Verstehen oder tanzen?

Mein Blogger-Kollege Helge Schütt hat nun eine interessante Frage gestellt: „Wieviel muss ich vom Tango verstehen, um guten Tango zu tanzen?

Ich versprach, dazu auch etwas zu schreiben. Also:

Lieber Helge,

du schilderst treffend dein Anliegen: „Was macht meinen Tango Tanz wirklich besser? Also nicht besser im Sinne der Technik, sondern besser im Sinne von ‚musikalischer‘, ‚erfüllender‘, ‚passender‘, so dass er meinen Tanzpartnerinnen und mir mehr Freude macht?“

Dazu führst du etliche Bereiche auf, zu denen ich zunächst kurz antworten möchte:

Die Orchester:

Auf „traditionellen“ Milongas wird immer wieder eine überschaubare Zahl von Interpreten aus der „goldenen Ära“ aufgelegt. Muss man die kennen und unterscheiden können?

Ich glaube nicht, dass dies den eigenen Tanzstil, die Verständigung mit der Partnerin verbessert. Aber keine Angst: Diese Titel werden auf den üblichen Veranstaltungen so oft aufgelegt, dass man sie bald auswendig kann – und sie einem in der Folge meterlang zu den Ohren raushängen. Somit ist eher zu befürchten, dass man Tänze dazu nicht mehr kreativ interpretiert, sondern routiniert herunterleiert.

Die verschiedenen Versionen eines Stückes:

Konservative DJs rühme sich gerne mit Lexikonwissen. Einer, so schreibst du, habe dir erzählt, er kenne von den bekannten Titeln meist mehr als 20 Versionen (von denen er dann wohl stets die eine, „richtige“ auflegt). Übrigens gibt es meist auch diverse moderne Interpretationen, welche solchen Leuten aber eher Wurst sind.

Was es für die tänzerische Entwicklung bringt, zu wissen, ob nun Version 9 oder 17 läuft, weiß ich nicht. Vielleicht sollte man die DJs einmal fragen. Aber Tanzen ist oft nicht ihr Spezialgebiet...

Die Titel und die Texte der Lieder:

Zum „Gesamtkunstwerk“ eines gesungenen Tangos gehören sowohl Musik als auch Text. Man sollte das schon als Einheit respektieren. Zugegeben, beide sind oft von unterschiedlicher Qualität. Dennoch hat ein Spanisch-Muttersprachler damit einen anderen Zugang zu dem, was da erklingt.

Klar, die üblichen Tangos stellen schlichtweg Schlagermusik dar – man darf also von den Texten nicht zu viel erwarten. Dennoch gibt es auch sehr gute Autoren wie Horacio Ferrer, Enrique Cadícamo oder Homero Manzi.

Ich war einfach neugierig, welche Botschaften die Sänger da verkünden. Daher habe ich mir viele Übersetzungen besorgt und auch selber welche versucht:

https://milongafuehrer.blogspot.com/search/label/Tango%20Texte

Sicherlich weicht der Charakter der Musik oft stark von der verbalen Aussage ab. Man kann das auch dialektisch sehen. Und gerade modernere Interpreten passen Musik und Worte besser aufeinander an als viele alte Versionen.

Hat die Kenntnis der Texte mein Tanzen verbessert? Schwer zu sagen – ich glaube, ein wenig schon. Der entscheidende Faktor war es sicher nicht.

Die Geschichte des Tangos bzw. Argentiniens

Wenn man als Autor viele Artikel oder gar ein Buch schreibt, muss man natürlich viel recherchieren, auch zu solchen Themen. Ob das aber eine Menge zu meiner tänzerischen Entwicklung beigetragen hat, bezweifle ich.

Was möglicherweise eine Rolle gespielt hat, ist die Erkenntnis, welche unterschiedlichen Auffassungen und Stile es in über hundert Jahren gegeben hat, dass die Mär von dem einen, „authentischen Tango“ schlichtweg Schwachsinn ist. Das hat mir Selbstvertrauen gegeben, dass meine Art zu tanzen ebenso zu diesem weiten Spektrum gehört wie alle möglichen anderen Varianten. Und dass es genau das Ziel der „ollen Milongueros“ war, ihren Tanz individuell, also unterscheidbar zu gestalten.      

Die Psychologie des Tangos

Sicherlich gehört zum guten Tanzen Einfühlungsvermögen. Da die Körpersprache seltener lügt als die verbale, weiß man oft nach einem Tango mehr von der seelischen Befindlichkeit des Partners als der Hausarzt oder gar der wirkliche Lebensgefährte. Und das (ziemlich risikolose) Ausleben von Gefühlen auf dem Parkett kann durchaus therapeutisch wirken.

Dennoch: Ich kann das alles drei Tänze lang sensibel begleiten, mehr aber nicht. Empathie ist eine zwingende Voraussetzung, um Tango gut zu tanzen. Den großen Rest sollten wir Fachleuten überlassen.  

Leider wimmelt es im Tango von selbsternannten „Paartherapeuten“ und anderem esoterischen Gelichter. Die Texte, welche da abgesondert werden, sind teilweise bestes Kabarett und eignen sich wunderbar als Zitate für satirische Texte.

Fazit: Ich glaube nicht, dass die meisten angesprochenen Bereiche zum besseren Tanzen viel beitragen.

Noch schlimmer: Was muss ich eigentlich „verstehen“, um mich tänzerisch weiterzuentwickeln?

Ich kann dazu nur einen von mir häufig verwendeten Satz zitieren: „Die Birne kann keinen Tango“. Jedenfalls nicht die grauen Zellen ganz oben. Da sind untere Hirnbereiche und das Rückenmark eher beteiligt. Ebenso das vegetative Nervensystem und eine Unmenge von Reflexen.

Ein wenig ist das wie im Fußball, wo ja auch der Satz gilt: „Dumm kickt gut.“

Im Grunde ist Tango sehr einfach: Du hörst eine Musik, die dir sehr gefällt, du schnappst dir einen Partner, dem das ebenso geht, und dann legt ihr auf dem Parkett los. Da muss beileibe nicht alles klappen. Aber die sicherste Methode, den ganzen Tanz in den Sand zu setzen, ist: nachzudenken.

Ich amüsiere mich daher köstlich, wenn ich mal wieder Tangolehrkräfte erlebe, welche ihre Schülerinnen und Schüler mit ellenlangen Texten zumüllen, statt sich mal den einen oder anderen Lernenden zu greifen und ihn mit Körpersprache zu versorgen.

Aber um abschließend doch noch etwas „Gehirnnahrung“ zu liefern: Was hat viel zu meiner eigenen Entwicklung beigetragen?

Als vor zirka 15 Jahren die Musik auf den Milongas immer mehr ins rein Konservative abdriftete, habe ich mich auf die intensive Suche nach moderner Tangomusik gemacht. In den Aufnahmen nach 1960 entdeckte ich eine riesige Fülle von Ensembles und Arrangements. Die habe ich dann aufgelegt oder zumindest im heimischen Wohnzimmer mit Freunden interpretiert. Und ich entdecke fast wöchentlich neue Ensembles mit faszinierender Musik.

Viel geholfen hat mir auch, dass ich mit der Zeit die musikalische Struktur vieler Tangos begriff. Obwohl meine Gegner meinen, ich hätte davon keine Ahnung...

Stets haben mich kompliziertere Stücke weitergebracht als Titel, die ich noch nachts um drei besoffen und in Pantoffeln hinkriegen würde. Man lernt nichts dazu, wenn man nicht an die eigenen Grenzen geht. Aber zur Entspannung darf es auch gerne mal eine zuckersüße Schnulze sein.  

Ohne diese Beschäftigung hätte ich schon längst ein anderes Hobby!

Weiterhin habe ich mit einer vierstelligen Zahl verschiedener Partnerinnen getanzt. Jede bewegt sich anders, daher habe ich von ihnen eine Unmenge gelernt. Und zwar egal, ob sie herrlich oder wie Quasimodo agierten. Krisenbewältigung ist ebenso ein wichtiger Anspruch wie „Träumen mit den Füßen“. Wer beim Tango in „edler Zweisamkeit“ versauert, verzichtet auf entscheidende Impulse.

Ganz wichtig finde ich, seinen eigenen Stil zu entwickeln. Leider ist es heute in der Tangoszene üblich, anderen mitzuteilen, wie „man“ zu tanzen habe. Renegaten werden dann gnadenlos niedergemacht. Davon darf man sich nicht beeindrucken lassen.

Dennoch habe ich viel vom Beobachten anderer Tanzender gelernt. Früher durch Zusehen auf den Milongas – heute eher durch Betrachten von Videos (auf den Pisten wird ja inzwischen sehr gleichförmig agiert).

Lieber Helge,

ich hoffe, du konntest mit meinen Gedanken etwas anfangen. Aber vergiss nicht: Es gibt unendlich viele Wege zum Tango. Jeder muss seinen eigenen gehen. Daher kann ich stets nur erklären, wie ich es mache. Aber das ist mein Tango. Du musst den Deinen finden.

Herzliche Grüße

Gerhard

P.S. Hier noch ein Tanzpaar, das mich sehr inspiriert hat (das anfängliche Getue gehört wohl zur „Show“):

https://www.youtube.com/watch?v=hRP2_IzQlsQ

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