch wird und jeder Antisemitismus nationalistisch.“

(Kurt Schumacher, Rede im Deutschen Bundestag, 21.9.49)

Kommentare

  1. Sie schreiben heute über Politik. ... aber ich bin hier schon richtig im Tango-Blog...?

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    1. Ob Sie hier richtig sind, müssen Sie schon selber entscheiden. Dazu würde gehören, hier nicht anonym zu kommentieren.
      Allgemeiner Hinweis: In der Sidebar links kann man unter "Labels" nachsehen, um welche Themen es hier geht. Das ist nicht immer Tango. Unter der Rubrik "Off Topic" findet man beipielsweise 43 Beiträge.

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  2. Gerade erreicht mich der folgende Kommentar:

    Ausgezeichnete Analyse! Vor allem den verharmlosenden Hinweis, es handle sich um eine „Jugendsünde", hast du exzellent zerpflückt. Wikipedia schreibt dazu:

    Einem ehemaligen Mitschüler zufolge habe Aiwanger beim „Betreten des vollbesetzten Klassenzimmers“ gelegentlich den Hitlergruß gezeigt und vor Schülern „oft Hitler-Reden imitiert“. Außerdem habe er „Witze über Juden und das KZ Auschwitz“ erzählt. Er wurde von vielen Mitschülern „als Spinner abgetan“, der in einer pubertären Phase gewesen sei. Auf die Frage des Reporters, warum „ein bis mehrere Exemplare“ in Aiwangers Schultasche gefunden worden seien, antwortete jener selbst mit: „Glauben’s ma’s, das ist gar nicht so wichtig, wie Sie meinen.“

    Nach den Aussagen eines anderen Mitschülers, der zusammen mit Aiwanger 1990 das Abitur gemacht hatte, habe Aiwanger in der 10. Klasse während einer Klassenfahrt zu einer KZ-Gedenkstätte in der DDR einen „judenfeindlichen Witz“ geäußert, der dem ehemaligen Mitschüler bis heute in Erinnerung geblieben sei. Wegen „seiner Heftigkeit wollte [der ehemalige Mitschüler] diesen aber nicht veröffentlicht sehen“, lediglich gegenüber der BR-Redaktion habe er ihn wiedergegeben. Aiwangers politische Haltung während seiner Schulzeit sei „von nationalsozialistischem Gedankengut geprägt“ gewesen, dies sei auch von weiteren Mitschülern bestätigt. Er habe auch abfällig über Türken („Kanaken“), dunkelhäutige Menschen („Neger“) und Homosexuelle („Schwuchteln“) geredet.

    Auch interessant:
    Laut Aiwanger wären „Bayern und Deutschland sicherer, wenn jeder anständige Mann und jede anständige Frau ein Messer in der Tasche haben dürfte“. (Messer für „Anständige“? Kritik an Aiwangers Vorstoß. Welt.de, 15. Oktober 2019, abgerufen am 19. Oktober 2019.)
    Da sind wir nicht mehr weit weg von Trump und seiner Forderung nach Waffen für jeden Schüler.

    Aber was ich dir erzählen wollte: Wir waren mal bei einer Feier der Volkshochschule Landshut (nur geladene Gäste), wo auch Aiwanger auftrat. Sein Verhalten im mehr oder minder privaten Kreis der Dozenten war völlig anders als in der Öffentlichkeit: Er war locker, vor allem in seiner Körpersprache, redete hochdeutsch, flüssig, mit normaler Geschwindigkeit, war charmant und offen. Als wir ihn später beobachteten, wie er, in einer Ecke stehend, telefonierte, da erinnerte er uns in seinen eleganten Bewegungen an einen Tänzer. Sollte sein öffentliches Getue also nur gespielt sein, um seine Klientel an der Stange zu halten? Wolfgang Krebs spielt das zwar besser, aber dem Aiwanger gebührt das Vorrecht der Erstaufführung. Wikipedia bestätigt den Verdacht:

    Aiwanger spricht erstsprachlich einen ausgeprägten mittelbairischen Dialekt, der sich bei ihm im Hochdeutschen in einer regional gefärbten, niederbairischen Umgangssprache niederschlägt, die kaum Dialektmerkmale enthält und nah am standarddeutschen Wortschatz bleibt.

    Er ist also nicht so blöd, wie er sich präsentiert. Und wohl auch nicht so demokratisch, wie es bisher schien.

    -Peter Ripota-

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    1. Lieber Peter,

      danke für das Kompliment! Ja, mir kam es darauf an, die Geschichte von der "Jugendsünde" ein wenig zu hinterfragen.

      Hubert Aiwanger taktiert aus meiner Sicht ziemlich "bauernschlau": Er dreht und windet sich und gibt nur zu, was man ihm eh nachweisen kann. Und das scheibchenweise.

      Man darf gespannt sein, wie es weitergeht. Der bayerische Ministerpräsident ist ja nicht dafür bekannt, zartfühlend mit denen umzugehen, die seiner Karriere im Weg stehen...

      Liebe Grüße
      Gerhard

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