Mittsommernachtstango: Wer hat’s erfunden?
„Der Ursprung des Tango ist ein großes Missverständnis. Die Uruguayer und auch die Argentinier wollen ihn erfunden haben. Aber eigentlich entstand er im Osten Finnlands (…). Die Hirten, die mit ihrem Vieh durch die Wälder zogen, begannen Tango zu singen, um die Wölfe fernzuhalten, und um sich weniger einsam zu fühlen. (…) Seeleute sangen ihn und brachten ihn nach Buenos Aires.“
Wenn
der berühmteste finnische Regisseur, Aki Kaurismäki, eine solche
Behauptung aufstellt, muss doch was dran sein, oder? (Ganz abgesehen davon,
dass mir etliche traditionelle Aufnahmen ganz hervorragend zur Abschreckung von
Wildtieren geeignet erscheinen…).
Die
Filmemacherin Viviane Blumenschein trieb in der argentinischen Hauptstadt
drei waschechte Porteños auf, die bereit waren, sich auf einen „Roadtrip“ ins
Land der Mitternachtssonne zu begeben und den Wahrheitsgehalt dieser Aussage zu
hinterfragen: den Sänger Walter „Chino“ Laborde, den
Gitarristen Diego „Dipi“ Kvitko sowie den Bandoneónisten Pablo
Greco.
Zunächst
ist bei den Argentiniern das Unverständnis groß: „Die spinnen doch, oder? (…) Dann ist Maradona aber auch Finne. – Ja,
und Gardel auch.“ Aber immerhin lockt die Aussicht: „Da werden wir verrückte Leutchen kennenlernen.“
Nach
ihrer Ankunft sind die Musiker erst einmal erschlagen von der Stille und Weite
des Landes – mit fünfeinhalb Millionen Einwohnern weniger als die Hälfte des
Großraums von Buenos Aires, „einer dreckigen
Stadt, in der es schöne Musik gibt"! Auch der erste Besuch eines
landestypischen „Lavatanssi“ (Tanz
auf dem Bretterboden) in einem abgelegenen Dorf hinterlässt zwiespältige
Eindrücke: „Die Musik war scheiße,
aber der Ort war schön. (…) Das war für mich kein Tango, aber die Leute haben
sich amüsiert.“ (…) „Wir können nicht sagen, den Tango muss man so und so
tanzen.“ (…) „Aber sie tanzen schon komisch.“ (…) Ja, sie tanzen Chacarera,
Tango, Mambo. Und sie hüpfen.“
Die
finnische Ausgabe Helge Schneiders, das Multitalent M.A. Numminen, kann ihnen
da schon einiges erklären – über den finnischen Komponisten Toivo Kärki sagt er: „Die Finnen wollten dem Tango unbedingt
etwas Finnisches geben. Sie nahmen zwei Elemente: Die Musik der russischen
Romantik in Moll und den deutschen Marsch.“
Das
erlaube dann ein simples Einherschreiten statt dieser ganzen argentinischen
Figuren. Und
über die landestypische Mentalität:
„Wir Finnen haben vor
der Erfindung des Mobiltelefons so wenig gesprochen, dass die Entstehung des
Tangos eine absolute Notwendigkeit war. Den finnischen Männern fehlte der Mumm,
um den Frauen, die sie begehrten, zu sagen, was sie ihnen sagen wollten. (…) In
ihren Texten brachten die Tangosänger das zum Ausdruck, was die Männer über die
Schönheit der Frauen dachten, mit denen sie tanzten. So konnten die Männer
stumm die Frauen im Arm halten.“
Ungezwungene
Treffen mit einheimischen Tangomusikern lassen den „Clash of cultures“ aber
bald abflauen: In einer wunderbaren Szene improvisiert der Bandoneónspieler Pablo Greco mit dem finnischen
Akkordeonisten Kari Lindqvist, dass es eine helle Freude ist. Der bekennt, er
hasse Miesepeter: Die Musik müsse vom Herzen kommen, sonst solle man lieber nur
zu Hause spielen.
Die
Tangosängerin Sanna Pietiäinen
treffen sie auf ihrem Bauernhof – und ihr argentinischer Kollege Chino Laborde bucht sofort eine
Gesangsstunde bei ihr. Anschließend erzählt er stolz, es sei bei Finnen schon
eine Ausnahme, einen Gast zu küssen. Er aber habe von ihr sogar zwei „feuchte Küsse“ erhalten, was
rekordverdächtig sei!
Eine
berührende Diskussion ergibt sich mit dem Kollegen Riku Niemi: „Es gäbe keine Musik auf der Welt, wenn die
Menschen nie Stille erfahren hätten.(…) Wenn es still ist und man genau
hinhört, kann man Musik hören. Wenn man also Musik macht (…), sollte etwas von
der Stille bleiben, aus der die Musik entstanden ist.“
Nachdenklich
macht die Gäste dessen Frage: „Wenn wir
über Tango reden… Ich meine, gibt es nur einen Tango? Oder gibt es
argentinischen Tango, finnischen Tango, deutschen Tango?“
Die
Antwort liegt auf der Hand, wenn man sich in die Stimmung dieses herausragenden
Films hineinversetzt: Doch wohl nur einen – zwar in ganz verschiedenen
Spielarten, aber das Herz des Menschen stets an derselben Stelle treffend.
Der
legendäre finnische Tangosänger Reijo Taipale, welchen sie am
Schluss besuchen, drückt es so aus: „Das
ist ein Gefühl, das man hat, dem man nur durch den Tod entrinnen kann.“
„Irgendwo mitten im Meer liegt ein Land,
wo eine Welle gegen die Ufer glücklicher Inseln
plätschert.
Dort ergötzen sich die schönsten Blumen des Lichts,
und dort lassen sich die Sorgen von morgen vergessen.
Ach, könnte ich doch nur dieses sagenumwobene Land
finden,
dann würde ich es nie verlassen, wie ein Vogel.
Aber da ich keine Flügel habe, kann ich nicht fliegen.
Ich bin an die Erde gefesselt,
nur wenn meine Gedanken in die Ferne schweifen,
kann
ich dorthin gelangen.“
Doch
der inzwischen 76-jährige Sänger bekennt, obwohl er den Titel über 8000 Mal
gesungen habe, wisse er immer noch nicht, wo dieses Märchenland liege…
Ich
weiß nicht, ob alle Finnen (und Argentinier!) so schräg drauf sind wie die im
Film. Wenn ich allein an die Szene denke, wo Spaßmacher M.A. Numminen in ein Hasenkostüm steigt (und sein Akkordeonspieler
in ein Katzenoutfit), um als „tierisches Duo“ Tangos darzubieten, kennt mein
Vergnügen keine Grenzen – zumal, wenn ich mir diesen Auftritt auf einer
hiesigen „Bierernst-Milonga“ vorstelle…
Aber
mit Schubladen vergeht einem halt das Lachen. Dieser Film dagegen hat mich
erschlagen durch seine Bandbreite zwischen Realismus, Romantik, ästhetischen Ernst
und wunderbarer Blödelei.
Die
anfangs gestellte „Ricola-Frage“ („Wer hat’s erfunden?“) erübrigt sich
vollends. Eine gewisse Antwort darauf hat einer der Argentinier am Schluss:
„Es
gibt ihn also doch, den verdammten finnischen Tango!“
Hallo Gerhard,
AntwortenLöschenvon dem Film habe ich schon gehört, wollte ich immer schon mal sehen. Wir versuchen, das auf die Reihe zu kriegen.
Ich bin schon lange ein Fan von Numminen und Sanna Pietiäinen, von denen ich ab und zu auch etwas auflege (CD "Ist das Glück nur ein Traum?"). Numminen kann man wirklich als finnischen Helge Schneider bezeichnen. Er singt übrigens auch viel auf deutsch, und die Texte sind köstlich.
Ansonsten finde ich auch, dass finnische Tangos viel von deutscher Marschmusik haben, allerdings grundsätzlich nur in Moll, das aber gnadenlos konsequent. (Deutsche Märsche sind in Dur.) Synkopen gibt es auch nicht, daher wird das auf Dauer etwas langweilig. Argentinischer T, sowohl Edo als auch Nuevo, wechselt zwischen Dur und Moll und kennt auch Synkopen, das macht ihn abwechslungsreicher und interessanter. Aber die oben erwähnte CD ist klasse und sehr zu empfehlen. Und den Film möchte ich jetzt auch sehen.
Zum Thema Finnen: Kennst Du den Film "Night on Earth", von Jim Jarmusch? Darin gibt es zwar keinen Tango, aber eine Episode mit zwei finnischen Taxifahrern, die sich betrinken und traurig sind, auch total sehenswert. (Seit ich den Film gesehen habe, liebe ich die Musik von Tom Waits...)
Grüße von Annette
Liebe Annette,
Löschenob man nun finnischen Tango toll findet oder (wie ich) etwas gewöhnungsbedürftig: Der Film ist so herrlich schräg und ein Plädoyer für das gegenseitige kulturelle Verständnis - darauf kommt es an.
"Tango Django" etc. von Numminen habe ich natürlich auch schon aufgelegt.
Den von Dir angesprochenen Film kenne ich leider nicht. Ich werd ihn mal recherchieren.
Liebe Grüße
Gerhard