Freud statt Spaß



„Die Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält.“
(Karl Kraus)

Meine feste Überzeugung habe ich ja schon öfters dargetan:
Wer noch alle Latten am Zaun hat, tanzt auch nicht Tango!

Aufschlussreich finde ich es jedoch schon, dass im Mekka unseres Tanzes die höchste Dichte an Psychotherapeuten weltweit herrscht: Zirka 800 solcher Behandler kommen in Buenos Aires auf 100 000 Einwohner – in Berlin sind es gerade einmal 25. In der argentinischen Metropole stieg deren Zahl von knapp 6000 (1975) auf über 60000 (2008). Laut einer Studie der Universität Palermo berichten 18 Prozent der Befragten, sie seien schon einmal in Seelenbehandlung gewesen. Eine psychische Erkrankung hingegen mag sich davon nur ein Viertel attestieren.

Bei uns dürfen sich nur Ärzte oder Psychologen mit Zusatzausbildung „Psychotherapeut“ nennen. Das sieht man in vielen anderen Ländern – auch in Nord- und Südamerika – lockerer. Dies könnte ebenfalls zum Hype der Seelendokterei beigetragen haben. Aber auch bei uns gibt es ja den „kleinen Heilpraktiker“ („Heilpraktiker Psychotherapie“): Wem in der amtsärztlichen Überprüfung die Sache mit dem Blutkreislauf und den Antikörpern doch zu schwierig erscheint, kann immer noch in der Seelenkunde reüssieren.

Gerade in den mittleren bis höheren Schichten sind „muchos psis“ (oder „analistas“) am Werk. Wer keinen hat, gerät in den Verdacht, nicht ganz normal zu sein. Vorherrschend ist immer noch die klassische Psychoanalyse nach dem Vorbild des Wiener Erfinders: Das Stadtviertel Palermo, in dem besonders viele Damen und Herren mit der Couch residieren, trägt inoffiziell des „Tiefen-Siggs“ Namen: „Villa Freud“. Dessen Schriften gibt es sogar am Zeitungskiosk. Stars der Branche wie Gabriel Rolón treten in Fernsehshows auf und geben dort – natürlich mit Intellektuellen-Prothese auf der Nase, Stift und Notizblock – Schnellschuss-Diagnosen über Models und andere C-Promis ab.

Die Gründe, wieso gerade die Seele des Porteño derartig pflegebedürftig ist, formuliert genannter Experte wie folgt:

„Wir sind alle Einwanderer. Wer in Buenos Aires wohnt, dessen Eltern sind entweder vor der Armut im Inland geflohen oder vor dem Krieg, etwa aus Italien, Spanien oder Deutschland. Familie, Liebe, Heimat – vieles blieb zurück. Wir kennen seit der Geburt den Verlust, die Abwesenheit, diese Melancholie ist Teil unseres Daseins, und wir versuchen, sie zu erklären.“

Und Mario Molina, Präsident der APBA, des Psychologenverbandes in Buenos Aires, meint: „Der Porteño beschäftigt sich gerne mit sich selbst, er ist wie eine melancholische Tango-Figur immer auf der Suche. Und ihm ist wichtig, was andere über ihn denken.“

Die Präsenz von Psychologie-Themen durch die Medien habe sich auch in der Sprache niedergeschlagen: „Du bist ja völlig neurotisch, die ist hysterisch, ich bin depressiv, er reagierte phobisch – so reden hier schon Kinder“, so Molina, „mit der klinischen Bedeutung hat das nichts mehr zu tun, das ist einfach Umgangssprache.“

„Hier in Argentinien ist nichts vorhersehbar: Wer weiß, wann der Zug kommt. Wer weiß, ob ich morgen noch Arbeit habe. Wer weiß, wie es mit der Inflation weitergeht“, sagt Molina. Vor allem durch die katastrophale Wirtschaftskrise 2001 sei das Gefühl der Unsicherheit gestiegen: Seitdem gebe es verstärkt Panikattacken, Bindungsprobleme, Phobien, Magersucht.

Und in den Zeiten der Militärdiktatur sei es nicht ratsam gewesen, zu viele Leute zu kennen, in deren Adressbüchern man dann stand. Also hätten sich die meisten Menschen lieber mit sich selbst beschäftigt.


Ein wenig elegisch ist der Porteño also durchaus, aber bitte mit Stil und Raffinement! Man liebt die große Inszenierung, den schönen Schein. Daher ist auch die Dichte der Schönheits-Therapeuten sehr hoch. Die Präsidentin Cristina Kirchner nannten böse Zungen „Lady Botox“. Ausgerechnet Tango, der Tanz der gebrochenen Herzen, könne eine gute Therapie gegen Herzbeschwerden sein, meint Dr. Roberto Schena – und er muss es wissen, ist er doch sowohl Kardiologe als auch Poet.

Wie dem auch sei: Tango mit seiner Traurigkeit und Frustration, seinem Weltschmerz passt perfekt ins Psycho-Raster. Und die ganzen Reglements, welche uns heute wieder als Pflichtteil des Tangoerbes aufgedrängt werden, dienen ja in erster Linie der „Wahrung des Gesichts“, der „bella figura“. Und der Cabeceo, entstand ja wohl in einer Zeit, wo es noch weniger Psychiater gab, in welcher Männer somit nach dem Erhalt eines Korbes in Ermangelung eines Seelenklempners doch zum Suizid hätten schreiten müssen – und wo ein kleiner Rempler auf dem Parkett zu einem ungeahnten Gefühls-Tsunami führte.

Wenn man die Códigos einmal im Licht der Tatsache betrachtet, dass die Latten an argentinischen Zäunen sicherlich noch etwas sparsamer vernagelt sind, kann man das ganze Gewese besser verstehen – und muss es noch weniger ernst nehmen.

Kein Wunder, dass bundesdeutsche Tangoaktive nun schon „Fachexkursionen für PsychologInnen“ in die Stadt der guten Lüfte, aber schlechten Gefühle organisieren: „Im Tangoschritt zur Geschlechter- und Führungsrolle“ . Tango meets Psychology – da kommt einiges zusammen:


Aber auch hierzulande kann man am ehelichen Glück per Grundschritt schrauben:




Die Nützlichkeit solchen Tuns soll nicht generell in Abrede gestellt werden. Bis zum Beweis des Gegenteils halte ich dennoch an meiner Überzeugung fest:

Der Tango ist nie daran schuld, dass eine Beziehung zerbricht – er kann den Prozess jedoch erheblich beschleunigen.

Auf jeden Fall weiß ich nun, warum manche Tangoleute gar so aggressiv auf meine Veröffentlichungen reagieren: Wer in elegischer Umgebung lacht, zieht sich den Unwillen all deren zu, welche das nicht fertig bringen.

Und um es mir nun auch noch mit den Psychoanalytikern zu verderben, überlasse ich das Schlusswort ebenfalls dem Spötter Karl Kraus:

„Kinder psychoanalytischer Eltern welken früh. Als Säugling muss es zugeben, dass es beim Stuhlgang Wolllustempfindungen habe. Später wird es gefragt, was ihm dazu einfällt, wenn es auf dem Weg zur Schule der Defäkation eines Pferdes beigewohnt hat. Man kann von Glück sagen, wenn so eins noch das Alter erreicht, wo der Jüngling einen Traum beichten kann, in dem er seine Mutter geschändet hat.“

Weitere Quellen:
http://www.edithwerner.com/pdfs/tangodanza.pdf

Kommentare

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.