Ein boshafter Autodidakt

Man soll die Kritiker nicht für Mörder halten. Sie stellen nur den Totenschein aus." (Marcel Reich-Ranicki)

In gewissen Tangokreisen hat man in der letzten Zeit geradezu erbittert versucht, mir die Eignung als „Kritiker“ abzusprechen. So heißt es in einem Artikel, den Klaus Wendel verantwortet:

„In seinem letzten Artikel setzt Gerhard Riedl nochmal an. Keine Spur eines Versuches, seine Expertise als Dauerkritiker zu belegen. Stattdessen zieht er verstaubte Aktenorder aus dem Schrank oder eher Dachboden. (…) Leute, die wirklich was können – Profis, Lehrer:innen, Weltmeisterpaare – die dürfen sich von Riedl öffentlich auseinandernehmen lassen.
Aber wehe, jemand fragt mal zurück:
‚Sag mal, was qualifiziert dich eigentlich dazu?‘“

Quelle: „Epilog Drama Riedl: Vom Breitensport zum Breitmaul – wie man sich ausAltpapier eine Kritikerkarriere bastelt“

Und einer meiner Dauerkritiker schreibt in einem Kommentar:

„JA, Konzertkritiker müssen ihr Können BEWEISEN: Entweder durch ein abgeschlossenes Musikstudium oder durch ein abgeschlossenes Studium der Musikwissenschaft.“

https://www.tangocompas.co/ein-gastbeitrag-zu-unserem-thema-gerhard-riedl-von-christian-bayreuther/#comments

Sehr dankbar bin ich meiner Gattin, dass sie mir neulich ein hochinteressantes Buch von Gunter Reus empfohlen hat: „Marcel Reich-Ranicki – Kritiker für alle“.

Ich glaube, selbst wer sich hierzulande kaum mit Literatur beschäftigt, kennt diesen Namen – spätestens durch die Fernsehsendung „Das literarische Quartett“ (1988-2001). 2010 wussten nach einer Umfrage 98 Prozent der Deutschen seinen Namen.

Der Lebensweg des bedeutendsten deutschen Literaturkritikers ist atemberaubend – zusammen mit seiner Frau Teofila überlebte er das Warschauer Ghetto. 1958 siedelte er in die Bundesrepublik über, wo er als Kritiker zuerst bei der Wochenzeitung Die Zeit, dann bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung arbeitete. Die Memoiren des „Literaturpapstes“ („Mein Leben“) gerieten zum Bestseller – sie wurden 2009 verfilmt. Sehr zu empfehlen:

https://www.youtube.com/watch?v=nXT-r8ZIAdA

Der in Polen geborene Reich-Ranicki wurde von seinen Eltern zu Verwandten nach Berlin geschickt, wo er 1938 das Abitur machte. Ein Studium blieb ihm wegen seiner jüdischen Abstammung verwehrt.

Ein Literaturkritiker ohne abgeschlossene Universitäts-Ausbildung? Ja, geht denn das? Offenbar schon! Da er von Schulfesten und Freizeitveranstaltungen ausgeschlossen war, wurden für den jungen Marcel Bücher und Musik zu seiner Welt – und natürlich Theateraufführungen. 1940 wurde er ins Warschauer Ghetto umgesiedelt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Marcel_Reich-Ranicki

„Deutlichkeit ist die Höflichkeit des Kritikers“ – seinem Ausspruch wurde Reich-Ranicki mehr als gerecht. Keiner konnte wie er hochjubeln oder mit Wonne verreißen. Das brachte ihm die Todfeindschaft etlicher bekannter Autoren ein:

Peter Handke sagte, er würde den Tod Reich-Ranickis nicht bedauern. Günter Grass nannte ihn einen „schwachen Literaturkritiker“, der die „Trivialisierung der Kritik herbeigeführt“ habe. Martin Walser schrieb die Generalabrechnung „Tod eines Kritikers“. Elfriede Jelinek empfand das Urteil des Rezensenten, sie sei zwar eine tolle Frau, aber ein gutes Buch sei ihr nicht gelungen, als „größte Demütigung“ und „Verachtung“.

Erich Fried nannte den Kritiker „erbarmungslos selbstgerecht lehrhaft“, Rolf Hochhut meinte, er sei „entweder ein barbarischer Ignorant“ oder ein „bösartiger Heuchler“.

Stephan Hermlin sprach von „unqualifizierbarem Blödsinn“, und Eckard Henscheid bemühte den mir durchaus vertrauten Ageism: „Ein alter, von Bosheit beseelter Literaturkritiker wollte seine eigene Parodie schreiben“.

Im „Spiegel“ schrieb Christian Schulz-Gerstein 1978, der „furchtbare Kunst-Richter“ Reich-Ranicki pflege „seine im Befehls-Deutsch kundgetanen Richter-Sprüche“ in einem „Jargon der Unumstößlichkeit bekanntzugeben, der jede nähere Begründung bereits durch seinen herrisch-knappen Ton überflüssig zu machen scheint.“

Irgendwie kommt mir eine solche Schreibe bekannt vor…  

Dieter E. Zimmer schrieb in der „Zeit“, der Kritiker sei damals bei jüngeren Autoren so verhasst gewesen, wie man es sich heute nicht mehr vorstellen könne. Er fügte aber hinzu: „Es war ein Hass, der aus der Furcht kam, und hinter der stand auch eine Menge Respekt.“

Gerhard Roth fasste es so zusammen:

„Das Publikum, unterschiedlich an Literatur interessiert, will sehen, hören – und lesen -, wie er - hinrichtet, aufrichtet, zu Grunde richtet, abrichtet, einrichtet, verrichtet, berichtet. Es will den Daumen sehen, der hinauf oder hinunter weist, es ergötzt sich am inquisitorischen Schauspiel, an der eitlen Selbstdarstellung der Kritiker, die aus Ruhmsucht den elektronischen Jahrmarkt bedienen.“

Die wissenschaftliche Germanistik nahm den Parvenu lang Zeit nicht für voll. Da er bis in die 60er Jahre hinein nie einen Hörsaal von innen gesehen hatte, warf man ihm Dilettantismus vor. Hans Mayer, Germanistikprofessor in Hannover, schlug Reich-Ranicki vor, bei ihm zuerst einmal zu studieren und zu promovieren.

Der Hauptvorwurf war, der Kritiker schreibe „zu feuilletonistisch“ – sprich: locker vom Hocker statt in wissenschaftlichem Kauderwelsch. Doch „der hochgebildete Autodidakt stand nicht an, es den Bildungsverwaltern der germanistischen Seminare, halb mit Humor, halb mit Ranküne, heimzuzahlen.“ (Gunter Reus)

Nun gut, Reich-Ranicki erhielt dann immerhin von 9 Universitäten die Ehrendoktorwürde. Und ab 1974 eine Honorarprofessur in Tübingen.

Quelle: obiges Buch, S. 10 – 17

Ja, so kann’s gehen! Sollte jemand den Drang zu einem Kommentar verspüren, bitte ich nur herzlich, zur Wahrung meiner intellektuellen Integrität den Satz zu unterlassen: „Jetzt vergleicht er sich schon mit Reich-Ranicki!“ Das ist natürlich Blödsinn!

Ich glaube nur, dass dieser Mann das erste Gebot für jeden Autor perfekt beachtet hat: „Du sollst nicht langweilen.“ Und ich bin dem Schicksal dankbar, dass es den Nazis nicht gelang, ihn und seine Frau zu vergasen.

Fest bin ich davon überzeugt, dass die Welt ohne Amateure und Autodidakten ärmer wäre: Beispielsweise ohne den Augustinerpater und Realschullehrer Gregor Mendel, der 1866 die grundlegenden Vererbungsregeln entdeckte – 30 Jahre vor seinen wissenschaftlichen Kollegen. Oder die akademischen Außenseiter James D. Watson und Francis Crick, welche 1953 mit einem einfachen Baukasten-Modell die DNA-Struktur entschlüsselten – die Grundlage der modernen Genetik, ohne die wir nicht nur die Corona-Pandemie weitaus schlechter überstanden hätten. Oder ganz aktuell die Biochemikerin Katalin Karikó, die ihr Heimatland Ungarn verlassen musste, um wenigstens eine schlecht bezahlte akademische Stelle in den USA zu ergattern. Ihre Idee einer m-RNA-Impfung wurde von der Fachwelt als Spinnerei abgetan. Ohne ihre Entdeckung wäre die schnelle Entwicklung eines Corona-Impfstoffs nicht möglich gewesen. Inzwischen hat sie den Nobelpreis erhalten.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/04/die-unbekannten-heldinnen.html

Was haben solche Menschen den „Fachleuten“ voraus? Ich glaube, es ist der unverstellte, frische Blick auf manche Dinge, welcher den Experten durch ihre Fixierung auf tradierte Denkschemata oft fehlt. Und der Mut, zu unkonventionellen Einsichten zu stehen.

Daher werde ich auch weiterhin mit größtem Spaß gegen dicke Bretter vorm Kopf anschreiben. Auch wenn das mit dem Gnadenentzug von Experten verbunden sein könnte – mit der Betonung auf „Ex“ 

Quelle: Gunter Reus: „Marcel Reich-Ranicki – Kritik für alle“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 2020)

Kommentare

  1. Anmerkung hierzu: Watson und Crick basieren ganz wesentlich auf den Arbeiten von Rosalind Franklin, Details u.a. im Podcast https://fyyd.de/episode/1865638 nachzuhören

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    1. Ganz richtig. Frauen hatten und haben es auch in der Wissenschaft schwer. Leider ist sie schon 1958 verstorben.

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