Liebes Tagebuch… 68

Ich werde nicht verraten, auf welcher Milonga ich neulich das folgende Schlüsselerlebnis hatte – schon deshalb, weil es viele Gelegenheiten gäbe, solches zu erfahren.

Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich einen DJ erlebe, der halt brav und konservativ auflegt, weil das der Gastgeber so möchte – obwohl ich ahne oder manchmal sogar weiß, dass ihm ein anderes Musikprogramm besser gefiele.

Auf seiner Website lässt der Veranstalter auch wenig Unklarheiten, welches Tangosegment er bedient haben möchte:

„Trotz immer weiter entwickelter Tanztechnik bleibt das Herz dieses Tanzes sicherlich die Musik aus den 30er bis 50er Jahren. In diesem „goldenen Zeitalter“ des Tango gab es v.a. in Buenos Aires eine unglaubliche Vielzahl von Orchestern mit den erfahrensten und kreativsten Musikern. Die Pflege dieser alten, für die Tänzer unerhört reichhaltigen Tangos liegt uns genauso am Herzen wie die innige Verbindung zwischen den Tanzenden, die es so nur in unserem Tanz gibt. Gerne betonen wir, dass unser Tanz nicht nur ein Paar-, sondern ein Gesellschaftstanz ist, bei dem eine gewisse Etikette das Leben der Tänzer sehr viel angenehmer gestaltet.“

Im vorliegenden Fall habe ich über den Geschmack des DJs kaum Zweifel, weil ich ihn von früher kenne. Er hatte beim gleichen Gastgeber einige Male mit durchaus auch modernen Zügen aufgelegt – und dann lange nicht mehr. Über den Grund kann man mit Recht spekulieren.

Nun also die Neuauflage: Leider waren die ersten zwei Stunden nicht gerade berauschend. Bei den zumeist langweiligen Klängen taucht bei mir mental stets meine Wohnzimmer-Couch auf, die mir zuruft: „Warum hats du mich verlassen? Du hättest es bei mir so schön haben können!“

Bei schleppenden Rhythmen und schwermütig knödelnden Tenören fühle ich halt mein wahres Alter, und nach dem müsste ich längst zu Hause sein. Und es ist angenehmer, beim Fernsehkrimi einzupennen als auf einer Tangoveranstaltung – noch dazu mit der Aussicht auf eine Stunde Heimfahrt.

Meine Gattin, die meine Seelenzustände kennt, riet mir: „Wir müssen es ja nicht so langweilig tanzen, wie es sich anhört – mach einfach mehr aus der Musik!“

Tja, gut gesagt – doch inzwischen hatte sich das Parkett mit einer umfangreichen Rentnertruppe gefüllt, welche nicht nur wenig tanzen, sondern auch überhaupt nicht navigieren konnte. Erwartet man von einer Fliege im Sirup eigentlich auch Kunstflüge?

So beschlossen wir, noch eine Schlussrunde zu absolvieren und dann die Rückfahrt anzutreten. Doch was war das? Nach fast zwei Stunden pfefferte uns der DJ abrupt einen emotionalen Paolo Conte vor die Füße, gefolgt von zwei weiteren modernen Stücken, welche in manchen Kreisen sicherlich als „Non Tangos“ bezeichnet würden! Hinterher gab es dann noch eine eine Tanda mit fetzigen Milongas, die wir uns gleichfalls nicht entgehen ließen. In der Gewissheit, dass es nun kaum noch besser, wahrscheinlich aber wieder schlimmer werden würde, setzten wir danach zum Abflug an.

Mein Schlüsselerlebnis: Plötzlich war das Parkett nur noch halb so dicht besetzt – und die verbleibenden Paare konnten einigermaßen tanzen und auch navigieren! Insbesondere die Herrschaften, welche ich bereits vorher dem Encuentro-Sektor zugeordnet hatte (erkennbar am halbminütigen Gequatsche zu Beginn jedes Stückes) blieben selbstverständlich sitzen!

Wie schön: Wir konnten die Musik tatsächlich austanzen! Wahrlich: Da kann die Hälfte doppelt so gut wirken!

Im Auto sagte ich zu meiner Frau: „Warum hat der DJ solche Runden nicht schon viel früher gespielt? Mit etwas Glück wären bestimmte Leute dann wieder gegangen!“

Damit man mich nicht missversteht: Ich plädiere keineswegs für deren Ausgrenzung. Aber ich halte es ja auch mal zwei Stunden aus, dass man Titel aus dem Schrammel-Segment auflegt! Dann wäre den tangomäßig Andersgläubigen auch zuzumuten, jede zweite Tanda mit modernerer Musik zu ertragen.

Erfahrungsgemäß täten sie das aber nicht. Die Toleranz ist auf diesem Sektor nur in homöopathischer Verdünnung zu finden. Na gut, dann hätten Menschen wie ich, welche keinen Wert auf Förderschulmusik legen, ein wenig mehr Platz und wären von Leuten umgeben, die mit „schwierigerer“ Musik umgehen können. Und ich halte jede Wette: Mittelfristig würden solche „Verluste“ durch jüngere Gäste ausgeglichen, welche Spaß daran haben, sich etwas heftiger und emotionaler zu bewegen.

Und streng „traditionelle“ Milongas, das wage ich vorherzusagen, würde es immer noch genug geben.

Ich habe jedenfalls die Nase voll davon, dass ein DJ – und das oft genug entgegen den eigentlichen Vorlieben – zunächst stundenlang das konservative Lager ruhigstellt, bis wir modernen Tänzer kurz vor Mitternacht huldvoll noch mit dem einen oder anderen Leckerli getröstet werden!

Was kann man in solchen Fällen tun? Mit dem Veranstalter reden? Aber in welcher Sprache? Oder es dem DJ sagen? Ich fürchte nur: Der weiß es eh. Manche Aufleger können mehr als sie dürfen.

Manchmal wünsche ich mir, ich könnte eine musikalische Darbietung derartig wundervoll ruinieren wie der Musikkabarettist Victor Borge:


https://www.youtube.com/watch?v=2KwU34lEvmg

P.S. Die Sopranistin singt Caro nome che il mio cor" ( Lieber Name meines Herzens") aus der Oper Rigoletto" von Guiseppe Verdi.

Kommentare

  1. Tja, man weiß es halt nicht. Vielleicht wollte der DJ auch ausprobieren was passiert, wenn er Paolo Conte spielt. Jetzt weiß er es, er verprellt die Hälfte der Tänzer. Gegen Ende des Abends kann das ja durchaus beabsichtigt sein, von einer flotten Milonga-Tanda flankiert werden, damit der Laden zugeschlossen werden kann.

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    1. Du verwechselst Quantität mit Qualität.
      Vorher hat der DJ auch einen Teil der Gäste "verprellt", die gerne auf interessantere Musik getanzt hätten. Nur macht diese Fraktion meist gute Miene zum bösen Spiel und tanzt zu dem Zeug.

      Nebenbei: Ich kenne den DJ. Der muss nix "ausprobieren", sondern hat einen guten Überblick zu den unterschiedlichen Arten von Musik. Was ihn von vielen seiner Kollegen unterscheidet.

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  2. Aus Veranstalterkreisen erhielt ich heute via Facebook den folgenden Kommentar:

    „Doch doch, das ist schon erkennbar. Von uns gabs da keine Vorgaben. Dieser DJ hat nach eigenem Bekunden seine eigene Fanbase, die auch tatsächlich da waren und genau das toll finden...“

    Meine Antwort darauf war:

    „Dann scheinen die einen ziemlich unklaren Geschmack zu haben...

    Aber gut, danke für die Info. Ich werde sie (ohne Namensnennung) noch als Kommentar auf meinem Tangoblog veröffentlichen.

    Ich rätsle nur, warum dieser DJ deutlich unter seinen Möglichkeiten auflegt.

    Ansonsten: Erkennbar war der Ort höchstens für die, welche anwesend waren – und Paolo Conte erkannten. Dürfte sich also um eine ziemliche Minderheit handeln.“

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  3. Mir ist nicht klar geworden, wer darüber befinden soll, was für Milongabesucher interessant ist und ob ihr Tanzmusikgeschmack Qualität oder Anspruch oder Klarheit hat.

    Aber in Deinem Tagebucheinrag 36, 2017, schreibst Du schon:
    "Und man braucht als DJ einen Veranstalter, der zu einem hält und sich nicht verrückt machen lässt. Dann haben auch Milongas mit vielfältiger, abwechslungsreicher Musik großen Zulauf. Ich verfolge gerade mehrere Beispiele aus meiner engeren Umgebung."
    Gut fünf Jahre sind vergangen - was ist denn aus diesen Milongas geworden?

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    1. Manche davon gibt es noch, andere nicht mehr. An der Musik lag es nach meinen Erkenntnissen nicht. Ein Veranstalter ist verstorben, ein anderer ins Ausland verzogen. Und es sind neue, sehr interessante Milongas entstanden - ich habe davon berichtet.

      Das Befinden darüber, welche Musik die genannten Bedingungen erfüllt, liegt natürlich beim DJ. Ich kann nur empfehlen, sich bei möglichst unterschiedlichen Stilen und Epochen der Tangomusik zu bedienen. Dann sollte für jeden und jede etwas dabei sein.

      Und wer sich empört, dass er sich mal nicht konvenierende Musik anhören muss, wäre für mich ein Gast, auf den ich gern verzichte.

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    2. Wenn in der Diaspora nur eine Milonga weit und breit veranstaltet wird, dann scheint es mir gegebenfalls geboten, die Musik breit zu fächern.

      In den Ballungsräumen kann man m.E. auch Milongas mit unterschiedlichem Profil anbieten oder wechselnde DJs mit unterschiedlichen Stilen einladen.

      Der freie Markt wird's letztendlich regeln, wenn auch nicht ohne kleinere oder kleinliche zwischenmenschliche Dramen.

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    3. Aha, „Diaspora“ also… Sind die Anhänger einer bunteren Tangomusik tatsächlich als Minderheiten über alle Lande verstreut? Dann gilt das generell – nicht nur fürs flache Land.
      https://de.wikipedia.org/wiki/Diaspora

      Von mir aus darf man überall „Milongas mit unterschiedlichem Profil anbieten oder wechselnde DJs mit unterschiedlichen Stilen einladen“.

      Nur hat das oft wenig mit „freiem Markt“ zu tun. Im Tango erleben wir derzeit eine DJ-Schwemme – verständlich, da es sich um eine Tätigkeit handelt, mit der man sich in der Szene gewaltig wichtigmachen kann, ohne irgendeine Qualifikation nachweisen zu müssen.

      Da weiß natürlich jeder DJ: Wenn er nicht nach den Vorstellungen des Veranstalters auflegt, wird er nie mehr eingeladen. Es gibt ja genug andere.

      Da wünscht man sich fast die „staatlich geprüften Schallplattenunterhalter“ aus DDR-Zeiten zurück. Die mussten zwar auch nach Vorgaben auflegen, dafür aber wenigstens unterhaltsam sein.

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    4. Zuerst mal müssen ja Veranstalter schauen, dass sie hinreichend Teilnehmer haben, auch um zumindest die Kosten zu decken. Und klar, in drei Jahrzehnten sind die technischen Hürden für DJs ständig gesunken, insbesondere muss niemand mehr langwierig Tango-CDs sammeln.

      Wenn ohne DJ so viele Gäste kommen wie mit DJ, warum sollte ein Veranstalter diesen dann engagieren oder gar entlohnen? Die Musikauswahl ist nur ein Aspekt, aber wenn diese am Interesse der Teilnehmer grob vorbei geht, wird eine Konkurrenzsituation das schon richten.

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    5. Du siehst das halt völlig statisch: Da gibt es "die Teilnehmer" mit ihrem feststehenden Geschmack. Dass neue dazukommen und andere wegbleiben könnten, ja sich der Geschmack ändern könnte, ist nicht vorgesehen.

      Im Schnitt sind die Gäste heute an die Sechzig. Warten wir noch zwanzig Jahre, dann ist der Tango ebenso tot wie im Argentinien der 70-er Jahre. Die Begräbnismusik dazu haben wir ja schon.

      Und dass nochmal ein Piazzolla kommt, welcher die jungen Menschen scharenweise zum Tango treibt, ist ungewiss. Ich würde mich nicht drauf verlassen!

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    6. Ich würde auch nicht darauf wetten, dass noch 20 Jahre in dieser Größenordnung Tango getanzt wird. Alledings finde ich das auch nicht tragisch, die nächste Generation wird sich ihre Freizeit schon selbst gestalten, auch wenn es Tango sein sollte.

      Na und wenn ich dereinst in die "Seniorenresidenz" komme, werde ich versuchen der Stationsvorsteherin beizubiegen, dass der Zivi für eine Milonga in der Kantine die Tische beiseite schiebt und auch der Physio die Stunde nutzt.

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    7. Zivis gibt es nicht mehr - nur überarbeitetes Personal, das bestimmt begeistert von der Mehrarbeit sein dürfte.

      Im Gegensatz zu dir fände ich es sehr schade, wenn der Tango wegen der Halsstarrigkeit seines angejahrten Publikums eingehen sollte.

      Ich finde, wir sind es den nächsten Generationen schuldig, ihnen einen lebendigen Tanz mit Entwicklungsmöglichkeiten zu hinterlassen.

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    8. Eine Weiterentwicklung in der Kunst (ja, ich rechne den Tanz dazu) entstand doch meistens als Gegenbewegung zum Bestehenden, oft sogar als Protest oder Revolution. Somit hätte der Tango ja durchaus eine Chance, wiederbelebt zu werden. Vielleicht braucht es dazu ja das konservative, verstaubte und verkrustete um die Revolution auszulösen?

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    9. Das Schlimme ist halt nur, dass wir vor zirka 20 Jahren im Tango schon mal weiter waren. Seither hat ein heftiger historischer Rücksturz stattgefunden. Das ist in anderen Kulturbereichen eher selten.

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