Entscheidend is‘ auf’m Platz
Derzeit läuft in unserer Facebook-Gruppe eine umfängliche Diskussion zum Thema „Tango-Unterricht“. Ausgelöst wurde sie wohl durch mehrere Artikel des Blogger-Kollegen Helge Schütt:
https://helgestangoblog.blogspot.com/2023/03/gegenwart-und-zukunft.html
https://helgestangoblog.blogspot.com/2023/03/wie-lerne-ich-eine-neue-figur.html
https://helgestangoblog.blogspot.com/2023/03/erfahrung-und-analyse.html
Ich hatte dann noch auf einen alten Text von mir hingewiesen, welcher sich ebenfalls mit diesem Thema befasst.
https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/12/nicht-furs-leben-fur-den-tango-lernen.html
Wer das Ganze auf FB nachlesen will:
https://www.facebook.com/groups/1820221924868470
Ich finde, es wurden dabei durchaus interessante und wichtige Positionen ausgetauscht – und dennoch gerate ich manchmal ins Grübeln, wenn ich heutige Ansichten über Tangounterricht lese.
Vielleicht hilft es, wenn ich nochmal kurz meine eigene „Tanzografie“ darstelle.
Vor unserer Tangozeit haben meine Frau und ich über 20 Jahre intensiv Standard und Latein getanzt. Das begann bei diversen „Medaillenkursen“ in Tanzschulen und endete mit dem Training in Tanzsportclubs und der Teilnahme an etwa 40 „Breitensport-Turnieren“ (kein Leistungssport, sondern gehobenes Hobby-Niveau).
Der Unterricht auf diesem Sektor gestaltete sich zu 80 Prozent als Erlernen und Einüben neuer „Figuren“, welche man genauso nachzumachen hatte, wie es die Trainer vorführten. Der Rest erstreckte sich auf Technik, über die Musik verlor man kaum ein Wort – es war halt irgendeine Rumba oder ein Wiener Walzer.
Der Grund, warum wir zum Tango wechselten, war vor allem das Alter: Mit Ende Vierzig fällt halt das „Bouncing“ beim Jive oder der Hüftschwung bei der Samba zunehmend schwerer. Der Unterschied ist: Nach anderthalb Minuten Quickstepp auf Turnier-Level ist man ungefähr so fertig, wie es Tangotanzende nach einer ganzen Milonga sind (wenn überhaupt).
Zudem machten wir die Erfahrung, dass die Vereine sich lieber mit der Förderung junger Talente abgeben denn mit den „ollen Breitensportlern“. In vieler Hinsicht war man da auf sich selber gestellt.
Grund genug, uns mit dem damals aufkommenden „Modetanz“ Tango argentino zu befassen. 1999 buchten wir zwei VHS-Kurse bei einem Tanzlehrer aus der Region, der alles verkaufte, was man auf vier Beinen tänzerisch vollführen kann. Meines Wissens lernten wir damals die „Achterbasse“ und irgendwelche Ochos.
Etwa ein Jahr später verschlug es uns dann an eine regelrechte Tangoschule, wo wir zirka drei Kurse absolvierten. Auch dort musste man natürlich alles exakt so machen, wie es das Lehrerpaar vorschrieb – und das in steilem Winkel aneinander gepappt.
Hat man es als – wie ein Leser schrieb – „erfahrener Turniertänzer“ so viel leichter mit dem Tango Lernen? Na ja, grundlegende Tanztechniken helfen einem schon, und die Choreo erschien uns ziemlich läppisch. Bei der völlig anderen Tanzhaltung und der filigraneren Verständigung muss man sich aber schon gewaltig umstellen! Ebenso darauf, dass man es nun mit vielen wechselnden Tanzpartnern zu tun hat.
Bald besuchten wir auch Milongas, welche für mich das
eigentliche Faszinosum waren: Ich merkte, dass man beim Tango viel mehr improvisieren
kann. Was uns dann bald das Missfallen unserer Lehrkräfte einbrachte, die
einen streng figurenorientierten Unterricht boten – Basis natürlich die „Achterbasse“. Und sie hatten natürlich stets Recht...
Daher entflohen wir unseren Lehrern und machten uns auf die Suche nach anderen Milongas – damals kein sehr ertragreiches Unterfangen.
In München gab es immerhin mehrere Tangoveranstaltungen,
bei denen wir Stammgäste wurden. Meine donnernde Entdeckung: Man kann
Tango auch ohne die Basse bzw. das „Kreuz“ tanzen – stattdessen einfach Gehen
und zwischendurch einige Grundbewegungen wie Ochos, Sacadas, Cunitas oder
Drehungen einstreuen. Und man durfte die unterschiedlichste Musik interpretieren.
Das war wohl der Moment, an dem wir uns das „Tangovirus“
einfingen: Dieser Tanz bot offenbar eine unendliche Menge an Variationen
und Improvisationen! Wichtig waren nicht „Figuren“, sondern die
Verständigung im Paar, das „Miteinander Tanzen“, die Musikalität.
Irgendwann nach zirka vier Jahren lernte ich in einer einzigen Tangostunde (bei der ich mehr zufällig als „Springer“ teilnahm), dass es im Tango zwei Systeme (parallel und gekreuzt) sowie drei „Bewegungsbahnen“ gab: Inside oder außenseitlich links bzw. rechts. Keiner der begnadeten Lehrkräfte hatte es vorher fertig gebracht, uns mit dieser simplen Einsicht zu versorgen!
Viele Jahre waren wir wöchentlich mindestens vier Mal auf Milongas unterwegs – und dort und nirgends anders lernten wir den Großteil dessen, was wir heute im Tango können!
Sehr geholfen hat uns für zirka zwei Jahre auch eine Práctica, bei der uns der Tanzlehrer irgendeine „Figur“ vortanzte und anschließend erstmal verschwand. In der Zusammenarbeit mit den anderen Teilnehmern entstanden dann diverse Bewegungsfolgen. Daher weiß ich: In einer kleinen Gruppe miteinander herumprobieren und üben kann viel wertvoller sein, als von einem „Maestro“ dressiert zu werden!
Nie werde ich den lakonischen Kommentar unseres Lehrers vergessen, wenn er dann nach einer halben Stunde wieder auftauchte und sich unsere „Figuren“ vorführen ließ: „Kann man auch so machen.“
Ich glaube, dieser Satz passt als Überschrift fürs ganze Kapitel „Tango“!
Wenn ich mir die heutigen Diskussionen über den Tangounterricht ansehe, fällt mir vor allem auf: Hierzulande braucht man für alles – Lebensglück, richtige Ernährung, Partnerfindung oder Tango – ein Coaching. Selber probieren gilt nicht – wozu haben wir Fachleute?
Die bezahlt man – und im Gegenzug träufeln sie einem das Verlangte ein: natürlich mit „Erfolgsgarantie“. Und wenn die es nicht schaffen, wie Doktor Frankenstein in 90 Minuten pro Woche sowie mit Blitz, Donner und Di Sali-Endlosschleife einen neuen Fred Astaire zusammenzuklöppeln, sind es halt schlechte Lehrer.
Ich meine, vielen fehlt schlicht der Mut, sich dem Fremden und Unkalkulierbaren zu stellen, einfach mal eine unbekannte Tänzerin aufzufordern und zu schauen, was geht. In der Regel sieht dies dann auch nicht schlechter aus als das, was man auf Tango-Tanzböden gemeinhin an Elend erblickt.
Na und? Ich habe in den vielen Jahren teilweise einen unglaublichen Scheiß zusammengetanzt und danke heute noch den vielen Tänzerinnen, welche das tapfer ertragen haben und mir halfen. (Andersherum fallen mir ebenfalls ein paar Beispiele ein…) Aber nur so kommt man im Tango weiter – und nicht per Schwimmunterricht aus vergangenen Zeiten, wo man per Korkring und Angel vom Bademeister durchs flache Wasser gezogen wurde.
Daher mein durchaus konstruktiver Appell: Lasst die Gehirnkribblereien übers „korrekte Führen“ oder die „anatomischen Grundlagen“ – hebt stattdessen euren Hintern auf und geht Tanzen! Von mir aus auch in Kursen oder Prácticas – aber bitte zu über 90 Prozent auf den Milongas! Und das so oft wie möglich.
Und meine spezielle Botschaft an die Damen: Herumsitzen und auf den Prinzen nebst weißem Zossen zu warten bringt euch nicht weiter. Selbst ist die Frau! Wie eine meiner Tangolehrerinnen öfters sagte: „Schnapp dir einen Mann – sind doch genug da!“ Oder lernt Führen – wenn es die Kerle hinbringen, kann es so schwer nicht sein!
Das Großhirn kann nicht tanzen, ist aber hervorragend für intellektuelle Analysen des Tango geeignet – oder gar für Facebook-Kommentare. Das alles wird jedoch den Ort, wo der Hammer hängt, nicht verschieben.
So habe ich mir den Spruch im Titel auch nicht von einem Tangoexperten ausgeliehen, sondern vom legendären Duisburger Mittelstürmer Adi Preißler:
„Grau is’ im Leben alle Theorie – aber entscheidend is’ auf’m Platz.“
Volle Zustimmung.....! Bei mir waren es sechs Jahre, bis ich gerafft hatte, dass Tango anders funktioniert....im Alter lernt man(n) es naturgemäß langsamer....
AntwortenLöschenBei mir waren es ungefähr vier Jahre. Und die Erkenntnisse kamen nicht schlagartig, sondern nach und nach.
LöschenSehr geholfen hat mir der Spruch eines Tangofreundes: " So lange die Frauen schnurren, gibts diesen Schritt!"