Zurück in die Zukunft


„Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu werden.“
(Konrad Adenauer)

Immerhin schon der zweite Artikel in diesem Jahr erschien gestern auf dem Blog des verehrten Kollegen Cassiel. Schon das wäre sensationell genug – es kommt jedoch noch viel dicker: Er versucht darin eine kurz gefasste Tango-Historie und distanziert sich von verbreiteten Szene-Klischees unter dem Titel  „Traditioneller Tango … Welche Tradition soll es denn sein?“

Tja, das frage ich mich bekanntlich schon lange! Mehr als zehn Jahre wurden kritische Geister im Tango mit nüsternblähender Traditions-Suada überzogen, obwohl wir nachweisen konnten, dass es kaum durchgängige Sitten und Gebräuche in der Entwicklung des Tango gibt:

Nachdem es seit längerer Zeit im „traditionellen“ Lager an allen Ecken und Enden bröckelt, haben wir es nun vom einst mächtigen konservativen Zentralorgan „Tangoplauderei“ schriftlich:  

„Der argentinische Tango blickt auf eine Geschichte von mindestens 150 Jahren zurück, vielleicht ist er sogar noch älter. Es erscheint offensichtlich, dass es den ‚traditionellen Tango‘ gar nicht geben kann; zu unterschiedlich sind die Auffassungen von Musik und Tanz im Laufe der geschichtlichen Entwicklung gewesen.“

Cassiel kommt in seinem Text zum Resümee:

Es wird deutlich, dass es die Tradition' im Tango gar nicht geben kann. Insofern ist der Begriff traditioneller Tango mindestens irreführend, vielleicht sogar falsch.“

Was der Autor natürlich lieber nicht sagt: Er selber hat den Begriff häufig verwendet – einmal sogar als Titel eines Artikels:

„Der traditionelle Tango und die Qualität der Wiedergabe“

Ebenfalls unbeantwortet bleibt die Frage: Wenn man denn besser nicht vom „traditionellen Tango“ sprechen sollte, ergeben auch Bezeichnungen wie „traditionelle Tangomusik“ oder „traditionelle Milonga“ keinen Sinn.

Ich empfehle, die obigen Begriffe einmal in die Suchfunktion des Cassielschen Blogs einzugeben. Man erhält dann seitenweise Treffer, beispielsweise:

„Als Liebhaber der traditionellen Tangomusik“
„Unterschied zwischen den traditionellen Stücken und den modernen Einspielungen“
„Manchmal erkläre ich die Struktur eines traditionellen Tangos am konkreten Beispiel“
„Nach meinen Erfahrungen ist es bedeutend schwieriger einen traditionellen Abend musikalisch gut zu gestalten“
„suche einmal rein traditionelle Angebote im Milongakalender“
„Mit einem Anteil traditioneller Tangos von 80 %“
„dass er dafür plädiert, Veranstaltungen, in denen kein traditioneller Tango gespielt und getanzt wird, einfach als Mamborambo zu etikettieren“

„so sind mittlerweile nur noch 60 % traditionelle Tangos die Regel“
„traditionelle Musik erfüllt nur noch eine Feigenblattfunktion“
„für mindestens eine traditionelle Milonga“
„Und für alle Liebhabern der traditionellen Tangomusik“

„was man als traditioneller Tangotänzer eher kritisch beobachtet“

„entdeckte ich Stück für Stück den Reichtum der traditionellen Tangomusik“

„durch das Vorstellen von traditionellen Tangotiteln“

„eine Liste traditioneller Milongas in Deutschland“

Wenn man den Autor auf Widersprüche hinweist, kommt regelmäßig die eingangs zitierte Adenauer-Floskel: Was sei denn so schlimm daran, im Laufe der Zeit zu neuen Erkenntnissen zu gelangen? Ach, gar nichts – sofern man mal freiwillig zugibt, früher das Gegenteil verzapft zu haben…

Die neuen Erkenntnisse, so der Schreiber in seiner Eingangsbemerkung, seien ihm auf einer Zugfahrt gekommen. Allerdings muss die schon 5 Jahre zurückliegen: In seinen historischen Abhandlungen hat er bei sich selber abgekupfert – ganze Passagen finden sich bereits in einem Blogtext von 2014:

Und nach mehr als zehn Jahren Spalterei im Tango (die ich stets beklagt habe) lesen wir nun tränenden Auges:

„Insofern ist m.E. auch der Begriff ‚traditioneller Tango‘ ungeeignet, die Gemeinschaft der Tango-Tanzenden streng in zwei disjunkte Gruppen zu teilen.“

Eher sieht Cassiel nun den Unterschied in einem Fokus auf das einzelne Tanzpaar oder auf die Gemeinschaft einer Milonga – also eine eher individualistische oder soziale Sichtweise im Tango. Darüber kann man reden – nur hätte man deshalb nicht über ein Jahrzehnt so einen Terz machen müssen! Tango hatte und hat, je nach Ort und Zeit, immer wieder andere Gesichter. Das macht einen großen Teil seiner Fazination aus.

Da ich in all den Jahren meine Einstellung nicht geändert habe, darf ich dazu feststellen: Das Gedöns von den „hehren Traditionen“ hat die Tango-Entwicklung für viele Jahre stagnieren lassen, ja zurückgeworfen. Durch das Beharren auf ausschließlich historischer Musik hat ein Großteil der Szene den Anschluss an künstlerische Neuentwicklungen, aktuelle Trends, die junge Generation fast völlig verloren. Erst seit kurzer Zeit rudert man nun – vor allem durch die längst überfällige Entdeckung zeitgenössischer Musik-Ensembles – wieder in die andere Richtung. Ich hoffe, es ist nicht zu spät.

Denn: Der Geist ist längst aus der Flasche – das Marketing-Konzept des „traditionellen Tango“ hat voll gegriffen und bietet Veranstaltern und DJs weiterhin gute Einnahmequellen. So schreibt einer von ihnen, der sich früher durchaus auch mit moderner Tangomusik hervorgetan hat:

„Traditioneller Tango bietet einen unglaublichen und sich nicht erschöpfenden Reichtum an Variationen, Spielereien, Vielfalt und kompositorischen Finessen, den zu tanzen und zu interpretieren so ungemein reizvoll ist, dass ich am liebsten rein traditionell auflege.“
https://www.djsalzer.com/tango-dj/

Tja, man kann Blödsinn durchaus noch steigern: Was soll dann bitte rein traditionelle" Tangomusik sein?

Das Geschäft wäre sicherlich schlechter gegangen, hätte man korrekt von „Tangoaufnahmen aus den 1930-er bis 50-er Jahren“ gesprochen… Und klar – wer das unbedingt und ausschließlich braucht, soll es weiterhin kriegen.

Hierzulande wurde aber fast einer ganzen Generation von Tanzenden vorenthalten, dass es neben den historischen Aufnahmen und irgendwelchem Non Tango-Gedudel hunderte moderne Musikgruppen gibt, die zeitgenössischen Tango auf hohem Niveau bieten. Ein wenig kommt mir das vor wie bei der Bibel: Die gab es lange Zeit auch nur in Hebräisch und Latein, damit das gemeine Volk nicht nachlesen konnte, was wirklich drinstand. Die kirchenobere Exegese reichte. Bis dann ein Herr Luther kam…      

 Wollen wir denn hoffen, dass die Tango-Reformation nun beginnt – statt „vorwärts in die Vergangenheit“ nun also „zurück in die Zukunft“? Den Weg hat uns ja bereits der konservative Konrad Adenauer gewiesen:

„Man darf niemals ‚zu spät' sagen. Auch in der Politik ist es niemals zu spät. Es ist immer Zeit für einen neuen Anfang.“

Und den Begriff „traditioneller Tango argentino“ kann man ja auch weiter fassen…

Kommentare

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