Zu Gardel tanzen?

„Legt ihr Gardel auf?“ Diese ketzerische Frage stellte vor einiger Zeit das Mitglied eines Facebook-Forums für DJs.

Tatsächlich habe ich Milongas erlebt, auf denen man moderne Tangomusik, ja sogar Aufnahmen Piazzollas im Angebot hatte. Originalaufnahmen von Carlos Gardel (1890-1935), des größten und populärsten Tangosängers aller Zeiten dagegen habe ich – außer bei uns in Pörnbach – kaum jemals auf einer Tangoveranstaltung vernommen.

Daher ahnte ich den Tenor vieler Antworten der DJ-Kollegen:

Nein, niemals!

Doch es geht auch origineller:

„Wer?“

„Warum?“

„Falsch, zutiefst falsch!“

„Ja, zu Hause. Tolle Musik!“

„Eine vor der Milonga, und wenn wir Demos in Altersheimen machen.“

„O ja, bei Beerdigungen.“

Bei denen, welche eine Begründung für ihre Ablehnung versuchen, wird die Luft schon dünner.

Zum einen wird darauf verwiesen, es sei respektlos, Gardel-Aufnahmen zum Tanzen zu verwenden:

„Ich dachte, man tanzt nicht, wenn Gardel singt, so wie die Leute aus Respekt nicht tanzten, wenn Ella Fitzgerald sang (so sagt man mir).“

Na, wenn das die Leute sagen, wird es schon stimmen:

https://www.youtube.com/watch?v=b3VZUjQPPVU

„Hat auf einer Milonga nichts zu suchen. Ist respektlos.“

„Er ist ein Gott. Es ist respektlos, zu seinen Liedern zu tanzen. Völlig verboten wegen der Tradition und unserer Gefühle. ( ARGENTINIEN)“

Klar, „Argentinien“ ist eine wunderbare Pauschalbegründung!

Was ich auch schon hörte: Gardel sei tot, man „trample nicht auf ihm herum“. Das gilt offenbar nicht für alle weiteren, ebenfalls verstorbenen Interpreten traditioneller Milongas…

Die führende Argumentation geht dahin, Gardel habe eben Tangolieder gesungen, welche nicht zum Tanzen gedacht waren:

„Gardel hört man, man tanzt nicht!“

„Nein. Aber ich höre gerne zu! Was für eine Stimme.“

„Außerdem hat Gardel den Tango Cancion gemacht, der einfach nicht zum Tanzen geeignet war...“

Vielleicht ist Gardels Kunst auch einfach zu hochwertig?

„Gardels Dekadenz würde nicht in die niedrigen Szenen des Tangotanzes vordringen. Und ich finde wirklich, dass sein Werk, obwohl historisch wichtig, nicht zum Tanzen gemacht ist.“

Sorry, ich brauche nach Alledem erstmal Erholung – und zwar mit Gardels berühmter Hymne an seine Heimatstadt Buenos Aires (aus dem Film „Mí Buenos Aires querido", 1934):

https://www.youtube.com/watch?v=tsAQZRYilFs

Nur wenige Kommentare in obiger Diskussion bieten inhaltliche Ansätze:

„Viele sagen ‚nicht zum Tanzen gemacht‘, aber warum ‚nicht zum Tanzen geeignet‘? (…) Es gibt nicht so etwas wie ‚nicht zum Tanzen geeignet‘. Nur, dass manche oder viele nicht dazu tanzen wollen oder können. (…)

Es gibt Lieder im Tango, die zum Tanzen gemacht sind, zu denen ich aber nicht tanzen will – auch wenn sie die Piste füllen.

Und Lieder, die ‚nicht zum Tanzen gemacht‘ sind, zu denen ich aber tanzen werde.

Es ist mir egal, welche Absichten der Komponist hatte.

Aber in diesem Fall tanze ich nicht so gerne zu Gardel. Vielleicht einmal im Jahr zu Hause nach dem Abendessen.

Aber die Tatsache oder Vermutung, dass die Lieder nicht zum Tanzen gemacht sind, interessiert mich nicht.“

Quelle:

https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum/permalink/2463094053857781

Ich darf hinzufügen: Es gibt in der Popmusik massenhaft Beispiele von Stücken, welche die Interpreten auf Konzerten oder in Filmen populär machten – die also nicht von vornherein auf Tanzende zielten. Und die dann dennoch rauf und runter in den Discos und Clubs die Gäste auf die Tanzfläche locken.

Zu Gardel tanzen? Ich habe nie verstanden, warum man das nicht tun sollte. Und den Schmerz über Gardels frühen und gewaltsamen Tod (er starb bei einem Flugzeugunglück) dürften wir doch nach fast 90 Jahren einigermaßen überwunden haben…

Selbst unser aller Cassiel stellt in seiner grenzenlosen Liberalität fest:

Ich finde die gesungenen Tangos von Carlos Gardel beinahe untanzbar. Aber ich gebe zu, auch das ist ein Stück weit persönliche Geschmacksache.“

https://tangoplauderei.blogspot.com/2014/08/reihenfolge-oder-anordnung-der-Tandas-in-der-Milonga.html

Ich finde, darauf könnte man sich einigen. Es würde auch verhindern, irgendeinen Mist darüber zu verbreiten, warum es ungeeignet oder unschicklich sei, diese Musik zum Tanzen aufzulegen. Für mich sind das alles Ammenmärchen, die der eine dem anderen ohne Passage durchs Gehirn nachplappert.

Seine bekanntesten Erfolge hat Gardel selbst komponiert. Es sind wunderbare Schnulzen, mit denen ich die Tanzfläche stets problemlos füllen konnte. Hier noch der Klassiker „Por una Cabeza“ (aus dem Film „Tango Bar“, 1935):

https://www.youtube.com/watch?v=4R_JnGgRmRM

In dieser Produktion sieht man Gardel sogar mal zu seiner eigenen Filmmusik tanzen (ab 4:18) – da muss er wohl was missverstanden haben… Und ab 7:50 tanzt das Publikum zu seinem Titel Arrabal amargo"!

https://www.youtube.com/watch?v=vD66ducjnvU

Das „Verdienst“ der Tangoszene ist es bis heute, die beiden bekanntesten Vertreter des Tango, Gardel und Piazzolla, von ihren Tanzveranstaltungen auszuschließen. Diese Geistestat kenne ich von keinem Anhänger anderer Musikrichtungen. Wer käme auf die Idee, Aufnahmen von Elvis Presley von der Tanzfläche zu verbannen, da der Sänger dabei im Mittelpunkt steht? Na und? Ist doch toll!

Zum Schluss noch einer meiner Lieblingstangos, den man in keiner Version auf den Milongas spielt. Natürlich hat ihn auch Gardel aufgenommen (in dem Film „Melodía de Arrabal, 1933): „Cuando tú no estás“

https://www.youtube.com/watch?v=4U5ceaM6HDA

Hier habe ich das Stück besprochen:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2020/10/cuando-tu-no-estas.html

P.S. Und wem der Name „Gardel“ nichts sagen sollte:

https://de.wikipedia.org/wiki/Carlos_Gardel

Kommentare

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