Karin Norgard: Jenseits tänzerischer Fähigkeiten



“The best teachers are those who show you where to look but don’t tell you what to see.”
(Alexandra K. Trenfor)

Erst kürzlich habe ich einen Artikel von Karin Norgard besprochen:

In ihrem neuesten Beitrag beschäftigt sich die Autorin mit einer ebenfalls sehr interessanten Frage: Was macht eigentlich einen guten Tanzlehrer aus? Sie stellt zehn aus ihrer Sicht essenzielle Fähigkeiten heraus:

“Beyond Dance Ability: 10 More Skills You Need to Be a Great Dance Teacher”

Schon eingangs betont Karin Norgard einen wichtigen Punkt: Tänzerische Fähigkeiten würden oft fälschlicherweise gleichgesetzt mit Lehrbefähigung.

Viele, wenn nicht die meisten hochklassigen Tänzer sind sich weitgehend nicht bewusst und / oder können nicht erklären, wie sie das zustande bringen, was sie tun.
Folgerung:
„Ein Startänzer zu sein bedeutet nicht, dass du ein Starlehrer wirst, und du kannst ein Starlehrer werden, ohne ein Startänzer zu sein.

Bereits diese Feststellung erledigt neunzig Prozent der Werbung deutscher Tangoveranstalter: Fast nie wird nämlich mit den methodischen oder didaktischen Fähigkeiten eines Lehrer(paar)s geworben, sondern mit deren Meriten als Show- bzw. Berufstänzer – das Ganze garniert mit einer bandscheibengefährdenden Bühnenpose.

Und das geneigte Publikum fällt auch zum hundertsten Mal noch auf diesen Schmus herein – aber dies erklärte ja ebenso den Erfolg von Glamour-Gazetten à la „Günes Blatt“ oder „Gala“. Man möchte halt an Ruhm und Prominenz teilhaben. In Wahrheit jedoch verdient nur der Verlag – und Lieschen Müller bleibt genau das, was sie ist. Und womit? Mit Recht! Auch Blödheit ist meist gebührenpflichtig…

Was hält nun die Autorin für Schlüsselqualifikationen eines guten Tanzlehrers?

Gliederung und adäquate Reihenfolge
Man muss komplexe Fähigkeiten in lernbare Segmente unterteilen und Prioritäten der Abfolge festlegen: Was müssen die Schüler zunächst anpacken, was erst später? (Warum in vielen Tangokursen bis heute Anfängern die Führung des Kreuzes angedient wird, gehört für mich zu den besonders markanten Fehlleistungen!)  

Organisation und Zeiteinteilung:
Eine sinnvolle Gliederung erfordert natürlich auch die Überlegung, welche Dauer man den einzelnen Aktivitäten zumisst. (Nun, da haben unsere Tangolehrer kein Problem: Sie wissen so viel und können es so gut, dass sie viel Zeit für kluge Reden und eigenes Vortanzen einplanen – üben können die Leute dann ja auf den Milongas…)

Präsentationsgeschick
Die Vortragsweise sollte klar, abwechslungsreich und interessant sein, dazu darf natürlich die Körpersprache keinen Gegensatz bilden. (Lies für unseren Kulturkreis: Ein radebrechendes Hispano-Deutsch klingt so schön authentisch und geheimnisvoll – da muss ja was dran sein!)

Beobachtung und Zuhören
Entscheidend sind hier die Einschätzung des aktuellen Levels und die Sensibilität für Begeisterung, Langeweile oder Überforderung. Was klappt schon, und woran sollte man noch weiter arbeiten? (Ja schon, aber irgendwann muss man ja auch mal ins Internet oder die Getränketheke aufräumen, dann sollen die halt alleine üben – und eine genaue Beobachtung, was die Typen schon wieder alles falsch machen, erzeugt Depressionen...)

Bewertung und Feedback
Was braucht der einzelne Schüler im Moment – eine kurze Korrektur oder eine längere Zuwendung? Oder ist etwas für den ganzen Kurs wichtig? Was kann ich tun, um dem Lernenden das Gefühl voller Zuwendung zu vermitteln? (Na ja, im Zweifel dann doch das Üben nach kurzer Zeit unterbrechen, „weil es die meisten noch falsch machen“ – und dann das tun, was man am besten kann: reden und vortanzen!)

Kenntnis der Körpermechanik
Hier gelte das Mantra der Heilkunde: „Vor allem nicht schaden!“ Sprich: Keine körperlichen Überforderungen zu provozieren, bei denen die Schüler sich nicht mehr wohl fühlen. (Na gut, aber dann kommen die Knallköppe mit dem Spruch: „Die im anderen Kurs haben schon Ganchos gelernt“ – ist doch nicht mein Schienbein…)

Kenntnisse der Lerntheorie
Hier sind für die Autorin vor allem die äußeren Gegebenheiten (wie Sauberkeit, Beleuchtung, Musiklautstärke, Temperatur etc. maßgeblich) – und natürlich die Überzeugungskraft des eigenen Auftretens. (Ja, aber das Parkett scheuern ist halt umständlich, ein bisschen Babypuder reicht auch!)

Förderung einer positiven Kursatmosphäre
In Wort und Tat muss man Vertrauen, Ermutigung, Neugier und Interesse fördern – und die individuellen Eigenschaften der Schüler bedenken. (Ja, aber es gibt auch jedes Mal einen Lacher, wenn man einen besonders hirnrissigen Tanzstil parodiert!)

Geduld und Selbstlosigkeit
Konstruktiver Umgang mit verschiedenen Menschentypen und Situationen, auch wenn es unangenehm werden sollte: Das „Geschäft“ ist heißt nicht nur Tanz, sondern vor allem „Menschen“. Dies bedeutet, auch seine eigenen sozialen Defizite zu sehen und das Ego zurückzustellen! (Schon, aber schließlich unterrichten Sie den einzig wahren und authentischen Tango – das muss man doch noch sagen dürfen!)

Aufmerksamkeit und Energie fokussieren
Wichtig ist vor allem, den vollen Blick auf die Schüler zu richten, stets im gegenwärtigen Moment zu sein, Konzepte umzustellen, falls es der Augenblick erfordert. Lernen Sie dazu – sie sind als Lehrer auch ein Schüler!

Fazit:
Für mich ist es schon einmal ehrenwert, dass sich hier eine Tanzlehrerin grundsätzliche Gedanken über ihr Tun macht – auch wenn ich vielleicht teilweise andere Aspekte in den Vordergrund gestellt hätte. Viel Wahres ist in den zehn Punkten Karin Norgards sicherlich enthalten.

Wenn ich noch eines hinzufügen darf:

Liebe Tanzlehrer,

Sie haben über (hoffentlich) viele Jahre Ihren eigenen Zugang zum Tango, Ihren persönlichen Stil gefunden. Seien Sie sich der Gefahr bewusst, dass Sie diesen Weg allen Schülern eins zu eins überstülpen wollen! Die Menschen sind aber verschieden – nicht alle haben Ihr Alter, Ihre Körpergröße, Ihre Kraft, Ihren Body Mass Index, Ihren Bewegungsstil und Ihre Art der musikalischen Empfindung.

Und Sie unterrichten weder Mathematik noch Latein oder Feinmechanik, sondern unterstützen Menschen bei einem angeborenen Drang: sich nach Musik zu bewegen. Das können die im Prinzip, seit sie laufen lernten. Eine Art, sich dergestalt auszudrücken, ist Ihre. Die Schüler haben wahrscheinlich eine andere.

Begriffe wie „richtig“ oder „falsch“ zu verwenden, ist daher gefährlicher Irrsinn – ebenso wie den Männern einzutrichtern, die Frauen dürften nur das tanzen, was sie führen. „First, do no harm” – allein diese Einsicht würde den Anteil der angstbesetzten Bewegungslegastheniker auf dem Parkett verringern.

Herzlichen Dank!       

Zum krönenden Abschluss habe ich einmal bei YouTube den Suchbegriff „Tango argentino Workshop“ eingegeben: Reihenweise findet man dabei Produkte der folgenden Art:


Man beachte: Diese Vorführung beendet den Tag 1" eines Tango-Intensivkurses!



Preisfrage: Wer lernt hier
a)    Tanzen
b)    Zählen
c)    Rumstehen?

Und falls nun der Einwand kommt, das Video diene ja nur dazu, die gelernte „Sequenz” zu dokumentieren: Aha, und auf die allein kommt es ja bei unserem „geheiligten Improvisationstanz“ entscheidend an, gell?

Insofern sollte man die Ankündigung eines Tangoveranstalters noch etwas weiter denken:

Hier wird Weltklasseniveau aus Buenos Aires geboten. Erspart Euch teure Flugreisen – Klima aktiv!!

Nun gut, noch besser für das Klima wäre es vielleicht, auch das argentinische Tanzlehrerpaar würde…

P.S. Hier der Originaltext:
http://joymotiondance.com/10-skills-to-teach/

Kommentare

  1. Zwei Anmerkungen von meiner Seite und aus meiner Erfahrung: (1) Wenn man die Lehrer nicht versteht hilft alles nichts. Ein Kauderwelsch aus Spanisch, Englisch und Deutsch, und das auch noch genuschelt und übertönt von der zu lauten Musik bringen mir gar nix. (2) Was die Abschlusstänze nach einer Einheit sollen, wenn dann die erlernten Figuren (!) mit 100erlei Verzierungen noch geschmückt werden, verstehe ich auch nicht so recht. Hatte lange Zeit Gesangsunterricht, da wäre ein Lehrer nie auf die Idee gekommen mir am Ende der Stunde Nature Boy oder die Arie des Sarastro vorzusingen.
    Im "Tanzstudio" meiner Wahl gibt es Gott sei Dank eine "Hilfslehrerin", die das Wissen und Geschick hat, einen auf grundlegende Details des Tanzes hinzuweisen. Chapeau!

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    1. Lieber Ernst,

      das "Abschluss-Solo" nach einer Gesangsstunde ist wirklich eine hübsche Vorstellung - na ja, vielleicht kommt das auch noch...

      Zur "Hilfslehrerin": Hegen und pflegen, sowas ist im Tango äußerst selten!

      Liebe Grüße
      Gerhard

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  2. Lieber Gerhard,

    sind das nicht ohnehin Aspekte, die jeder Lehrer - egal, was er unterrichten möchte - gerade in der "Erwachsenenbildung" mitbringen sollte?

    Ich sehe nicht das Problem darin, dass es viele quasi ""selbsternannte" Tango-Lehrer gibt. Es gibt Lehrer, welche jahrelang studieren und trotzdem kein akzeptables didaktisches Konzept für ihr Fach schaffen. Und Praktiker, welche sich genau überlegen, wie sie eine Sache am Besten rüber bringen, vielleicht nachdenken, wo sie dazumal selbst Probleme beim Erlenen hatten usw. Da muss man nur einen Blick in die gewerblichen Berufsschulen werfen.

    Ich selbst mache die Erfahrung, dass Erwachsene, die gerade eine Sache neu erlernen, lieber an starren, vorgegebenen Regeln und Abläufen festhalten, als sich von vornherein mit mehreren Möglichkeiten auseinander zu setzen. Das gibt ihnen mehr Sicherheit. Deshalb möchten sie auch Schritte und Figuren lernen. Denn die Verunsicherung zu Beginn des Tanz-Unterrichts ist ja doch sehr groß, gerade bei Männern (ist nicht abwertend gemeint).

    Am Schlimmsten bezüglich (Tango-)Lehrer für mich ist das Gefühl, jemand unterrichtet nicht mehr mit Begeisterung, Herz und eigener Neugier. Wenn einen der Beruf – und gerade ein Beruf, bei dem man viel mit Menschen zu tun hat - nach wenigen Jahren schon anödet, dann ist man schlicht fehl am Platz. Leider begegnet einem dieses Phänomen zu oft.

    Liebe Grüße
    Sandra

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    1. Liebe Sandra,

      wie Du weiter unten siehst, hat Michael Kronthaler auch die „Lehrer-Parallele“ angesprochen, und ich habe versucht, darauf zu antworten.

      Klar darf man Anfänger nicht gleich mit vielen Variationen verwirren. Aber ich selber habe zu entscheiden, was ich in erster Linie für wichtig halte, und das wären sicher nicht „Figuren“. Die Vorstellungen, welche manche Menschen vom Erlernen einer Sache haben, sind halt (siehe Lokomotivführer) oft wenig realistisch. Es ist aber meine Sache, was ich wirklich aus Überzeugung anbieten kann.

      Der sicherste Weg, dem von Dir beschriebenen Frust zu verfallen, ist, das zu vermitteln, was nachgefragt wird – ohne innerlich dazu zu stehen. In der Schule gibt es leider Lehrpläne, die mich binden. Als Tangolehrer habe ich jedoch alle Freiheiten. Und wenn mir dadurch Kunden verloren gehen, na und? Davon leben muss ich ja hoffentlich nicht – und das Ego sollte es schon aushalten.

      Danke und liebe Grüße
      Gerhard

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  3. Lieber Gerhard,

    was hältst Du davon, wenn wir den Begriff „Tanzlehrer“ auf Lehrer jeglicher Art erweitern … also auch in Schulen … ;-)

    Herzliche Grüße
    Michael

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    1. Lieber Michael,

      danke für die Frage – ich wollte eh schon zu dem antworten, was ja auch Sandra andeutete:

      Klar gibt es Fähigkeiten, die für jeden Lehrer wichtig sind, zum Beispiel eine gewisse didaktische und methodische Befähigung, selbstkritische Einstellung und vor allem ein gutes Gespür für die Praxis.

      Aber es ist für mich dennoch ein Riesenunterschied, ob ich jemanden für einen Beruf (oder wenigstens schon mal auf einen Schulabschluss hin) ausbilde. Professionelle Fähigkeiten zu erwerben kostet Mühe und kann mit Frust verbunden sein. Und die Befähigung, so auszubilden, setzt normalerweise ein Hochschulstudium und Referendariat voraus.

      Aber wer von den landläufigen Tangoschülern möchte denn Berufstänzer (mit einer mehrjährigen, überaus harten Ausbildung) werden? Für fast alle geht es doch um ein Freizeitvergnügen, und da müssen Lockerheit und Spaß eindeutig im Vordergrund stehen.

      Und im Gegensatz zu professionellen Fähigkeiten muss man hier nicht ständig die Keule „richtig oder falsch“ schwingen. Wenn ein Arzt einen Patienten vermurkst, weil er es nicht besser gelernt hat, ist das doch etwas anderes als ein misslungener Ocho, oder? Und Tango ist keine Wissenschaft, sondern ein sehr vielfältiger Gesellschaftstanz mit unterschiedlichsten Stilen.

      Und die meisten, welche bei uns Tango unterrichten, können (und wollen hoffentlich) davon nicht leben. Letztlich unterrichten daher in der Regel Menschen, die intensiv ein Hobby betreiben, andere, welche in diesem Hobby einige Fähigkeiten erwerben wollen.

      Daher erscheint mir vieles, was ich über „hochheilige Unterrichtsprinzipien“ lese, ein wenig dick aufgetragen.

      Danke und herzliche Grüße
      Gerhard

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