Offener Brief zu einer geschlossenen Veranstaltung
„Zurück!
Du rettest den Freund nicht mehr“
(Friedrich Schiller: „Die Bürgschaft“)
Liebe
(zukünftige) Gäste unserer Wohnzimmer-Milonga,
das
Thema ist etwas heikel, und ich habe mir lange überlegt, ob ich dazu öffentlich
etwas schreiben sollte. Aber vielleicht geht es gerade in dieser allgemeinen
Form – ich bemühe mich sehr, niemanden direkt anzusprechen sowie meine
Andeutungen so zart zu formulieren, dass sie individuell nicht rückverfolgbar
sind. Und ich nehme in Kauf, dass es – wie sonst auch – wieder mal vorwiegend
die lesen werden, welche es nicht betrifft!
Bekanntlich
geben wir bei unserem Tangotreff nicht viel auf „Códigos“: Ihr dürft also gerne verbal auffordern, rückwärts gehen,
überholen, wilde Boleos oder Hebefiguren tanzen – auch auf die Gefahr hin,
endlich unseren alten Fernseher zu schlachten oder unsere teure Ming-Vase (?)
vom Sockel zu stoßen. Wir vertrauen auf Eure Haftpflichtversicherung sowie die
gute Erziehung, aufgrund der Ihr Euch im Fall eines (bei uns äußerst seltenen)
Remplers beim Getroffenen sicherlich entschuldigt.
Wir
bestehen allerdings auf einem „Código“, der sich einfach aus der Natur unserer
Veranstaltung ergibt: Wir haben nur ein begrenztes
Platzangebot und müssen daher die Zahl
unserer Gäste limitieren. Die
Erfahrung hat gezeigt, dass es bei mehr als acht Paaren auf zwanzig
Quadratmetern Parkett einfach zu eng wird. Und trotz des bei uns herrschenden
regelungsfreien Chaos und der gar lästerlichen Musik bekommen wir meist sehr viele
Anmeldungen.
Ich
muss also – was mir mehr als zuwider ist – öfters Anfragen negativ beantworten. Dabei geht es bei uns strikt nach dem
„Müller-Prinzip“: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst – eine wie auch immer geartete
„Gesichtskontrolle“ findet vorab nicht statt! Wir führen dann eine Warteliste –
sollte uns noch jemand absagen, wird der oder die Nächste sofort verständigt.
Das impliziert natürlich, dass man, einmal angemeldet, dann auch erscheinen oder
rechtzeitig absagen sollte (was ich inzwischen stets als „P.S.“ auf unseren Einladungen
vermerke, obwohl es mir selbstverständlich erscheint).
Das
funktionierte in der Anfangsphase unserer „Wohnzimmer-Milonga“ tadellos –
inzwischen aber häufen sich Probleme mit oft ziemlich kurzfristigen Stornierungen. Da ich von der statistischen Gleichverteilung
von Schicksalsschlägen ausgehe, erscheint mir dies merkwürdig – und erst recht,
dass solche Katastrophen meist in den letzten drei Tagen vor dem Termin eintreten.
Nach
meiner Erfahrung bahnen sich gewisse Schwierigkeiten meist schon früher an. Mir
wäre bereits sehr geholfen, wenn man mich rechtzeitig auf die Situation aufmerksam machte – so nach
dem Motto: „Möglicherweise könnte es eng
werden.“ Ich würde dann zum Beispiel doch noch eine Anmeldung mehr annehmen
oder die Nachfolgenden informieren, dass es noch klappen könnte.
Klar
muten wir unseren Gästen zu, sich bereits drei oder vier Wochen vorher auf ein Datum festzulegen – das gilt allerdings
ebenso für unsere Zauber- und Musikauftritte, bei denen die Anfragen oft Monate vorher eingehen und die
Veranstalter einem meist nicht viel Zeit für eine Entscheidung lassen. Ich
musste bei bislang fast tausend Vorstellungen genau dreimal einen Termin
stornieren.
Diesen
Promillebereich erwarten wir auch von unseren Gästen! Die Praxis bestätigt dies
leider nicht direkt. Oft macht man sich nicht einmal die Mühe, einen halbwegs überzeugenden Grund anzugeben – reicht
ja, wenn man „grade so viel um die Ohren
hat“ (zwischen den Lauschern wohl umso weniger) oder kürzlich zu seinem
Schrecken entdeckte, dass der eigene Vater am Milongatermin einen runden
Geburtstag hat… Ebenfalls kaum noch etwas fällt mir ein, wenn eine Absage
wenige Stunden vor dem Milongabeginn kommt, aber der Hoffnung Ausdruck verliehen
wird, der Gastgeber werde noch einen Ersatz finden. Na sicher, geht ja in
Minutenschnelle!
Es
betrifft dann ja nicht vorwiegend meine Seelenlage – obwohl ich natürlich etwas
enttäuscht bin, wenn Besucher absagen und mich noch dazu für so dämlich halten,
alles für bare Münze zu nehmen, was sie mir erzählen. Entscheidend ist
vielmehr, dass ich vorher andere Interessenten
zurückweisen musste – ob ich die dann kurzfristig erreiche und sie den
Termin noch wahrnehmen können, ist mehr als fraglich.
Eine
Recherche im Internet ergab, dass diese Problematik als ziemlich akut angesehen
wird – es gibt sogar Ratgeber mit Ausrede-Formulierungen! Weitgehend führt man das
Phänomen auf das Handy-Zeitalter und dessen Kurzlebigkeit zurück. Ich bin da
anderer Meinung: Nach meinem Eindruck können immer weniger Menschen ihr Leben adäquat organisieren und
unterschätzen chronisch die Zeit, welche sie für bestimmte Aufgaben benötigen.
In der Folge müssen andere warten oder Termine abgesagt werden. (Ein schönes
Beispiel sind die Ärzte, welche wegen ihrer Unfähigkeit im Zeitmanagement sogar
Wartezimmer einrichten…).
Im
Prinzip macht es mir nichts aus, wenn andere Menschen ihr Leben nicht auf die
Reihe kriegen. Schlimm wird es erst, wenn die dies für normal halten und somit meinen,
die anderen hätten die Folgen zu ertragen.
Nein: Das müssen sie dann schon selber!
Daher erlaube ich mir vor jeder Milonga eine neue Auswahl, wen ich
einlade bzw. wessen Anfrage ich akzeptiere (also insofern doch eine
„Gesichtskontrolle“…).
Und
weil ich schon beim „Frust-Ausleben“
bin: Ich gehe davon aus, dass die Besucher unserer Milonga deutlich das
Volljährigkeitsalter überschritten und in Jahrzehnten gelernt haben, sich
selber darum zu kümmern, wie sie von A nach B kommen. Irgendwelche
„Abholdienste“ oder „Mitfahrgelegenheiten“ organisieren wir nicht mehr.
Erfahrungsgemäß kann man gerade in solchen Fällen darauf warten, dass – wegen
der komplizierten Logistik – eine Absage kommt.
Liebe
Gäste, bitte nicht bös sein – ich habe das Thema schon länger gewälzt – nun
musste es mal raus! Und ich übersehe natürlich keinesfalls, dass unsere
Besucher zum Großteil wahre Schätze sind, auf die ich mich jedes Mal riesig
freue!
Herzliche
Grüße
Euer
Gerhard
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