Weil es ja alle sagen…

 

Eigentlich wollte ich heute einen Artikel über den Kabarettisten und Physiker Vince Ebert schreiben, den ich sehr bewundere (kommt sicher noch). In einem Gespräch erwähnte er ein Experiment, das ich atemberaubend finde:

Durchgeführt hat es 1951 der Sozialpsychologe Solomon Asch. Das Setting war sehr einfach: Einer Versuchsgruppe wurden drei unterschiedlich lange Linien (A,B,C) gezeigt. Auf einem zweiten Bild sah man nur eine Linie. Die Frage war nun: Welche der drei Linien ist ebenso lang wie die eine, welche zusätzlich gezeigt wurde?

Seltsamerweise entschieden sich fast alle Teilnehmenden für die falsche Lösung, obwohl der Irrtum eigentlich evident war.

Der Hintergrund: Bis auf eine Versuchsperson waren alle anderen Kandidaten eingeweiht, die unzutreffende Antwort zu geben. Die Frage war nun: Würde sich der nichtsahnende Kandidat für die eigene Beobachtung oder die Mehrheitsmeinung entscheiden? Das niederschmetternde Ergebnis: Nur etwa ein Viertel der nicht eingeweihten Probanden ließ sich auch in diversen Durchgängen nicht manipulieren!   

https://de.wikipedia.org/wiki/Konformit%C3%A4tsexperiment_von_Asch

Sicherlich geht dieses Verhalten darauf zurück, dass unsere Vorfahren nicht allein überleben konnten, sondern nur in der Horde. Und es war besser, bei ihr zu bleiben, selbst wenn diese zu falschen Entschlüssen kam, als mit der richtigen Erkenntnis allein zu bleiben. Die Realität verliert also gegen den Gruppenzwang.

Beklemmend finde ich, dass dieser Mechanismus bereits bei völlig „neutralen“ Themen wie der Länge von Linien wirkt. Wieviel stärker müssen sich dann Fragen der Moral oder (Pseudo-)Religion auswirken? Womit wir beim Tango wären…

Ich glaube, das „Konformitätsexperiment“ von Asch erklärt auch etliche Mechanismen, die ich in der Tangoszene kennengelernt habe. In Debatten über meine Person wird immer wieder darauf hingewiesen, dass ich ja mit meinen Ansichten weitgehend isoliert sei. Vom Blogger Cassiel stammt der schöne Begriff, ich sei der „Geisterfahrer im Tango“. Seither wird diese Behauptung in vielen Varianten wiederholt. „Freunde“ hätte so gut wie keine.

Das erklärt auch die verbissenen Debatten um Zugriffsraten auf mein Blog. Es muss auf jeden Fall der Eindruck vermieden werden, meine Texte könnten ein größeres Interesse oder gar nennenswerte Zustimmung finden.

Im Tango erfahren heute offensichtlich unrichtige Thesen breite Akzeptanz: Zum Beispiel, dass der Cabeceo Frauen vor männlichen Zudringlichkeiten schütze. Oder dass es nach 1955 keine „tanzbare“ neue Tangomusik mehr gegeben habe. Mich erinnert das sehr an die unterschiedlich langen Linien von Asch.  

Wieso finden sich dann aber bei mir eher wenige zustimmende Kommentare? Unter dem Namen „Schweigespirale“ gibt es dazu eine sehr interessante Theorie der Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann. Auch sie geht von der „Isolationsfurcht“ des Menschen aus – man möchte nicht zu einer abgetrennten Minderheit gehören:

„Die Bereitschaft, seine Ansichten öffentlich darzustellen, ist unterschiedlich stark ausgeprägt, je nach der vom Individuum wahrgenommenen Verteilung der Meinungen und der erwarteten Entwicklung der Meinungen in der Gesellschaft. Menschen, die den Eindruck haben, die Verbreitung ihrer Meinung sei im Aufsteigen begriffen oder entspreche schon der Mehrheitsmeinung, äußern sich bereitwilliger in der Öffentlichkeit. Sie bekennen sich eher öffentlich durch Meinungsäußerungen, Verhalten oder Symbole zu ihrer Meinung, als diejenigen, die glauben, mit ihrer Meinung zu den Verlierern oder zur Minderheit zu gehören. Die Minderheitsfraktion verfällt in Schweigen aus Furcht, sich sozial zu isolieren. Dadurch erscheint die Gruppe der ersteren noch stärker und in einem Spiralprozess scheint diese Meinung die alles beherrschende zu werden – ohne es tatsächlich sein zu müssen.“  

https://de.wikipedia.org/wiki/Schweigespirale

Kurz gesagt: Man äußert sich öffentlich lieber, wenn man eine Mehrheitsmeinung vertritt – auch wenn die de facto gar nicht stimmt!

Noch schlimmer wird es, wenn das Thema der Auseinandersetzung „moralisch aufgeladen“ ist, Abweichendes also nicht nur als sachlich falsch, sondern moralisch schlecht hingestellt wird, folglich Emotionen bedient werden.

Na, diese Erfahrung konnte ich im Tango oft genug machen: Es reicht ja nicht, beispielsweise Abweichungen von den „Ronda-Spuren“ als ungeeignet hinzustellen – besser ist, sie als „rücksichtslos“ zu brandmarken! Oder eine als wenig hilfreich angesehene Art der Aufforderung als „Nötigung“ zu verurteilen.

Werden diese Erkenntnisse etwas nützen, eventuell die Debatten im Tango versachlichen? Ich glaube nicht! Aber zumindest könnten wir unseren Wissensschatz mal über den „Dunning-Kruger-Effekt“ hinaus erweitern!

Vince Ebert sagte einmal, unser Gehirn arbeite seit mindestens hunderttausend Jahren „auf Werkseinstellung“. Und, so die Erkenntnis des Physikers: Bei der Begegnung mit anderen Lebewesen gelte für den Homo sapiens immer noch die Alternative:

„Fuck it or eat it!“

P.S. Und hier – statt eines Tanzes – die genauere Darstellung des Asch-Experiments:


https://www.youtube.com/watch?v=Otr4Lfh5Qm8

Kommentare

  1. Auf Klaus Wendels Seite wärmt nun der Kommentar-Papagei Thomas Schön wieder die alte Geschichte mit dem "Tanzsport" auf. Passend zum Artikel: männliches Konkurrenzverhalten, da Stammhirn noch auf Werkseinstellung.
    Interessantes Detail: Selber tanzt er offenbar nicht mehr. Ich schon...

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  2. Neuester Kommentar zum Artikel im Nachbarblog: Das mit dem Cabeceo sei ja kein Gruppenzwang, sondern "Konsenskultur". Bin ich froh, dass sich die Trottel jetzt beim Kollegen sammeln... natürlich per Pseudonym.

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    1. Nun lese ich, dass der Herr mit Vornamen "Argonaut" heißt. Toll...

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  3. Ach, schon wieder so ein Versuch, die (Tango-)Welt in zwei Lager zu spalten.
    Jetzt mit den Argument: "wer schweigt, stimmt den Anderen zu".
    Ich habe mehrfach (hier und anderswo) zum Ausdruck gegeben, dass ich deinen Ansichten zum Tango-Tanz und zur Tango-Musik durchaus nahe stehe (ohne alles zu teilen).
    Aber was mich zunehmend abturned (heute habe ich nur aus Langweile gepaart mit Müdigkeit mal wiede reingeklickt), ist diese polarisierende Haltung, diese Aufspaltung der Tango welt in "Gut" und "Böse" und deine langsam unerträgliche Inszenierung als Opfer des Tango-"Mainstream".
    Hey, wer hart austeilt, sollte auch einstecken können - und nicht ständig rumjammern.
    Und nein, mit Satire haben deine Artikel wenig zu tun, denn diese erfordert laut gängigen Definitionen " Ironie und [beißenden] Spott [...] scharfem Witz". Vieleicht bin ich von Tucholsky et.al. verwöhnt. aber diese Eigenschaften hab ich hier schon lange nicht mehr gefunden.
    Statt dessen eine ständige Opferhaltung ("die bösen Anderen") und bevorzugt Angriff. Selbst wenn du jemandem zustimmst, kannst du dir Seitenhiebe (und sei es auf vergangene Äußerungen) gefühlt nie sparen.
    Was du machst ist für mich überwiegend Boulevard, "gut" vs."böse" ohne Grautöne, mit dem Emotionen bedient werden - zum "versachlichen" tragen deine Artikel sicher nicht bei.
    Beleg: Ich vertrete in meinem Blog zum Tango z.T. deutlich radikalere Ansichten als du (fluid role change, Non-Tango, Pugliese ist tänzerisch herausfordernder als Piazzolla, ...) bekomme aber gar keine bösartigen Kommentare. Und das obwohl ich hier in der Region als Unterichtender, Veranstalter, DJ und Tänzer sehr aktiv bin.
    Der Unterschied zwischen uns: Ich greife andere nicht an... sondern vertrete und verbreite einfach meine Ansichten zum Tango - vielelicht ist das der richtige Ansatz zum "versachlichen"?
    Wenn ich also hier (und anderswo) zuküftig (hoffentlich) schweige ist das also keine Zustimmung, keine Konformität, kein Gruppenzwang, sondern:
    " Manchmal hat man einfach keine Lust, mit Idioten zu diskutieren"

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    1. Lieber Carsten,
      angesichts der Kommentare, die ich mir (hier und anderswo) einfange, kann ich dir nur voll zustimmen: Auch ich habe keine Lust, ständig mit Idioten zu diskutieren.
      Bleiben wir aber einmal konkret beim obigen Artikel, in dem ich ein sozialwissenschaftliches Experiment sowie die These einer Meinungsforscherin beschrieben habe!
      Ich hoffe, du erlaubst mir zu deinen Feststellungen einige Fragen:
      Wo teile ich hier die Tangowelt in „Gut und Böse“ ein (übrigens Begriffe, die nicht meinem Wortschatz entsprechen)?
      Kann man das Ergebnis des Experiments von Asch mit „Wer schweigt, stimmt zu“ umschreiben?
      In welcher Weise „jammere“ ich im obigen Text herum?
      Und inwiefern vermisst du in meinen Artikeln Ironie, Spott und scharfen Witz? Bist du wirklich der Meinung, Satire müsse „sachlich“ sein?
      Meinst du tatsächlich, Satire dürfe nicht angreifen?
      Du schreibst, was du selber nicht bekommst. Positiv gefragt: Welche und wie viele Kommentare kriegst du zu deinen Artikeln zum Thema Tango?
      Ich bitte wirklich darum, sich mal auf einen konkreten Artikel von mir zu beziehen. Bei über 2000 Veröffentlichungen wird es schwierig – da kann man immer irgendwelche vagen Eindrücke äußern.
      Danke und beste Grüße
      Gerhard
      P.S. Und Tucholsky erreichen wir alle nicht. Ich hoffe, du schließt dich da mit ein!

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