Peter Ripota: „Genieße die Tänze, die du möchtest“
Meinen Tangofreund Peter Ripota darf
man getrost als „elder statesman“ des Tango bezeichnen: Seit zirka 30 Jahren ist
er diesem Tanz verfallen, und neben anderen Akivitäten veranstaltet er seit mehr
als 10 Jahren in Freising die monatliche Milonga „Tango de Neostalgia“.
Ich habe mich daher sehr gefreut, dass
Peter mir kürzlich wieder einen Gastbeitrag angeboten hat. Er hat ein
englischsprachiges Werk mit dem obigen Titel entdeckt, das sich mit
soziologischen, jedoch gar nicht langweiligen Aspekten des Tango beschäftigt.
Was er gefunden hat und genüsslich
zusammenfasst, wird manchen nicht gefallen – aber wie ich Peter kenne, kann er
damit gut leben. Ich habe mich jedenfalls über den Text köstlich amüsiert und
kann mit etlichen Jahren weniger Tangoerfahrung bestätigen: Genauso ist es!
Daher hat nun Kollege Ripota das Wort:
Wie man(frau) Tango
tanzt, ohne frustriert zu werden
Die naive
Tangotanzperson (um das Ganze geschlechtsneutral auszudrücken) glaubt, bei
bestimmten Fähigkeiten, Erfahrungen und Aussehen die Piste erobern zu dürfen.
Wer ko, sagt der Bayer, der ko. Auf Hochdeutsch: Wer Tango tanzen kann, kommt
auf einer Milonga auch dazu.
Umso größer
die Enttäuschung, wenn sich diese Einstellung als Mythos erweist. Trotz Kursen
für mäßig bis weiter Fortgeschrittene, 14-Tages-Seminaren auf Mittelmeerinseln
sowie Privatunterricht bei berühmten argentinischen Lehrern sitzt die Tanzperson da, wird bei
Passivverhalten nicht aufgefordert, kassiert bei Aktivverhalten Körbe, wendet
sich zuletzt frustriert anderen Hobbys zu. Was läuft da schief?
Das fragte
sich auch der amerikanische Tangotänzer Oliver
Kent, nachdem er aus lauter Frust den Tango jahrelang aufgegeben hatte. Und
so setzte er sich hin, machte sich Gedanken und schrieb ein Buch – nicht über
die perfekte Tangotechnik bei einer Colgada, sondern über die sozialen Verhältnisse
auf der Piste. Einige Auszüge aus seinem Buch "Enjoy Getting the Dances You Want: Filling in the Blanks of
Argentine Tango - Book One", auf Deutsch zusammengefasst, will ich
hier vorstellen, zum Nutzen all derer, die wieder Freude am Tango erleben wollen.
Fangen wir
mit einer Charakterisierung von Tangoveranstaltungen an. Für Kent gibt es zwei
Extreme:
(a) die hierarchische Veranstaltung,
in
Großstädten auch auf dem Kontinent weit verbreitet. Sie wird beherrscht von
einer oder einigen wenigen charismatischen Persönlichkeiten (jedenfalls halten
sie sich dafür), die den Ton, die Regeln und die erlaubten Beziehungen bestimmen.
Auf solchen
Veranstaltungen herrschen strenge Vorschriften, die entweder im Internet
publiziert oder dem unbedarften Besucher ungefragt schriftlich in die Hand
gedrückt werden. Die „Ronda" muss unbedingt eingehalten werden, was
bedeutet, dass jeder so tanzt wie die anderen, zumindest geschwindigkeitsmäßig.
Aufgefordert
wird nur so, wie es angeblich seit Jahrhunderten in Buenos Aires der Fall ist,
also mit Blickkontakt und Nicken ("cabeceo"). Einfach hingehen und
auffordern – verboten. Die musikalische
Beschallung ist ebenfalls streng vorgeschrieben. Bei einer „Tanda" gibt es
drei bis vier Stücke vom selben Komponisten, vom selben Interpreten, aus
derselben Zeit und natürlich von derselben Art, gemäß dem Motto: nur keine
Experimente oder gar Überforderung der Gäste (und des Gastgebers). Die „Cortina",
das Zwischenstück zwischen den Tandas, läuft nur kurz und darf auf keinen Fall
getanzt werden, selbst wenn das möglich wäre.
Auf
hierarchischen Veranstaltungen gibt es immer einen Tisch in der Ecke, weitab
vom Eingang, wo die VIPs, also die „very inimical persons", die
besonders unangenehmen Typen, zusammensitzen und sich nicht am allgemeinen
Geschehen beteiligen. Wenn überhaupt, tanzen sie nur miteinander, aber das
kommt selten vor, denn sie sind ja nicht zum Tanzen da.
Im Übrigen
handelt es sich bei solchen Milongas im Grunde um geschlossene Gesellschaften.
Natürlich nicht offiziell. Doch wer nicht dazu gehört, merkt ziemlich schnell,
dass er/sie komplett ignoriert, geschnitten, ausgeschlossen wird. Niemand tanzt
mit einem Neuankömmling, Es wird ihm/ihr deutlich gezeigt, wie wenig willkommen
solche Eindringlinge sind. Denn die Mitglieder dieser erlauchten Gesellschaft
sind nicht etwa dazu da, am Abend zu tanzen oder gar Spaß zu haben. Nein, sie
sind da, um ihren Status (wie immer der definiert wird) zu erhalten. So tanzen
sie, die „Eingeborenen", auf keinen Fall mit Menschen, die ihnen rangmäßig
unterlegen sind oder gar nicht dazugehören.
Wie sie das wissen? Der Boss weiß
es, sie schauen nach ihm (oder ihr) und wissen, was missbilligt oder halbwegs
genehmigt wird. Was natürlich auch einschließt, dass Lehrer niemals mit
Schülern tanzen. Die sollen für Lehrgänge zahlen, nicht Spaß an einem guten
Tänzer haben.
Zusammenstöße
werden mit Ermahnung, später mit Platzverweis geahndet, und aufgefordert wird
nur von Männern. So ist es schließlich auch im Mekka des Tangos (wird
behauptet). Typische Worte auf einer solchen Milonga (selbst gehört): Wir mögen es nicht, wenn die Tänzer ihre
Beine schwingen.
Ich habe
selbst mal die Atmosphäre einer solchen Einstellung zum Leben erfahren und mich
sehr gewundert, denn diese Denkweise ist mir eher fremd. Eine Dame saß
mindestens eine Stunde unbetanzt da. Ich erbarmte mich ihrer (dachte ich) und
fragte sie, ob sie tanzen wolle. „Nein!", schnaubte sie mich an. Was ich
damals nicht ahnte: Ich gehörte nicht dazu (wohin auch immer); es wäre für ihren
Rang tödlich gewesen, mit einem Nichtmitglied gemeinsam gesehen zu werden.
Ein andermal
wurde eine Bekannte mit dieser Denkweise konfrontiert. Sie war eine attraktive
Erscheinung: groß, schlank, eine hervorragende Tänzerin. Doch auf einer bestimmten
Milonga wurde sie komplett geschnitten. Sie hatte den Mut, einen der
Veranstalter nach dem Grund zu fragen. Die offene Antwort: Du tanzt mit den
falschen Personen (z.B. mit mir). Also bist du persona non grata.
(b) die kooperative Veranstaltung,
bei uns
praktisch unbekannt. Hier legen die Veranstalter Wert auf eine Durchmischung
der Tänzer. Jeder einzelne Besucher wird persönlich begrüßt, Neuankömmlinge werden an
Gruppen oder an potenzielle Tanzpartner vermittelt, damit sie nicht allein sind
und auch zu ihrem Spaß kommen. Wichtig ist den Veranstaltern, dass jede(r) zum
Tanzen kommt und sich alle wohlfühlen. Ob Manager, Musikmacher oder Lehrer – sie
tanzen selbstverständlich auch mit dem „gemeinen" Volk und freuen sich
über jeden, der sich ebenfalls freut.
Zusammenstöße
sind ein gutes Mittel einer zusätzlichen Kontaktaufnahme und werden mit Humor
quittiert. Frauen dürfen auch auffordern, wer mit wem tanzt, auch
geschlechtermäßig, ist völlig egal. Von den zahlreichen Regeln, die das
Tanzgeschehen im Mekka des Tango angeblich beherrschen, ist nichts zu bemerken.
Es gilt nur die eine Regel: Sei freundlich und rücksichtsvoll. Typische Worte
auf einer solchen Milonga: Wie schön,
dass du wieder da bist. Kennst du eigentlich… ?
In den USA
scheinen solche Verhaltensweisen weiter verbreitet – Stichwort „Nachbarschaftshilfe"
– als bei uns. Nur einmal habe ich es auf einer Milonga in Hannover erlebt,
dass die Veranstalterin, eine Chilenin, zu mir als Besucher kam und mir
mitteilte, eine der Damen würde gern mit mir tanzen. Und bei aller
Bescheidenheit, wir wollen ja keine Reklame machen, also es gibt auch in
Freising eine monatliche Veranstaltung, die diesem Typus entspricht...
Welche Tangotypen es
gibt und wie sie auf diversen Milongas zurechtkommen
Der Tangotänzer
und Amatörpistensoziologe Oliver Kent
hat eine aufschlussreiche Typisierung von Tanzpersonen zusammengestellt. Er
schildert folgende Typen, die wir der Einfachheit halber mit „er"
bezeichnen, obwohl die Typisierung genauso für „sie" gilt:
(1) Der Hierarchist
Wir haben die
Art seiner Veranstaltung schon kennengelernt. Männer und Frauen wie er bilden
den Grundstock solcher Gemeinschaften. Der Hierarchist will weiterkommen, was
nicht nur seine Tangotechnik betrifft. Für ihn ist eine Tangoveranstaltung ein
komplexes Beziehungsgeflecht hierarchisch gegliederter Beziehungen. Er selbst
wird immer nach oben blicken und die Masse unter ihm tunlichst meiden.
Falls ein
Hierarchist neu ist und in den Kreis der Erlauchten aufgenommen werden will
(was schwierig ist und dauert), kennt er die Möglichkeiten. Erstmal den
Musikschaffenden loben ob der gut gewählten Tandas. Dann die Nähe des inneren
Kreises suchen, zuhören und bewundernde Blicke aussenden. Schließlich auf angesagte
Seminare mit angesagten Lehrern gehen und immer dabei sein. Da die Mitglieder
einer hierarchischen Tangogesellschaft irgendwann auch frustriert werden, bleibt
die Gruppe der echten Aficionados eher klein, so dass fähiger und williger
Nachwuchs willkommen ist. Also wird dem Hierarchisten der Einstieg in die Elite
der Tangotänzer irgendwann gelingen, und dann kann er/sie sich selbst im neuen
Status sonnen und die anderen treten.
„Und was hab ich davon?“, wird möglicherweise jemand fragen,
der etwas anders gestrickt ist und zum Tanzen des Tanzens wegen geht. Die Sache
ist die: Wir alle wollen Anerkennung. Die kriegt man über Leistung oder Status.
Wenn die Leistung nicht ausreicht oder nicht gewürdigt wird, bleibt der Status,
ein sehr schwammiger und stets neu zu definierender Begriff, auch im Tierreich.
Im Tango
kriegt man Status eher als im Büro oder in der Politik. Darum sind
Tangoveranstaltungen und -vereine eine beliebte Spielwiese für Statussucher,
denn hier geht alles schneller – bergauf, aber auch bergab. Der Tanz an sich
ist dabei etwas, das in Kauf genommen werden muss und routinemäßig abgespult wird.
Deswegen auch das Motto: Keine Experimente musikalischer oder tanzmäßiger
Natur! Der Hierarchist ist genug damit beschäftigt, die soziale Pyramide hochzuklettern
und dann nicht wieder hinunterzufallen. Für Tanzkünste bleibt da keine Energie
übrig!
(2) Der Soziale
Sozial
orientierte Männer und Frauen bilden den Grundstock einer kooperativen
Veranstaltung, wie wir sie im letzten Beitrag beschrieben haben. Sie wollen
Spaß am Tango haben, gleichzeitig aber auch sichergehen, dass die anderen
ebenfalls mit Freude dabei sind. Für einen sozial orientierten Tangotänzer ist
es selbstverständlich, mit allen zu tanzen, unabhängig von Können, Rasse,
Alter, Geschlecht oder Status, den der Soziale ohnedies nicht kennt und auch
nicht erkennt. Selbst sozialpyramidenmäßig ganz oben angesiedelte Individuen
(z.B. Gastlehrer aus Buenos Aires) sind für ihn potenzielle Tanzpartner, die er
hemmungslos auffordert.
Abweisungen,
vulgo Körbe, erträgt der Soziale nicht so gut, da er/sie nicht weiß, warum. Er
selbst tanzt auch dann, wenn ihn die Energien verlassen haben oder das
Gegenüber nicht so ganz seinen Tanzgewohnheiten entspricht. Hauptsache, die
Gemeinschaft bleibt zusammen, das Geschehen im Fluss, die Freude am Tanzen zumindest
beim anderen. Auf einer hierarchisch gegliederten Milonga wird er verzweifeln. Allein
die Musik wird ihn abstoßen, Cabeceos sind ihm möglicherweise fremd, die vielen
Körbe unverständlich. Seine einzige Chance besteht darin, einen anderen
Außenseiter zu treffen und mit ihm/ihr einfach zu tanzen, voll Freude und
Intensität.
(3) Der Treue
Im
Standardtanz ist es üblich, nur mit dem eigenen Partner zu tanzen, selbst bei
Practicas. Im Tango ist es anders, auch notwendigerweise. Die Fähigkeit zur
Improvisation, Grundvoraussetzung für jeden Tangotänzer, kann nur durch viele
Tänze mit vielen Partnern erworben und verbessert werden. Aber es gibt immer
wieder Tanzpaare, die den ganzen Abend zusammenbleiben, seien es
Uralt-Ehepaare, die mit dem Partnertanz zufrieden sind und sich nichts anderes
vorstellen können (oder wollen), seien es frisch Verliebte, die zumindest an
diesem Abend keinen anderen brauchen können.
Treue Tänzer
können auf hierarchischen Milongas bestens bestehen, da sie ja weiter niemand benötigen
und das Geschehen um sie herum erfolgreich ignorieren. Auf kooperativen
Milongas sind sie nicht so gern gesehen, denn sie verweigern sich offenbar dem
Konsens: Jeder tanzt mit jedem. Den Veranstaltern einer kooperativen Milonga
erscheinen die Treuen asozial, da sie zum allgemeinen Wohlbefinden höchstens
indirekt beitragen. Schließlich wollen sie in Ruhe gelassen werden (manchmal
setzen sie sich auch abseits, aber aus ganz anderen Gründen als Hierarchiker)
und den Abend einfach zu zweit genießen.
(4) Der Innovative
Für diesen
Tanztypus ist jeder Tanz eine kreative Herausforderung. Status? Unbekannt,
uninteressant. Regeln? Gibt's im Verkehr, nicht im Tango. Technische
Fähigkeiten? Nicht wichtig, Hauptsache, man kommt miteinander aus. Mit den anderen
tanzen? Nur, wenn man zueinander passt, nicht aus sozialen oder sonstigen
Gründen. Im Auffordern sind Innovative wahllos, denn eine eventuelle Kompatibilität
ergibt sich ohnedies erst beim Tanz. Vorher kann das nicht entschieden werden.
Körbe ertragen Innovative gut, denn sie wissen aus Erfahrung: Mein Stil ist
nicht unbedingt der von der Allgemeinheit akzeptierte. Deswegen werden
Innovative von Hierarchisten wie Ebola-Infizierte gemieden.
Sollten Sie
aus Versehen oder gar mit Absicht auf einer Milonga landen, die von Innovativen
geleitet wird, dann wird ein eventueller Geburtstagswalzer ein unvergessliches
Erlebnis bleiben. Es kann vorkommen, dass aus einem Zweiertanz ein griechischer
Sirtaki wird, mit allen Tanzwilligen im Kreis und miteinander. Oder aber irgendwer
legt gleich eine Show hin, und alle applaudieren. Die Musik, die ein
Innovativer bevorzugt, würde einen Hierarchisten sofort aus dem Tanzsaal
treiben. Dem Innovativen ist die Art der Musik auch völlig egal; Hauptsache,
sie ist anregend (im Augenblick), es ist genug Platz da (für tänzerische
Eskapaden, bei denen gelegentlich nicht nur die Beine hochgeschleudert werden),
und keiner sagt was.
Reine Typen
gibt es in Wirklichkeit nicht, aber als Orientierungsmerkmale sind sie ganz
interessant. Und vielleicht erhöht das Wissen um sie unser Verständnis für das
seltsame Geschehen auf manchen Milongas!
Da muss ich meinen Kollegen ein wenig
korrigieren: Doch, solche reinen Typen gibt es – und manche Beschreibungen sind
eher schmeichelhaft.
Herzlichen Dank für den Beitrag, der
hoffentlich zur Diskussion anregt!
P.S. Und hier der Link zum Buch, das
ich mir sofort bestellt habe:
https://www.amazon.de/Enjoy-Getting-Dances-You-Want-ebook/dp/B01N2K8E0G/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1514930568&sr=8-1&keywords=Enjoy+Getting+the+Dances+You+Want%3A+Filling+in+the+Blanks+of+Argentine+Tango+-+Book+One
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AntwortenLöschenTut mir entsetzlich leid, aber ich brauche den vollen Namen! Mit diesem wird der Post gerne eingestellt.
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