Führe ich zu wenig?
Gestern habe ich auf einen acht Jahre alten Text von mir hingewiesen, den ich damals mit Freude an der Provokation schrieb: „Warum ich wenig führe“.
Menschen, welchen (wie dem Tangoblogger Jochen Lüders) jedes Gespür für Überspitzung und Satire abgeht, behaupten nun unablässig, mein Endziel beim Tango sei es, möglichst gar nichts mehr zu machen und dafür die Frau arbeiten zu lassen.
Inwieweit dabei Erfahrungen aus ihrem sonstigen Leben einfließen, weiß ich nicht. Aber man sollte schon erkennen, dass ich damals nicht alles so ganz ernst meinte, wenn ich abschließend schrieb:
„Sollte ich daher jemals in den ‚Código-Wahnsinn‘ geraten (obwohl ich für den Fall schon eine Betreuungsverfügung unterschrieben habe), wäre meine erste Tat, die Begriffe ‚Führen‘ und ‚Folgen‘ im Tango zu verbieten. Natürlich mit Ausnahme des ‚Milonga-Führers‘!“
Der Blogger-Kollege Helge Schütt kündigte gestern mit Blick auf Lüders und mich an: „Wart mal ab: In meinem nächsten Blog Beitrag bekommt ihr beide euer Fett weg.“
Heraus kam dann ein Artikel, den ich eher im Segment „Diät-Margarine“ verorten würde. Immerhin aber interessant genug, um ihn zur Lektüre zu empfehlen: „Technik zum Wohlfühlen“.
https://helgestangoblog.blogspot.com/2023/08/technik-zum-wohlfuhlen.html
„Heilen“ wie der zitierte Dimitris Bronowski („Tangofulness“) möchte Schütt seine Partnerinnen zwar nicht, immerhin aber, dass sie sich „wohlfühlen“. Doch, ja, davon habe ich auch schon gehört… Ich gehe sogar einen Schritt weiter: Selber möchte ich das auch. Tangos, bei denen nur die Frau ihren Spaß hat und ich unter der Last der Verantwortung ächze, sind nicht so mein Ding.
Weiterhin meint der Autor, eine Frau solle beim Tango „fühlen und nicht denken“. Auch hier plädiere ich für Gleichberechtigung: der Mann auch nicht. Oder sind wir mal wieder bei der alten Rollenverteilung, das Weib sei für die Emotionen zuständig, der Männe dagegen für die höheren Geistesleistungen?
Jedenfalls, so Schütt, sei es tödlich für den gemeinsamen Tanz, wenn sich die Folgende nicht auf ihre Gefühle verlasse, sondern sich Gedanken darüber mache, welche Figur gerade geführt werde.
Daher müsse glasklar geführt werden – und selbst wenn Führungsimpulse anders interpretiert würden, habe der Mann „sicherzustellen“, dass der Tanz weiterhin fließend verlaufe.
Auch hier wage ich den Einwand: Müssen wir im Paar beide.
Gleiches gelte für die Bereiche „Stabilität, Sicherheit und Vertrauen“: „Die Folgende muss sich darauf verlassen können, dass sie bei meiner Führung niemals ins Stolpern kommen wird oder dass sie ihre Achse verlieren könnte.“
Na ja, wenn sie keine dabeihat, kann sie auch nix verlieren...
Für mich schimmert bei solchen durchaus sinnvollen Darlegungen immer wieder der Eindruck durch, bei aller Freizügigkeit habe der Mann eine Art „Garantenpflicht“, ja „Oberaufsicht“ übers Tanzen.
Männern scheint die Einsicht sehr schwerzufallen, dass sich auf dem Parkett zwei Menschen exakt auf Augenhöhe begegnen, dass sie beide im Idealfall die gleiche Verantwortung für ihr gemeinsames Tun haben.
Abschließend wendet sich Helge Schütt nun zwecks „Fettverteilung“ dem Kollegen Lüders und mir zu:
„Gerhard Riedl plädiert dafür, möglichst wenig zu führen und stattdessen der Folgenden möglichst viel Freiraum zu geben, während Jochen Lüders die ‚Eigeninitiative der Frau nur in homöopathischer Dosierung‘ verträgt.“
Der Autor meint:
„Jochen und Gerhard beschreiben in meiner Wahrnehmung aber nur die beiden äußeren Enden des Spektrums. In der Realität gibt es sowohl diese beiden Enden als auch alle Abstufungen dazwischen. Deswegen macht es aus meiner Sicht keinen Sinn, den einen oder den anderen Führungsstil zu bevorzugen. Als Führender muss ich beide Stile beherrschen und je nach Vorliebe meiner Tanzpartnerin flexibel zwischen ihnen wechseln können, damit sich meine Tanzpartnerin wohlfühlt, wenn sie mit mir tanzt.“
Ähnliches habe ich übrigens in einem anderen Text betont:
„Grundlage wäre schon mal, dass jeder was sagen darf, ohne den anderen um Erlaubnis bitten zu müssen. Weiterhin, dass man einander zuhört und möglichst nicht ins Wort fällt. Wie viel jeder redet, hängt von zahlreichen Faktoren ab: dem eigenen Temperament, den Sachkenntnissen und auch der Freude am Formulieren. Mich würde aber ein Gespräch nerven, in dem einer (beim Tango fast immer der Mann) nur Monologe hält – und die Partnerin höchstens mal ‚ja‘, ‚aha‘ oder ‚wirklich?‘ einwirft.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/12/mein-tunix-tango.html
Ich plädiere also, wie man unschwer erkennen könnte, durchaus für eine „mittlere Linie“ statt eines Extrems!
Sicherlich ist es ein legitimer Wunsch, wenn Folgende – nach Schütts Worten – „ihre Rolle eher passiv interpretieren und sich freuen, wenn der Führende jeden Schritt klar und eindeutig führt, sodass sie sich seiner Führung hingeben können, ohne auch nur eine Sekunde lang nachdenken zu müssen.“
Wer daran Spaß hat, soll es gerne tun. Selber habe ich es halt – auch im sonstigen Leben – nicht so mit Frauen, die sich eher passiv verhalten und lieber nicht nachdenken. Aber für die gibt es – nicht nur in der Tangowelt – genügend männliche Abnehmer. Da dränge ich mich nicht vor!
In meinem eingangs erwähnten Artikel habe ich ein Video verlinkt, in dem ein Tanzlehrerpaar beim Cha Cha Cha die übliche Lehrmeinung vertritt: Der Mann habe zu entscheiden, was getanzt werde, und der Frau komme die schwere Aufgabe zu, herauszukriegen, was der Partner wolle. Ich fürchte, auch im realen Leben vieler Paare ist das kaum anders.
In knapp 40 Jahren Standardtanz habe ich es genauso gelernt: Es gibt eben „Figuren“, die der Herr entsprechend einzuleiten hat und welche die Damen halt demgemäß erkennen sowie umsetzen müssen. Zur Not kriege ich das auch heute noch hin. Es macht mir allerdings auf Dauer nur begrenzte Freude.
Amüsant finde ich es jedoch, wenn Tangoleute bei der Erwähnung des Begriffs „Standard und Latein“ krampfhaft nach dem Knoblauch zur Vampirabwehr suchen: Das alles sei ja mit dem „wahren Tango“ überhaupt nicht zu vergleichen, wo kraft seelischer Schwingungen ohne Bindung an eingelernte Figuren frei improvisiert werde.
In der Praxis aber wird den Eleven Kurs für Kurs genau solches „Figurenmaterial“ aufgedrückt, welches der Mann zu führen und die Frau auszuführen habe. Ist der Tango also der „11. Standardtanz“?
Ich dachte eigentlich, er wäre mehr…
Und ja, mich persönlich beflügelt ein Tanz, den meine Partnerin in hohen Anteilen mitgestaltet, bei dem die Eigenständigkeit und der Wille beider zum Tragen kommen. Vielleicht sogar ein wenig „Kampf der Geschlechter“. Kann auch im restlichen Leben sehr produktiv sein. Frauen, die vor 15 und mehr Jahren mit dem Tango angefangen haben, können das oft noch. In der späteren Generation trifft man auf solche Fähigkeiten nur noch selten.
„Führe“ ich also zu wenig? Um es mit Olaf Scholz zu sagen: Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch. Es macht mir halt auf Dauer wenig Spaß. Aber der scheint im Tango auch nicht vorgesehen zu sein…
P.S. Auch Hunde brauchen eine klare Führung per Körpersprache:
https://www.youtube.com/watch?v=tjHmERcW1WQ
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