Liebes Tagebuch… 22
„So einen Scheiß kann
ich nicht mehr hören, also da werd‘ ich… das ist für mich das Allerletzte, das
muss ich ehrlich sagen – ich wechsel den Beruf, is‘ besser!“
(Fußball-Teamchef
Rudi Völler zum Sportreporter Waldemar Hartmann am 6.9.2003 nach dem
0:0 gegen Island in der EM-Qualifikation)
Liebe
Tango-DJs,
heute
wende ich mich einmal an eine absolute Minderheit unter euch: Diejenigen,
welche wirklich was können und nicht nur die ewig gleichen EdO-Endlosschleifen
auflegen:
Warum
verspüre ich bei euch oft diese völlig unnötige Achselnässe? Lasst’s doch die
Ankündigung irgendwelcher komischer Aufteilungsschlüssel („Ödo/modern = 70/30“), die nachher eh nicht stimmen (was seltsamerweise
immer auf Kosten des Neo-Anteils geht). Und was soll die Versicherung, auch die
aufgelegte neuere Musik sei „aber garantiert
gut tanzbar“? Na, was denn sonst? Steht auf der Restaurant-Speisekarte bei
einem T-Bone-Steak, es sei „aber garantiert
gut essbar“? Oder könntet ihr bei euren „schönsten
traditionellen Tangos, Valses und Milongas“ wenigstens (was ja stimmen
kann) hinzufügen, sie seien „aber
garantiert nicht langweilig“?
Und
auch die folgende Bitte werde ich solange (in steigender Unfreundlichkeit)
wiederholen, bis sich mal einer dran hält: Wenn ihr nicht den Hintern in der
Hose habt, wirklich mal Piazzolla
aufzulegen, lasst bitte die Sprüche von den „Nuevo-Stücken“
– das ist Leichenfledderei!
Wieso
erzeugt ihr eigentlich den Eindruck, man müsse sich vorab dafür entschuldigen,
wenn man nicht denselben Käse spielt wie der Rest der Bildschirmgucker? Ja, ich
weiß, ihr habt alle schon mal die Ellbogen der konservativen Fraktion verspürt,
welche ihr unverbrüchliches Recht auf schrammelige Beschallung gelegentlich
ziemlich aggressiv einfordert (oder anschließend hinter den Kulissen die Falltür betätigt). Daher plant man lieber eine „Sicherheitsmarge“
der ewig abgenudelten Titel aus der Talmi-Ära ein.
Wie
wäre es einmal mit einer ganz simplen Logik: Das, was jeder Dödel auflegt, kann
man weglassen, wenn man kein Dödel ist! Oder, ins Kochtechnische
übersetzt: „Tofu kann man genießbar
machen, indem man es kurz vor dem Servieren durch Schweineschnitzel ersetzt.“
Und
wenn sich dann nach einer Runde mit „Verano
porteño“ oder gar „Years of solitude“
der aggressive Rentnerpulk vor dem DJ-Pult drängt und lautstark „Salontango“ fordert, wäre es vielleicht
Zeit für das obige Zitat von Rudi Völler
– oder wahlweise den Satz, mit dem man Senioren selbst aus Autobahnraststätten
entfernen kann: „Bus fährt“!
Da
ich bei dem Thema von euch keine Kommentare erwarte (bereits das Bekenntnis,
mein Blog zu lesen, könnte eventuell den nächsten Gig gefährden): Ja, ich weiß, ihr
legt diese „Konzessionsmusik“ deshalb auf, weil sie euch wirklich gefällt – nur
spreche ich da halt mit eurem Großhirn – und das kann den Tango zwar erklären,
aber nicht fühlen.
Und nein, ein DJ ist kein Dienstleister, sondern ein Künstler. Ich möchte seine persönliche Handschrift kennenlernen – die Erwartungshaltung des üblichen Tangopublikums ist mir leider nur zu vertraut!
Und nein, ein DJ ist kein Dienstleister, sondern ein Künstler. Ich möchte seine persönliche Handschrift kennenlernen – die Erwartungshaltung des üblichen Tangopublikums ist mir leider nur zu vertraut!
Ja,
sorry, klar ist es ungerecht, gerade diejenigen abzubürsten, die wenigstens
noch gute Ansätze liefern (und durchaus Säle füllen und viel Beifall erhalten),
aber manchmal muss man besonders streng mit seinen Lieblingskindern sein, weil man
weiß: Mit dieser Begabung könnten sie noch viel mehr hinkriegen. Wenn sie sich
denn trauten!
Zu
eurer Beruhigung: Ich kenne diese Fehler deshalb so genau, weil ich sie – schon
vor Jahren – alle selber gemacht habe. Und ich bedaure es heute noch, dass wir
damals nicht auch unsere Ellbogen eingesetzt haben, um „unsere Musik“ zu
erhalten – und eine gewisse Klientel nicht wieder im bayerischen Volkstanz
entsorgt haben.
Motivationshalber
daher nochmal das legendäre Interview mit „Rudi
nationale“ – und wer würde seit gestern behaupten, es sei eine Schande,
gegen Island unentschieden zu spielen?
Herzliche
Grüße und nix für ungut!
Hallo Gerhard,
AntwortenLöschenin der neusten Tangodanza ist ein sehr interessanter Beitrag zum Thema, was tanzbar ist oder nicht, ("Schimpansen tanzen nicht" ... tanzbar oder nicht? von Peter Mörteli), der dürfte Dir gefallen.
"Tanzbarkeit" ist völlig subjektiv und hängt stark mit dem Musikgeschmack zusammen. Und letzterer ist sehr individuell. Inzwischen ist mir klar, dass Nuevo-Liebhaber in der Minderheit sind. Was die Nuevo-Hasser stört, ist nicht mal der schwierigere Rhythmus, es sind vor allem auch die schwierigern Harmonien, die nicht mehr in das gängige Schema passen und rauher klingen. Bei Piazzolla wurde ich ja mal gefragt "Kannst Du nicht mal was Schönes auflegen". Ich habe mich bemüht, herauszufinden, was mit "was Schönes" gemeint sein könnte, und es waren wohl einfacherer Harmonien, schlichtere Melodien und ein gängigerer Rhythmus gemeint. Das haben Edo und Non-Tango gemeinsam, und deshalb gibt es von letzteren viel mehr Fans.
Ich mag meine Tänzer und mache sie gern glücklich, daher bin ich oft kompromissbereit. Aber meine Lieblinge lege ich trotzdem auf.
Viele Grüße
Annette
Liebe Annette,
Löschenklar, "schöne Schnulzen" muss man natürlich auch auflegen - und dazu muss ich mich nicht mal zwingen, gefallen mir ja selber.
Dafür muss man dann aber tolerieren, wenn ich meinen Gästen öfters auch schwierigere Klänge zumute - bisher gab es auf unserer privaten Milonga keine Probleme damit. Es hilft vielleicht, dass man meine Präferenzen kennt und gar nicht erst kommt, wenn man solche Musik nicht will.
Den Artikel über "Tanzbarkeit" in der TD hab ich schon über Thomas Kröter mitbekommen. Selber habe ich die Zeitschrift nicht mehr - werd mir die Ausgabe aber demnächst ausleihen.
Beste Grüße
Gerhard
Die Sache geht etwas tiefer und reicht zurück auf Friedrich I von Preußen. Er war meines Wissens der erste, der von Staatsdienern erwartete, dass sie arbeiten. Unglaublich! Mehr noch: Beamte sollten Diener des Staates, ja sogar des Volkes sein. Und das Gleiche sollte auch für Plattenaufleger im Tango gelten. Es ist Unfug, einen Abend lang nur "Neotangos" aufzulegen und vorher nur "klassische" Tangos (wie es eine bekannte Plattenauflegerin in München praktiziert). Es geht um Stimmungen, Freude an der Musik und am Tanz. Und das kann nur eine Mischung erreichen - die auf den Tänzer oder Zuhörer Rücksicht nimmt und nicht auf ideologische Konstrukte.
AntwortenLöschenNur ein Beispiel: Sonja Amrisen praktizierte vor langer Zeit in einem Münchner Café abwechselnd klassische und dann Neo-Tandas. Bei letzteren legte sie Meditationsmusik auf - ein Stück zehn Minuten, drei Stücke eine halbe Stunde. Da verging jegliche Stimmung, so vorher vorhanden.
Also, liebe CD-Aufleger oder mp3-Tüftler: Denkt an die Zuhörer/Tänzer, dann geht alles gut. Fragen nach "klassisch" oder "neo", nach "gerade noch tanzbar" oder "geht nicht" stellen sich dann gar nicht.
DJ als beamtete Tätigkeit? Ok, da bin ich ja selber betroffen...
LöschenAber Du hast natürlich recht: Die wichtigste Fähigkeit des Auflegers ist es, für Abwechslung zu sorgen, damit für jeden was dabei ist - und die jeweilige Stimmung zu erspüren.
Man sieht seinen Erfolg ja schon am Prozentsatz der Gäste, die tanzen. Wenn dieser Anteil zurückgeht, sollte man zumindest drüber nachdenken, was man ändern könnte!