Die Zeugen Tangos
Bekanntlich fand vor einer Woche in Hamburg ein schrecklicher Amoklauf statt: Ein ehemaliges Mitglied der dortigen Zeugen Jehovas erschoss mehrere Besucher einer religiösen Versammlung. Zusätzlich gab es Verletzte. Der Täter hatte offenbar im Streit die Gruppe verlassen.
Das war für mich der Anlass, mich einmal näher mit dieser Glaubensgemeinschaft zu befassen. Bei YouTube findet man zahlreiche Videos ehemaliger Mitglieder der Zeugen Jehovas, welche teilweise führende Positionen einnahmen und – oft nach mehreren Jahrzehnten Mitgliedschaft – austraten oder ausgeschlossen wurden.
Dies bedeutet für die „Abtrünnigen“ häufig eine völlige soziale Isolation. Dazu muss man wissen, dass diese Gemeinschaft neue Anhänger in erster Linie biologisch akquiriert: Kinder von Mitgliedern werden in diesem Sinne erzogen und sollen wenig Kontakte außerhalb der Gemeinschaft eingehen. Warum auch? Nach der Zeugen-Lehre hängen alle anderen Menschen verschiedenen Irrlehren an und werden ein bald zu erwartendes göttliches Strafgericht nicht überleben.
Der allgemein bekannte „Predigtdienst“ (also das Klingelputzen) hingegen bringt kaum neue Mitglieder und dient wohl eher der „Beschäftigungstherapie“ der Anhänger.
Was sind die bestimmenden Züge dieser Glaubensgemeinschaft?
Erstens die schon erwähnte soziale Abgrenzung: Kontakte nach außen werden nicht gern gesehen, erst recht nicht Diskussionen mit Andersgläubigen, welche ja nur eine Gefährdung des Seelenheils mit sich brächten. Journalisten machen stets dieselbe Erfahrung: Interviews werden verweigert, man scheut gegensätzliche Argumente.
Ferner findet man ein ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken: Zwischen „gottgewollt“ und „Sünde“ gibt es kaum Nuancen. Wer zweifelt, hat nicht genug um „Erleuchtung“ gebetet. Alle Glaubenssätze werden – mit teilweise abenteuerlichen Argumentationen – aus der Bibel (in deren Zeugen Jehovas-Version) hergeleitet. Und klar: Recht haben stets die religiösen Führer, niemals die einfachen Gläubigen.
Bestimmend sind ausgeprägte hierarchische und autoritäre Strukturen. In der US-amerikanischen Zentrale bestimmt ein Männerrat, die so genannte „leitende Körperschaft“ alles, was ein Mitglied zu tun und zu lassen hat. Das setzt sich in verschiedenen Ebenen bis hin zu den „Ältesten“ einer Gemeinde fort. Ein ausgeprägtes Elitedenken ergänzt diese Haltungen.
Kennzeichnend ist auch ein reaktionäres Familienbild, das den Männern die führende Rolle zuschreibt. Frauen haben wenig zu sagen – und Kinder erst recht nicht. Deren Züchtigung als Akt der „Liebe“ wird ausdrücklich unterstützt. Für die Kleinen gibt es wenig spezielle Angebote – sie müssen die Versammlungen der Erwachsenen klaglos absitzen.
Zeugen Jehovas haben kaum ein Privatleben, in das sich die Führung nicht einmischt. Kennzeichnend ist vor allem eine rüde Sexualmoral: Außer in der konventionellen Ehe ist eigentlich alles verboten, und selbst dort werden „sexuelle Ausschweifungen“ kritisch gesehen. Homosexualität ist Sünde.
Wenn das persönliche Leben Anlass zu Bedenken gibt, erhält man sehr bald Besuch eines „Ältesten“ und wird auf Verfehlungen aufmerksam gemacht. Das gilt auch für „Passivität“, also den nachlassenden Eifer im Predigtdienst oder beim Besuch der Versammlungen. Da hilft es nur, zu bereuen und Besserung zu geloben, sonst ist der Ausschluss nicht mehr weit.
https://de.wikipedia.org/wiki/Zeugen_Jehovas
Ich habe bereits vor Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass ich in Teilen der Tangoszene sektenartige Entwicklungen wahrnehme.
2014 veröffentlichte ich einen Artikel, der sich mit den Tanzenden einer US-amerikanischen Universitätsstadt befasst. Als Gegensatz zum „modernen Tango-Treiben“ der Studierenden formierte sich eine lokale „Milonguero-Gruppe“, welche sich als „wertkonservativ“ verstand. In einer Verlautbarung hieß es unter anderem:
„In Champaign gibt es eine der frühesten Tango-Gemeinschaften in Illinois, doch der Tango dort bleibt seit mehr als zwei Jahrzehnten klein und schwach, weil er sich nur auf Studenten konzentriert, auf den Teil der Bevölkerung, der die Stadt nach dem Abschluss verlassen wird und sich für Dinge interessiert, die älteren lokalen Tänzern nicht zusagen. (…)
Wir widmen uns dem Milonguero-Stil des Tangos mit enger Umarmung, Gefühlen, tradierten Geschlechterrollen und klassischer Tangomusik, nicht dem Nuevo-Stil mit offener Umarmung, Zurschaustellung, Geschlechts-Neutralität und alternativer Musik. Im Gegensatz zu den Ideologien, die über Gebühr Pluralismus, Vielfalt und Unterschiede fördern, betonen wir Authentizität, Standardisierung, Konformität und Milonguero-Tradition.
Durch die Beachtung der Tango-Códigos, die in den Milongas von Buenos Aires praktiziert werden, einschließlich Milonga-Etikette, Kleiderordnung, separater Sitzordnung, Cabeceo und Navigationsregeln, wollen wir auf unseren Milongas eine integrative, respektvolle, freundliche, angenehme, schöne und geordnete Umgebung schaffen. (…)
Ein Milonguero ist kein Individualist. Er / sie gehört einer Gruppe von Tänzern an, welche die wechselseitige Abhängigkeit der Individuen und die Bedeutung der Gemeinschaft verstehen, und die regelmäßig zusammen tanzen, sich an den Gruppenstandard halten, seine Codes beachten, sich an der Organisation beteiligen und Vorbild sind für Anfänger und Neulinge.
Um die Qualität unserer Milonga zu sichern, öffnet sich diese Gruppe nur ausgewählten Tänzern. Um ein Mitglied der Gruppe zu werden, müssen Sie bei uns einen 20-stündigen Trainingskurs zu den Grundlagen des Milonguero-Stils und der Milonga-Codes machen. (…)
Mitglieder müssen ihre Ausbildung fortsetzen und aktiv an Gruppenaktivitäten teilnehmen, um ihre Mitgliedschaft zu behalten.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/09/sekt-oder-sekte.html
Ich finde, das klingt schon ziemlich nach „Zeugen Tangos“…
In einem weiteren Artikel habe ich sektenartige Umtriebe auch im Tango hierzulande beschrieben:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2014/08/das-blog-der-scientangologen.html
Nun möchte ich hier keine „Verschwörungstheorien“ verbreiten. Sicherlich ist es von konservativen Ansichten im Tango bis hin zu Glaubensgemeinschaften wie den „Zeugen Jehovas“ noch ein weiter Weg. Dennoch finde ich Parallelen, welche Anlass zur Sorge geben:
Soziale Abgrenzungen findet man durchaus in der Szene der Encuentro-Anhänger: Eine Teilnahme ist nur per Anmeldung auf mehr oder weniger geheimen Wegen möglich. Es gibt auch Anzeichen, dass dabei die „Tango-Gesinnung“ von Aspiranten überprüft wird. Schließlich müssen sie sich auf den Veranstaltungen an diverse Reglements halten.
Und wer beim Tango allzu individualistische Ansichten vertritt, muss damit rechnen, weniger Tanzpartner zu bekommen – und in gewissen elitären Zirkeln gar keine. Inwieweit diese Furcht stets berechtigt ist, kann ich nicht beurteilen. Ich weiß allerdings, dass ich Zuschriften oft mit der Bitte erhalte, sie nicht namentlich zu veröffentlichen. Und in den sozialen Medien arbeiten viele mit Pseudonym. Wieso eigentlich, wenn sie keine Ächtung befürchten?
Als Blogger mache ich immer mehr die Erfahrung, dass in gewissen Kreisen die Devise gilt, mit mir keine öffentlichen Dialoge zu führen. Das könnte sonst – auch dazu habe ich Belege – für den Einzelnen ebenso zu sozialer Ausgrenzung führen.
Schwarz-Weiß-Denken findet man im Tango haufenweise: Von der Musikauswahl über das Auffordern bis zu Tanzweise und Raumnutzung existieren teilweise knallharte Vorschriften, welche keinen Interpretationsspielraum zulassen. Stattdessen wird dogmatisch zwischen „Richtig“ und „Falsch“ unterschieden.
Obwohl es teilweise wütend bestritten wird, dominiert in vielen Tangozirkeln ein reaktionäres Frauenbild. Klagen von Tänzerinnen, wegen Alters und Aussehens kaum aufgefordert zu werden, versucht man mit gebetsmühlenartiger Beschwörung des Cabeceo als Alleinheilmittel zu entkräften.
Auch andere Grundsätze entziehen sich einer rationalen Diskussion: So hat mir noch niemand erklären können, wieso es im historischen Tango genau vier „Große Orchester“ gebe, welche auf keiner Milonga fehlen dürfen. Oder wieso es spätestens nach 1960 keine Tangoaufnahmen mehr gibt, welche des Tanzens wert seien. Ebenso entziehen sich die strikten Regeln der Zusammenstellung von Tandas einer rationalen Analyse.
In diesen und anderen Fällen hat man einfach zu glauben, dass es sich so verhält. Wer zweifelt, ist entweder bösartig oder zu wenig erleuchtet. Anders als bei den Zeugen Jehovas wird er möglicherweise sogar öffentlich beschimpft. Hauptvorwurf ist stets: Was der andere propagiere, sei kein Tango mehr. Und er habe keine Ahnung vom „wahren Tango“. Sprich: gottloses Treiben.
Nach meinem Eindruck lösen sich derzeit die harten Fronten ein Stück weit auf. Stillschweigend akzeptiert man vielerorts mehr oder weniger große Abweichungen. Offene Debatten darüber scheut man jedoch weiterhin.
In meiner Sicht sollte sich die Einstellung verbreiten,
dass Tango vielgestaltig war und ist. Stil und Geschmack des Einzelnen
müssen im Vordergrund stehen – und nicht die Verdikte so genannter „Autoritäten“.
Entscheidend ist der Austausch von Argumenten auf Augenhöhe und nicht
ein „Tango-Starkult“, welcher stets zu ungesunden Hierarchien führt. Und man muss nix glauben –- lieber selber denken!
P.S. Zum Weiterlesen:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2020/01/was-nun-mal-zum-tango-gehort.html
Illustration: www.tangofish.de |
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