Deklaration der Rechten
„Die Virginia
Declaration of Rights (…) ist ein hauptsächlich von George Mason formuliertes
historisches Dokument, das im Zuge der Abnabelung Virginias vom Königreich
Großbritannien entstand (…). Es hatte großen Einfluss auf die Ausformulierung
der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika im selben Jahr
sowie der späteren US-amerikanischen Bill of Rights und der französischen
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (beide von 1789). (…) Mit ihr wurden
die wichtigsten Grundrechte/Menschenrechte festgelegt, des Weiteren Volkssouveränität,
Gewaltenteilung, Wahlrecht, Gesetzgebung, Pressefreiheit und
Religionsfreiheit.“
(Quelle:
Wikipedia)
Auf
dem US-Blog „Tango Voice“ (der sich immerhin für „die Stimme des Tango Argentino Nordamerikas“ hält), erschien
gestern ein Manifest, betitelt:
„Eine Deklaration der
Rechte von Tangotänzern der Ersten Welt auf eine Tangoumgebung, welche die
kulturellen Traditionen des argentinischen Tango unterstützt“.
Immerhin
sollte eine solche Grundsatzerklärung es wert sein, gelesen zu werden. Somit
habe ich mir die Arbeit gemacht – bei 8088 Wörtern in feinstem Englisch
wahrlich eine – und dazu noch mit filibuströser Redundanz: Sollte der Autor so
tanzen, wie er schreibt, reichen ihm pro Abend drei Tangotitel! Na ja, darauf
läuft es ja auch irgendwie hinaus…
Was
den Mann umtreibt (und trotz fehlendem Impressums wette ich, es ist einer): In
den Industrienationen („Erste Welt“)
adaptiere sich der Tango viel zu sehr an die dortigen Verhältnisse und
Einstellungen. Wer sich nach traditionellen Milongas wie in Buenos Aires sehne,
habe sozusagen die Arschkarte gezogen (wobei hier wieder einmal großzügig
übersehen wird, dass wohl auch dort die Vielfalt größer ist als gerne
behauptet). So gehe das aber für die Traditionsliebhaber nicht: „Es ist ihr unbestreitbares Recht, diese
Umgebung zu schaffen und zu erhalten.“
Bereits
hier drängt sich eine Grundfrage auf, welche der Autor bis ans Ende seines
Wortgeklingels nicht klar beantwortet: Wer
oder was hindert ihn denn daran? Soll er doch einen Saal mieten, den DJ
vertraglich auf EdO verpflichten, die Gäste eine Código-Verpflichtungserklärung
unterschreiben lassen sowie einige stämmige Tangosheriffs engagieren, welche Anderstanzende
notfalls expedieren, und gut ist! In den USA darf man doch Waffen kaufen, den
hanebüchensten Sekten angehören oder als Volldepp mit Toupetfrisur Präsident
werden – da wird man doch auch eine traditionelle Milonga veranstalten dürfen?
Obwohl
der Blogger es nie klar ausspricht, haben seine Ratschläge und Forderungen wohl
eher das Ziel, Veranstalter von schon ziemlich konservativen Tangoevents zu
drängen, die Schraube endgültig festzuziehen, sowie DJs, Tangolehrer und
letztlich auch die Besucher „einzunorden“ bzw. Widersetzlinge auszusortieren.
Vorschriftsmäßige
Milongas müssen aus seiner Sicht vier Mindestanforderungen genügen:
„1. Die gesamte Musik, welche auf einer Milonga gespielt wird,
ist klassische Tangomusik, die mit Tandas und Cortinas strukturiert ist.
2. Es gibt eine
sanft zirkulierende Ronda, die frei von Navigationsgefahren und Exhibitionismus
ist.
3. Es erfolgen
keine Belehrungen auf dem Parkett.
4. Man respektiert
das Recht, die Tanzpartner per Cabeceo aufzufordern.“
Zu
jeder dieser Regeln verbreitert sich der Autor per ellenlangem Monolog – und
zum Schluss gibt es Tipps (oder besser: Forderungen) an die Veranstalter,
welche das Geschriebene abermals wiederkäuen.
In
Kürze:
Die
Musik habe sich weitestgehend – wie
angeblich in Buenos Aires – auf die EdO-Aufnahmen zu beschränken, welche am
besten tanzbar seien. Immerhin wird einigen heutigen Gruppen wie „Color Tango“ oder „Sexteto Milonguero“ zugestanden, das ebenfalls noch einigermaßen
hinzukriegen, der Musiker-Masse jedoch nicht. Daher wird auch vor der
Verpflichtung von Live-Gruppen eher gewarnt. Und zu Piazzolla fällt dem Blogger (außer, dass er keine Tanzmusik schreiben
wollte) Folgendes ein: „Die Mixtur von
klassischen und Jazz-Elementen mit solchen des Tango mag ganz vergnüglich zum
Zuhören sein, aber das variierende Tempo, oft zu langsam oder zu schnell zum
Tanzen, oder das zeitweise Fehlen eines klaren Rhythmus macht diese Musik ungeeignet
zum Tangotanz.“ Letztlich das Standardargument: Wenn’s nicht jeder Dödel
kann, passt es nicht. Und erst recht beim Elektrotango: Den harten Beats
mangele es am „singulären und prominenten
pulsierenden Gehrhythmus“ des wahren Tango, weshalb man diese Klänge auch
gar nicht als solchen bezeichnen solle!
Musik
ist Trump…
Zur
Ordnung auf dem Parkett darf man den
häufig verwendeten Begriff „Exhibitionismus“ natürlich nicht so verstehen, dass
da etwas aus der gestreiften Hose hängen könnte! Vielmehr sind damit die
ausladenden und gefährlichen Bewegungen, ja schon die weiter entfernte
Tanzhaltung mit zu großem Raumverbrauch gemeint. Diese seien auch auf spärlich
besetzten Tanzflächen zu unterlassen, da sie eine Ablenkung und Irritation der
brav tanzenden Paare bedeuteten (kennen wir ja von unserer „tieffliegenden
Erzengel-Mimose“…).
Um
die Gäste zum sparsamen Tanzen zu zwingen, sei an eine Verkleinerung des
Parketts zu denken, indem man zum Beispiel die Tische näher ans Zentrum rücke.
Dann entstünde ja dahinter eine Exklave für die Unbelehrbaren…
Schuld
an der ganzen Misere seien vor allem gewisse Tangolehrer, welche ihren Schülern
immer noch solches Zeugs beibringen, schlechte Vorbilder unter den Tänzern
sowie geldgierige Veranstalter, welche die Anfänger viel zu früh und daher ohne
Navigationskenntnisse aufs Milonga-Parkett ließen, statt sie auf Practica
zwischenzuparken, bis sie die nötige Reife erlangt hätten. (Wie er sich dann
die Überprüfung mittels „Leisetreter-Examens“ vorstellt, verrät der Schreiber
nicht.)
Auch
Belehrungen auf der Milonga wurzeln
natürlich vor allem in der Anwesenheit von Anfängern – zumal, wenn sie mit
Fortgeschrittenen tanzen, wovon daher ebenfalls abgeraten wird. Auch die
Unsitte, Tango-(Schnupper)stunden vor die Milonga zu setzen, trage zum
Missstand bei. In diesem Zusammenhang gelingt dem Autor ein bemerkenswerter
Satz: „Eine Milonga ist eine soziale Tanzumgebung, kein Klassenzimmer.“ Tja,
liebe „Stimme des Tango“, das
wünschte ich mir für den gesamten Zusammenhang: Unser Tanz ist ein
gesellschaftliches Vergnügen, vielleicht sogar eine Leidenschaft, mit
Sicherheit aber kein Spielplatz für pedantische Gesetzlein-Aufsager!
Zum
unvermeidlichen Cabeceo-Thema gibt
es einige kabarettreife Darlegungen: Keinesfalls dürfen Nur-Blinzler in eine
Lage gebracht werden, verbal zu unpässlichen Tänzen genötigt zu werden. Man
möge doch für diese schützenswerte Spezies einen eigenen Sitzbereich schaffen –
natürlich übersichtlich und gut ausgeleuchtet – mit entsprechenden
Hinweisschildern („Cabeceo only“?) sowie (selbstverständlich) mit
Geschlechtertrennung (im neuen Gender-Deutsch: „Männer – Frauen – Diverse“).
Da
stelle ich mir dann herrliche Situationen vor – Dame zum Herrn: „Ich sitze nur
am Cabeceo-Tisch, weil sonst kein Platz ist. Darfst mich aber gern verbal
auffordern.“
Natürlich
fehlt nicht das Argument, die Frauen wären ohne den Augenkontakt schutzlose
Spielbälle der männlichen Dominanz – ausgenommen natürlich den unausdenklichen
Fall, sie würden selber mit Worten zum Tanz bitten…
Und
schließlich wären „Cabeceo-Reservate“ schon deshalb nötig, da die
Verbalaufforderer den Guckern sonst die Chancen schmälern würden, an die Tänzerinnen
zu kommen.
Abschließend
wird natürlich der übliche Pseudo-Liberalismus verbreitet („Jedem das Seine“),
allerdings auch klar festgestellt: „Diese
Perspektive kontrastiert mit der ‚Ein großes-Zelt-Theorie‘, der Philosophie des
‚einen Tango‘, welche in vielen (vielleicht den meisten) Tango-Szenen
verbreitet wird, wo Tango de Salon, Tango nuevo und Bühnentango nicht als
verschiedene Ausdrucksformen des Tango (…) gesehen werden und daher auf dem
selben Parkett integriert werden.“ Auf Deutsch: Spalten statt versöhnen.
Um
nochmal zum Titel zu kommen: Klischees wie das der „argentinischen Tangokultur-Tradition“ gemahnen mich an die Sprüche
einheimischer rechter Dumpfbacken von der „deutschen
Leitkultur“. Dass dazu auch Namen wie Piazzolla
und Ferrer respektive Böll und Brecht gehören, dürfte sich in bildungsfernen Kreisen nicht
herumsprechen. Was man hier bestenfalls anstrebt, ist ein begrenzter Sektor von
Kultur, mehr nicht.
Historisch
verwunderlich finde ich es, wenn in der Überschrift auf die amerikanische „Declaration
of rights“ angespielt wird, die nicht nur Freiheits- und
Bürgerrechte fordert, sondern auch eine klare Abgrenzung vom englischen
Kolonialherrn. Insofern ist der Rückbezug des Weltkulturerbes Tango auf die
argentinischen Quellen (Uruguay wird chronisch übersehen) eher eine „Declaration of dependence“. God bless
America!
Abschließend
noch ein Dank an mein leuchtendes journalistisches Vorbild Thomas Kröter, dem ich
den Facebook-Hinweis auf dieses Machwerk verdanke. Schön, dass auf diesem Forum
Theresa Faus zwar (im Gegensatz zu
mir) in dem Text „vieles Wünschenswerte“
entdeckt, der „unerträglichen autoritären Manier“ aber eine Absage erteilt und damit nicht „in einen Topf geworfen“ werden will.
Wenn man halt aber seit Jahren das Feuerchen der Código-Manie schürt, darf sich
nicht wundern, wenn der Pott mal überkocht. Auch Hillary kann was für Donald…
Da halte ich es doch eher mit Thomas Kröter, der nix mehr zum Thema
sagen will und bloß noch seufzt, „was es
für knallköppe gibt“. „das
techno-und-co inspirierte gewummmere, das häufig als ‚neotango‘ verkauft wird,
geht mir jedenfalls mindestens so auf den geist wie das 30-er jahre gequietsche
oder die 127,5. darbietung von ‚hotel viktoria‘ e tutti quanti.“ Vielleicht
mache er demnächst mal „nen
slowfox-auffrischungskurs“.
P.S. Die "Virginia Declaration of Rights" hat 907 Wörter!
Lieber Gerhard,
AntwortenLöschennix gegen Blogs generell und Deinen lese ich nach wie vor mit großem Vergnügen. Aber es gibt halt auch Blogs, die sind sowas von überflüssig! Und ich finde, denen sollte man nicht noch zu zusätzlichen Lesern verhelfen, indem man über sie schreibt und damit ihren Schwachsinn weitertransportiert.
Ich verstehe natürlich, dass es eine Scharfzunge wie Dich reizt, sowas zu verätzen. Aber hier z.B. hätte ich Nichtbeachtung besser gefunden. Mehr verdient dieser Beitrag nicht!
Schönen Tag noch!
Kann man so sehen!
LöschenFür mich stellt sich das umgekehrt dar: Das Netz füllt sich derzeit immer mehr mit solchen Rufen nach „Gesetz und Ordnung“ beim Tango. Ich möchte, dass auch die andere Seite lesbar bleibt.
In meiner näheren Umgebung zumindest werden die Veranstalter immer vorsichtiger mit der Veröffentlichung von „Tangoregeln“ – und bemühen sich, zumindest mal eine „Alibi-Tanda“ mit moderner Musik aufzulegen. Manchmal werde ich sogar direkt angesprochen – ich möge doch bitte nichts Negatives schreiben.
Meinungen, die nicht geäußert werden, sterben aus.
Und wenn ich einen solchen „Schwachsinn“ weitertransportiere, kriegt er sicher mehr Leser, aber kaum neue Anhänger, eher im Gegenteil!
Harri hat da nen Punkt - Unfug durch Beachtung adeln ist ein Problem. Andererseits neige ich auch eher zu Deiner Position, dass Gegenrede wichtig ist. Was mein eigenes Schreiben angeht, oszilliere ich da ein wenig zwischen diesen Polen. Derzeit bin ich mehr auf der "Blödsinn eher ignorieren"-Seite.
AntwortenLöschen...und übrigens: Totschweigen versucht grad die andere Seite mit mir. Klappt nicht!
AntwortenLöschenOb's nur daran liegt, dass ich keinen Blödsinn schreibe?