Darf man beim Tango lachen?
Beim Anblick der ernsten Mienen, welche gerade bei „traditionell“ Tanzenden offenbar zum Standardrepertoire gehören, könnte man es bezweifeln.
Und mit dem Begriff „Spaßfaktor“, welcher für mich mit mindestens 51 Prozent zum Tango gehört, habe ich mir bereits beim seligen Cassiel einen Rüffel abgeholt:
„Neben der unklaren Standortbestimmung durch den Autor selbst (das Sachbuch eines Nicht-Experten) ist mir dann noch die Vokabel Spaßfaktor (Seite 310) äußerst unangenehm aufgefallen. Vielleicht offenbare ich mich jetzt hier als altmodischer Tanguero und werde ganz schnell mit einer zwei- oder dreistelligen Buchstabenkombination in eine Schublade sortiert, aber für mich fehlt in dem Buch ein Bezug zum melancholischen Aspekt im Tango oder vielleicht stärker noch: Der Philosophie im Tango. Das ist für meine Begriffe fast zur Gänze ausgeklammert.“
https://tangoplauderei.blogspot.com/2010/09/gerhard-riedl-der-groe-milonga-fuhrer.html
In einem Facebook-Forum für Tango-DJs beleuchtete ein Autor das Thema vor drei Tagen allerdings von der gegensätzlichen Seite:
„Humor im Tango
Für manche ist der Tango eine traurige Musik, die an Depression grenzt.
Dieser Eindruck entsteht oft durch mangelnde Kenntnis dieser Kultur, oder zumindest durch die Betrachtung eines zu kleinen Teils des Repertoires.
Wenn ich meine Sammlung durchsehe, erkenne ich etwa 200 Titel, die eindeutig als humorvoll, ja sogar an eine Farce grenzend, einzustufen sind.
Natürlich ist Humor nicht universell, und was die Argentinier in den 40er Jahren zum Lachen brachte, ist wahrscheinlich nicht das, was einen Europäer heute zum Lachen bringt.
Als DJ ist es eines der Ziele, dass die Leute Spaß haben. Ich weiß, dass meine Arbeit erfolgreich ist, wenn die Leute lächeln oder sogar lachen.
Viele Milongas sind zum Tanzen komisch, aber auch manche Walzer und Tangos entbehren nicht des Humors. Auch dieser liebe Pugliese hat einige lustige Aufnahmen gemacht.
Der DJ spielt mit Gefühlen, um zwischen fröhlichen Tandas und anderen, die romantischer oder sogar traurig sind, abzuwechseln, aber in Maßen, die Tänzer sind da, um Spaß zu haben, nicht um sich die Adern aufzuschneiden.
Dies ist auch ein großer Unterschied zwischen den Milongas in Europa und denen in Buenos Aires. In den ersten nehmen wir uns selbst ernst, in der zweiten kommen wir, um uns zu amüsieren. Vielleicht ist es diese Art von Einstellung, die einige europäische DJs dazu veranlasst, ein nicht sehr euphorisches Repertoire zu wählen.
Mit mehr als 20 Jahren Erfahrung in diesem Bereich kann ich bezeugen, dass selbst in den ernsthaftesten Encuentros Humor seinen Platz hat, und dass die Tänzer im Endeffekt Unterhaltungsmusik zu schätzen wissen, auch wenn ihr Anteil bei dieser Art von Veranstaltungen wahrscheinlich geringer ist.
Das Leben ist zu kurz, um es durch Traurigkeit zu ruinieren, die Milonga ist ein Fest, und zu vergessen, dass der Tango vor allem eine populäre Unterhaltung ist, ist meiner Meinung nach ein Fehler.
Ich denke, ich werde einen Artikel zu diesem Thema für meinen Blog schreiben, denn es macht mich traurig, Tänzer zu sehen, die sich mit deprimierten DJs langweilen. Letztere denken, dass es ihnen gut geht, aber auf diese Weise verkaufen sie die Seele des Tangos, und das ist eine Schande.
Zwischen der Vulgarität eines Rodriguez, der nostalgischen Freude eines Firpo, der euphorischen Energie eines D'Arienzo oder dem Eklektizismus eines Canaro gibt es viel zu tun.
Lasst uns über den Tango lachen!“
https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum
Der streitbare Klaus Wendel hat dies mit einer Ruhrpott-Metapher noch deutlich schärfer formuliert:
„Da sind zum Beispiel Vokal-Tangos, also
gesungene Titel: Meistens melancholische, vor Selbstmitleid triefende Texte,
die man angeblich – das ist der Gipfel – inhaltlich verstehen sollte, um sie
gut tanzen zu können. Also muss ich erst in die Seele eines verlassenen Mannes
in Buenos Aires hinein fühlen, um mich überhaupt auf die Tanzpiste wagen zu
dürfen? Nein danke.
Selbst die die Sänger begleitende Musik steht oft im krassen Kontrast zu den
traurigen Texten. Beim Hören dieser Tangos überkommt mich ein Gefühl, das mich
an einem Montagmorgen, im verregneten November, in einem Fahrschacht einer
Kohlenzeche, abwärts Richtung 5. Sohle wähnt; trauriger gehts nimmer. (…)
Ich habe eine schwarze Liste von DJs, die mir in dieser Hinsicht schon ganze Abende verdorben haben.“
https://www.tangocompas.co/baeume-und-waelder/
Wobei ich anmerken möchte: Die Fröhlichkeit im Tango sollte sich nicht in lautem weiblichem Gegacker und Gekreische neben der Tanzfläche äußern. In dem Fall hätte ich nichts gegen die Einfahrt auf die 5. Sohle eines stillgelegten Bergwerks.
Ein Tangofreund berichtete mir einmal von einem Tanzstudio, in dem es zwei getrennte Räume für Salsa und Tango gab. Die Unterscheidung sei ganz einfach: Den Tangosaal erkenne man daran, dass dort nie gelacht werde.
Wer hat nun recht? Glücklicherweise stieß ich auf meiner Suche auf ein YouTube-Video, in dem uns die Schauspielerin Sophie Adell, ihres Zeichens auch „Red Carpet Reporterin“, den Tango erklärt. Ich darf mal zitieren:
„Beim Tango ist es so: Tango ist eine ganz ernste Sache. Beim Tango darf man nicht lachen. Und wenn man in ein Tango-Lokal geht, zum Beispiel in La Boca – in La Boca ist der Tango entstanden. La Boca war das Viertel der Huren und der Zuhälter. In La Boca entstand der Tango als unanständiger Tanz und wurde dann nach Paris exportiert – und erst, als er in Paris aufgenommen wurde als Kunstform, wurde er auch in Argentinien populär. Also, wie immer, man ist nie ein Prophet im eigenen Land. (…)
Jedenfalls ist es so, dass man beim Tango nicht tanzen… nicht lachen darf – und selbst wenn man Gast in einem Lokal ist, wo Tango getanzt wird, und man als Gast lacht, gilt das als extrem unhöflich, und die Tänzer dürfen sowieso nicht lachen. Es ist ein todernster Tanz, und es ist ein Tanz zwischen Zuhälter und Hure. Das ist die Ursprungswurzel des Tangos argentino.“
Auf dem Video tanzen dazu Fabián und Michaela Lugo auf einem „Reitplatz“.
Wahrscheinlich sollte ich keine Satiren mehr schreiben – andere können das einfach besser...
Zudem erhalten wir geografische Informationen zur Wiege des Tango:
„Und der Rio de la Plata ist… ähm… ein Dreieck, das so auseinandergeht… Der Rio de la Plata ist ein riesiges Delta. Man kann kaum vom einer Seite des Rio de la Plata zur anderen gucken, also es ist beinahe so, als würde man übers Meer gucken (…) Rio de la Plata ist der breiteste Fluss der Welt, weil er dieses riesige Delta hat. Und in diesem Delta liegt La Boca, der Ursprung des Tangos, wo nicht gelacht werden darf.“
Klar, in einem Flussdelta würde ich auch nicht lachen. Glücklicherweise ist der Rio de la Plata keines, sondern der Mündungstrichter der beiden Flüsse Paraná und Uruguay. Daher kann man tatsächlich über einen Meeresarm schauen.
https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%ADo_de_la_Plata
https://de.wikipedia.org/wiki/Flussdelta
Hier das Video – aber bitte ernst bleiben!
https://www.youtube.com/watch?v=M5l1BDappdE
Worüber ich noch lange grübeln werde: Wie kam es zu dem Freudschen Versprecher, man dürfe beim Tango nicht tanzen? Vielleicht hat man doch zu häufig über die „Untanzbarkeit“ vieler Stücke debattiert?
P.S. Nicht nur im Tango können Tanzverbote zu heftigen Auseinandersetzungen führen. Hier eine analoge Debatte zwischen den Rappern „Tanzverbot“ sowie „Scurrows“ und „Orangemorange“. Wie üblich hat sich einer beleidigt gefühlt. Büßen müssen es mal wieder die Frauen:
https://www.youtube.com/watch?v=zXgq_ky5mHc
"Büßen müssen es mal wieder die Frauen", naja, sie hat sich doch selbst in die quasi "Schusslinie" gestellt und aus Versehen vom Aggressivling was abgekriegt. Jeder Mann würde man in so einem Fall ein "selber schuld" gesagt bekommen.
AntwortenLöschenKlar, sie hat sich eingemischt, warum auch immer. Basis der Aggression waren jedoch - wie meist - rivalisierende Mannsbilder.
LöschenNaja, ich brauch dir als ehemaligem Biologielehrer nicht erzählen, dass Männer häufiger direkte Aggressionen einsetzen (u.a. auch um "ihre" Frauen zu beeindrucken. Zumindest um das zu versuchen), und dass Frauen eher "hinterrücks" agieren (also versuchen ihre Feindinnen sozial zu vernichten).
LöschenVon daher: nichts, was irgendwie überraschend wäre ...
Da geben sich beide Geschlechter nichts, sie verwenden nur unterschiedliche Verfahren.
Immerhin übertreten die Frauen bei ihrem aggressiven Verhalten viel seltener die Gesetze. An die 95 Prozent der Gefängnisinsassen sind männlich. Insofern bin ich für die "unterschiedlichen Verfahren" bei den Damen durchaus dankbar.
LöschenBeim Video von Sophie Adell musste ich an Gerhard Polt denken. Im "Abfent" wird der "Gschwendnerbauer" von einer Reporterin über die traditionelle Tradition des Advent interviewt, und sie stellt zum Schluß fest "ah, sie nehmen das ernst" ...
AntwortenLöschenAber ich fürchte, Fr. Adell meinte ihren Sermon tatsächlich ernst ...
Na gut, irgendwann kichert sie auch...
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