Offener Brief an eine Tango-Newbie

Der Münchner DJ Olli Eyding veröffentlichte gestern auf Facebook den Brief einer 63-jährigen Tanguera, die vor einem Jahr über einen neuen Lebenspartner zum Tango kam. Nach eigenen Angaben stürzte sie sich begeistert in diese neue Welt. Sie nahm Privatstunden und Kurse, wagte sich nach einem halben Jahr auf die ersten Milongas, später auch auf größere internationale Veranstaltungen. Nebenbei habe das – einschließlich des Erwerbs der erforderlichen Klamotten – ordentlich Geld gekostet.

Tango sei für sie Lebendigkeit, Gefühl, Präsenz, Verführung“ – und Nähe auch zu Partnern, mit denen man nur eine einzige Tanda teilt. „Vielleicht ein Ideal der ‚klassenlosen‘ Begegnung, bei der nur die Freude am Tanzen verbindet?“

Was folgt, ist eine harte Abrechnung:

Warum so selten in München?

Allerdings musste ich in München die bittere Erfahrung machen, dass ich als Neuling und älteres Semester kaum Chancen habe. Wenn nicht mein Freund mit mir tanzt, sitze ich in der Regel am Rand, eine unter vielen. Der große Frauenüberschuss macht auch jüngere, hübschere und vor allem wesentlich bessere Tänzerinnen zu Zuschauerinnen. Im Laufe des Abends wird aus Vorfreude Enttäuschung, aus dem Wunsch nach Leichtigkeit Schwere…

Warum dürfen nur Männer auffordern? Das entspricht nicht mehr unserer Zeit. Wenn ich Frauen außerhalb der Tangoszene von meinen Erfahrungen erzähle, sind sie entsetzt. Wir werden, ohne es zu wollen, zu Konkurrentinnen. Dort, wo es anders gehandhabt wird (z.B. bei den Veranstaltungen von Tango Oberland), ist die Atmosphäre deutlich entspannter.

In München ist die Stimmung meist ernst, man hört selten ein Lachen. Mit strengen Gesichtern wird getanzt und gezeigt, was man kann. Gruppen bleiben unter sich… Ich sitze dann eingeschüchtert auf meinem Stuhl. Manchmal ‚erbarmt‘ sich jemand und fordert mich auf. Wenn ich dann schuldbewusst gestehe, dass ich noch nicht lange tanze, bekomme ich zu hören: ‚Du bist aber mutig (Subtext ‚frech‘), ich habe mich erst nach zwei oder drei Jahren Übung in die Öffentlichkeit getraut!‘

Eine gänzlich andere Erfahrung: Bei dem Encuentro in Teneriffa kamen tolle Tänzer aus der ganzen Welt. Ich habe mit nahezu allen mehrfach getanzt, obwohl auch hier keine Damenwahl stattfand. Sie haben mit feinem Gespür geführt, mir die Unsicherheit genommen und ich konnte mich fallen lassen und genießen. Natürlich hat jeder gemerkt, dass ich noch nicht lange dabei bin, aber alle sind auf eine zuvorkommende Art damit umgegangen und haben mich mit großer Gelassenheit integriert. Ich habe viel gelernt und war glücklich.

Ähnliche Erlebnisse hatte ich auch im Münchner Umland: in Schongau, Kolbermoor, Augsburg … Warum so selten in München?

Warum können wir hier nicht einfach unabhängig von Geschlecht, Alter und Können Spaß miteinander haben?“

Tja – vielleicht, weil die Welt, auch die des Tango, kein Ponyhof ist?

Liebe Tango-Newbie,

ich fürchte, da sind Sie halt auf die zuckersüße Werbung hereingefallen, die man überall im Netz finden kann: Der Tango als Substitution all dessen, was einem ansonsten fehlt. Achtsames, sensibles Personal, so weit das Auge reicht… Aus langjähriger Erfahrung weiß ich: Wer in diesem Tanz auf Widersprüche hinweist, wird als Renegat attackiert oder ignoriert.

Die gibt es aber. Gerade auf Großstadt-Milongas dominiert oft ein arrogantes Pack, welches den Tango per Machtspiele zur eigenen Persönlichkeits-Aufwertung missbraucht. München ist da mit seinen „Frischfleisch-Börsen“ nur ein (allerdings eindrucksvolles) Beispiel. Ich habe das in über 30 Artikeln dokumentiert. Sie können ja mal nachlesen:

https://milongafuehrer.blogspot.com/search/label/M%C3%BCnchner%20Tango

Pardon, aber Sie stellen in Ihrer Tangoentwicklung den (in der Mehrzahl weiblichen) „Klassiker“ dar:

„Hunderte von Malen hatte ich es erlebt, wie dieses mit Pferdeschwänzen und geschlitzten Röcken aufgebrezelte ‚Glückspaket Tango‘ an der Basis, also bei den Lernenden ankam, sie in die Flugbahn von höchster Verzückung bis zu vernichtender Bruchlandung katapultierte.“

https://www.youtube.com/watch?v=6RHg4ZoRJHA

So beschrieb ich das schon vor zehn Jahren in meinem Tangobuch. Das Werk wird Ihnen niemand empfohlen haben – ist schon klar…  

Wenn ich Ihren Brief lese, frage ich mich schon, ob denn im 21. Jahrhundert die gebückte Haltung immer noch ein Geschlechtsmerkmal darstellt. „Schuldbewusst“ gestünden Sie fremden Partnern, dass Sie noch nicht lange tanzten. Wieso eigentlich? Wie Ihre Tangokarriere bislang verlief, geht den Kerl einen Dreck an! Und wenn er beim Tango übers Schwimmen auf der Brennsuppe hinausgewachsen sein sollte, weiß er es eh längst oder merkt es bei den ersten Schritten.

So what? Sie haben (meist) den gleichen Eintritt bezahlt wie alle anderen – und zwar für eine Tanzveranstaltung und nicht ein Schaulaufen eingebildeter Großstadt-Gecken! Welchen Grund haben Sie, „eingeschüchtert“ auf Ihrem Stühlchen zu verharren? Gehen Sie auf die Leute zu, reden Sie mit Ihnen – und ja: Bitten Sie gerne auch Männer um einen Tanz! Und wenn einer ablehnt, wäre meine Reaktion: „Traust dich wohl nicht, gell?“

Ihre Frage „Warum dürfen nur Männer auffordern?“ zeigt mir, dass Sie mit der konservativen Tango-Ideologie noch nicht vertraut sind. Schließlich löse ja der Blickkontakt (Mirada / Cabeceo) alle einschlägigen Probleme. Dass er dies nicht tut, ist in diesen Kreisen ein streng gehütetes Geheimnis: Als Mann muss man ja einfach nur wegschauen, um sich lästige Weiber vom Hals zu halten. Und nein – auf Encuentros gibt es „keine Damenwahl“! Ein Gag aus der Sonderklasse – you made my day…

Im Ernst: Von wem lassen Sie sich denn sagen, was Sie im Tango dürfen"?

Und, liebe Newbie, wenn wir schon dabei sind: Warum veröffentlichen Sie eigentlich Ihr Statement nicht unter Klarnamen? Stattdessen muss es ein Mann für Sie tun. „Das entspricht nicht mehr unserer Zeit“, schreiben Sie in Ihrem Text. Ich darf Ihnen dieses Zitat zurückgeben: Glauben Sie wirklich, die Emanzipation macht Fortschritte, wenn Sie sich im Hintergrund halten und es den Männern überlassen, für Sie zu agieren?

Worüber ich ebenfalls seit vielen Jahren grüble:

Gerade an größeren Orten gibt es gehäuft Milongas, wo man als Anfängerin – zumal, wenn man schon etwas älter ist – eigentlich nur zerschellen kann. Man darf froh sein, wenigstens nur ignoriert und nicht auch noch dumm angeredet zu werden. Dennoch rennt gerade dieses Tango-Segment haufenweise zu solchen Veranstaltungen. Wenn dann das erwartbare Ergebnis eintritt, ist man schwerstens enttäuscht.

Das erinnert mich an einen meiner Lieblingswitze: Im 2. Weltkrieg werden amerikanische Soldaten über die Gefahren bei der Landung auf japanischen Inseln instruiert: scharfkantige Riffe, Haie, Schlangen und vieles mehr. Daraufhin fragt ein Rekrut: „Warum lassen wir dann diese Inseln nicht den Japanern?“

Liebe Tango-Newbie,

genau das rate ich Ihnen auch: Überlassen Sie doch den abgehobenen Tango-Klüngel sich selber! Die werden Sie nicht überzeugen oder gar ändern können. Man kann ihnen höchstens das Publikum entziehen, welches sie nämlich dringend benötigen.

Und sehen Sie sich genauer um: Es gibt genug kleine Milongas – in der Vorstadt oder sogar auf dem Dorf – wo man froh ist, wenn überhaupt jemand kommt. Dort dürfen Sie auch in Jeans und Sneakers erscheinen – und kommen meist mehr zum Tanzen als bei den Edlen und Schönen. Vielleicht sogar zu einer Musik, welche Sie auf Dauer mehr inspiriert. Auch, wenn Sie weiter fahren müssen. Aber keine Angst: Bis nach Teneriffa wird es nicht gehen. Voraussetzung ist jedoch, dass es Ihnen nur ums Tanzen und nicht um den Glamour geht.

Wenn Sie dazu Tipps brauchen, könnte ich Ihnen meine neue Facebook-Gruppe empfehlen: https://www.facebook.com/groups/709302360797483

Aber bedenken Sie: Auch die vorstehenden Ratschläge kommen von einem Mann! Es wird Ihnen also nicht erspart bleiben, Ihre eigenen Erfahrungen zu machen.

Vor vielen Jahren habe ich einmal geschrieben: „Tango ist eine Lupe. Wer durchguckt, ist selber schuld.“ Ich fürchte, das gilt immer noch.

Mit den besten Wünschen für Sie und Ihren Tango

Ihr Gerhard Riedl

Quelle: https://www.facebook.com/olli.eyding/posts/pfbid02iaFRbSGUDBfvwSYxkYxcvygn5b2YKbs7CEtsbw1JXfJ7nUKqdpLwRfZ2PV6tASZGl

Kommentare

  1. Dem kann ich nur zustimmen!
    Dazu eine kleine Geschichte von unserer letzten (kleinen) Milonga: zu spätere Stunde tauchte ein Paar auf, das ich als super mutig bezeichnen möchte. Wobei es als Paar natürlich einfacher ist, weil das Problem des aufgefordert-werdens wegfällt. Nach nur 6 Unterrichtsstunden trauten sie sich tatsächlich auf eine Milonga und zogen tapfer in offener Übungshaltung gehend ihre Runden. Soviel Mut wollten wir als Veranstalter anerkennen und die beiden in ihrem Tun bestärken. Also zeigte mein Partner ihr, was sie auch als Anfängerin mit entsprechender Führung schon alles tanzen kann, und ich zeigte ihm, dass es einem auch mit simplen Schritten nicht langweilig werden muss.
    Noch ein paar Tipps zur Haltung und die Aufklärung, dass es im Tango nicht um das Abtanzen von Figuren, sondern um das Hören der Musik geht, haben die beiden sicher ein gutes Stück weiter gebracht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die beiden weitertanzen werden und dass sie sich jetzt eher trauen wird, auch mit besseren Tänzern zu tanzen, ohne sich zu entschuldigen.
    Aber so etwas wird mit Sicherheit nicht auf einer der größeren, traditionellen Milongas passieren.

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    1. Das glaube ich auch nicht!
      Wir haben das mit dem Anfängerpaar bei euch noch mitgekriegt, und ich fand das ebenfalls sehr mutig von den beiden. Schön, dass ihr euch um sie gekümmert habt!

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  2. Im Indochina-Krieg ging es nicht um USA und japanische Inseln, sondern um Frankreich und was man später als Vietnam bezeichnete. Auch nicht zu verwechseln mit dem Vietnamkrieg. Oder dem 2. Weltkrieg im Pazifik. Macht aber nichts, ich habe deshalb trotzdem über Dich gelacht. Vielleicht auch gerade deswegen.

    Herzlicher Lacher von
    Tobias Conrad aus Berlin

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    1. Lieber Tobias Conrad,

      seit langer Zeit schon bin ich sehr beruhigt, was das Auffinden von sachlichen Fehlern in meinen Texten betrifft: Sollten sie trotz meiner intensiven Recherchen einmal passieren, weiß ich doch, dass aufmerksame Leser (ich gendere das bewusst nicht) meine Aussagen mit dem Finger an der Zeile nachprüfen.
      Daher meinen herzlichen Dank - ich habe den Lapsus natürlich sofort korrigiert. Er hätte ja die Gesamtaussage meines Artikels verändert.
      Was wären wir ohne Berlin - da würde doch nix mehr funktionieren...

      Beste Grüße
      Gerhard Riedl

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    2. Ich denke, dass der durchschnittlich gebildete Mitteleuropäer durchaus den Unterschied zwischen Indochina-Krieg und Zweitem Weltkrieg im Kopf parat hat - auch ohne "aufwändige Recherchearbeit".

      Meine Freundin Ines (ebenfalls aus Berlin, vielleicht kennst Du sie ja?) hat mir erklärt, warum das Dein Lieblingswitz sein muss: Wenn Du anfängst, dass US-Soldaten im Indochina-Krieg eine japanische Insel erobern sollen, brüllen alle Zuhörer schon los, und Du freust Dich über Deine grossartig humorvollen Beitrage und deine satirische Ader.

      Ich fürchte, mit der spöttischen Aussage über funktionsgestörte Berliner hast Du ein übles Eigentor geschossen. Ich hoffe, Du musst heute nicht -in deinem Alter- auf dem Bettvorleger übernachten.

      Ines meinte übrigens, nachdem sie sich von ihrem Lachkrampf erholt hatte: "Dass er von Geschichte nichts versteht, ist mir neu. Vom Tango -das wusste ich ja schon."

      In diesem Sinne, vielen Dank für das Amüsement!

      Tobias

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    3. Lieber Tobias,
      es freut mich immer, wenn sich Menschen über meine Artikel amüsieren. Warum auch immer, und ob sie die Gags wirklich verstanden haben – da bin ich großzügig.
      Mit den Recherchen habe ich mich nicht speziell auf den Indochinakrieg bezogen. Aber klar, der durchschnittlich gebildete Mitteleuropäer hat sowas parat – und erst gar der Berliner bei der bekannt hervorragenden Bildungspolitik!
      Falls mit „Ines“ die Frau Moussavi gemeint ist, ahne ich schon den Hintergrund, der zur akribischen Suche nach Fehlern geführt hat. Ja, die Dame werde ich nicht mehr gnädig stimmen können, da sie meine Artikel kaum einmal lustig findet – zumal, wenn sie betroffen ist. Umso mehr freue ich mich, dass sie sich nun doch mal amüsieren kann. Das sei ihr, da selten, von Herzen gegönnt!
      Das mit dem Bettvorleger kapiere ich ehrlich nicht. Meine Angetraute ist gebürtige Hessin (Wiesbaden) und hat lange Zeit in München gelebt. Aber ich muss ja auch nicht alles verstehen.
      Beste Grüße
      Gerhard Riedl

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  3. Andreas Lerner Ich kann dem, was Sie, lieber Herr Riedl schreiben, nur zustimmen. Und auch als nur mäßig fortgeschrittener Tangotänzet weiß ich doch, dass jeder, der mit einer Anfängerin tanzt, noch etwas dazu lernt - und sei es nur, sich auf eine präzise klare Führung zurückzubesinnen. Und wer glaubt, zu gut dazu zu sein, mit einer Anfängerin zu tanzen, sollte nochmal über seine Kenntnisse nachdenken ... Wer wirklich gut führen kann, kann auch eine Anfängerin in Höhen führen, die diese niemals für möglich gehalten hätte! Wer tanzen kann, muß nicht eingebildet sein - wer eingebildet ist (sein muß) , kann nicht wirklich tanzen. In diesem Sinne wünsche ich den Damen Mut, sich selbstbewußt ins Getümmel zu begeben!

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    1. Lieber Andreas Lerner,

      so sehe ich das auch: Mit einer erfahrenen Tänzerin kann es jeder - aber es mit Anfängerinnen hinzukriegen, erfordert einiges an Routine, Übersicht und Sensibilität. Kann ich nur jedem Tänzer empfehlen!

      Danke und herzliche Grüße
      Gerhard Riedl

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  4. Auf der FB-Seite von Olli Eyding kam es gestern zu einer interessanten Diskussion mit einer weiblichen Tangogröße aus München. Fazit: Es sei den Frauen beim Tango ja gar nicht verboten, aufzufordern:
    „Frauen DÜRFEN sehr wohl auffordern. Ob verbal, mit Cabeceo oder Mirada sei mal dahingestellt. Aber DÜRFEN tun sie es...“
    Na, dann wollen wir mal das Beste hoffen. Ich fürchte nur, dass verbale Tanzeinladungen in gewissen Cliquen dazu führen könnten, die entsprechenden Damen hinfort zu ignorieren.
    Aber gut: Besser ein Lippenbekenntnis als gar keines.
    Ich schrieb dazu:
    „Entweder ihr etabliert im Tango endlich eine wirkliche (und nicht nur behauptete) Willkommenskultur, oder ihr habt solche Beschwerden weiterhin an der Backe. (…) Aber mir kann es ja eigentlich egal sein, weil ich mit dem Tango kein Geld verdiene. Könnte aber sein, dass Frauen nach solchen Erfahrungen aufhören, Milongas zu besuchen und Kurse und Privatstunden zu buchen.“

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