Geht’s los, geht’s los?
Es gibt im Tango immer wieder Situationen, wo ich mir die Frage von Obelix stelle, wenn es wieder einmal ans Römer-Verhauen geht. Auf die Tangoszene übertragen: Die Musik beginnt, sonst aber nichts.
Auf Encuentros geschulte Paare erkennt man bekanntlich daran, dass sie das Einsetzen der fernen Klänge aus goldenen Tangozeiten zunächst überhaupt nicht anficht. Es wird munter noch mindestens eine halbe Minute geplaudert, bis man sich endlich zu einigen Mini-Schritten bequemt.
Worüber reden die eigentlich? Über die Musik? Halte ich für unwahrscheinlich. Das Wetter, die Qualität des Parketts oder des DJ? Zahlenmäßig ein Wahnsinn: Wenn wir von drei bis vier Stücken pro Tanda (mit Cortina 15 Minuten) und 5 Milongas pro Encuentro (je 4 Stunden) ausgehen, kommen wir pro Tanzenden auf an die 200 Sabbel-Anlässe. Da sind Wiederholungen (wie in der Musik) durchaus zu befürchten.
Ich habe das nie kapiert. Gerade in diesen Kreisen wird doch das achtsame Interpretieren der geheiligten Melodien aus ferner Tangogeschichte über alles andere gestellt! Warum dann stillhalten, während das Retro-Gedudel längst läuft? Gefällt ihnen die Musik nicht? Ich könnte das verstehen…
Kein Wunder, dass sich Showtanz-Paare dieser Mode anschließen. Gerade, wenn sie – auch dies eine feststellbare Tendenz – entschlossen sind, zu langsamer Beschallung gravitätisch einher zu schleichen, kürzen sie ihre Tänze schätzungsweise um je 30 Sekunden, in denen fast nichts passiert. Ist natürlich gut für die Kondition. Ich beschreibe diese „Oblivion-Gedenkminute“ an einigen Beispielen:
Das folgende Paar gestaltet diese Phase noch relativ tänzerisch (wobei die Dame anfangs ein wenig schnell unterwegs ist). So richtig in die Gänge kommen die beiden jedoch erst nach etwa 20 Sekunden:
https://www.youtube.com/watch?v=Q4HYd_f78qY
Bei der folgenden Show dauert die Verzögerung bereits zirka
30 Sekunden, wobei der Tanguero seine Partnerin zuerst einmal umrundet.
Will er den korrekten Sitz des Kostüms überprüfen oder sich überzeugen, dass an
der Dame keine Fäden befestigt sind?
Im nächsten Beispiel steht der Mann besonders cool
und breitbeinig in der Landschaft – das Jackett lässig über einer
Schulter, die andere Hand in der Hosentasche, während die Tänzerin zu ihm hinabsteigt
(eine schöne Metapher). Nachdem sie ihn auf sich aufmerksam gemacht hat, geht
es relativ zügig zur Sache. Von hinten umfasst er sie, wobei nun allerdings das
Jackett hinderlich ist – sie muss warten, bis er es endlich angezogen hat. Der eigentliche
Paartanz setzt nach etwa 50 Sekunden ein. Technisch halte ich die beiden für das beste Paar.
https://www.youtube.com/watch?v=qJ8kiXGRxlI
Beim folgenden Tanz sieht man eine gern verwendete dramaturgische
Meisterleistung besonders schön: Viele Paare sind erstmal meilenweit
auseinander, bis sie endlich merken: Ach, da ganz
weit hinten steht ja jemand – ob man mit dem (oder der) mal tanzen könnte?
In diesem Fall scheinen die beiden jedoch ihre Kontaktlinsen vergessen zu haben, da sie erstmal aneinander vorbeilaufen. Nach über 30 Sekunden kapiert er dann doch: Holla, war da jemand? Und dreht sich zu ihr um. Nach knapp 50 Sekunden hat er sie schließlich eingeholt und fordert sie mit Griff zur Schuler auf (códigomäßig nicht gerade vorbildlich). Nachdem sie endlich geschnallt hat, dass da jemand mit ihr tanzen will, hebt das gemeinsame Tun nach fast einer Minute an:
https://www.youtube.com/watch?v=7numU-YfzDg
In meinem persönlichen Lieblingsvideo tun die beiden
zirka 15 Sekunden lang gar nichts außer weit auseinander stehen und gucken. Nach
fast 30 Sekunden hat er endlich (etwas legeren Schritts) die Halbdistanz
erreicht und steckt gefühlvoll seinen Arm nach ihr aus. Nach einer Dreiviertelminute
schließlich ist man in der Tanzhaltung angekommen. Nun geht es – meist im Zeitlupentempo
– munter voran. Für den Rest des Videos empfehle ich, sich auf den Kopf des
Geigers zu konzentrieren.
https://www.youtube.com/watch?v=aoNQQoQtZ8Y
Wahrscheinlich bin ich aber einfach zu blöd, die künstlerische Aussage solchen Tuns zu kapieren. Vielleicht haben die Paare auch vorher gehört, zu Piazzollas Musik könne man nicht tanzen – und müssen nun eine Überlegungspause einlegen, bevor sie sich dazu entschließen, es doch einmal zu probieren. Oder der Cabeceo hat zunächst nicht funktioniert. Kann man „Oblivion“ vergessen? Wer weiß?
Eine mich wirklich überzeugende tänzerische Interpretation des Piazzolla-Stückes fand ich auf YouTube nicht. Bis mir die Idee kam, doch mal aufs Eis zu gehen – da kann man wenigstens nicht so lange stehen bleiben:
https://www.youtube.com/watch?v=7rzK6uQIpJY
Tja, ich bin weiterhin entschlossen: Wenn schon mal ein DJ „Oblivion“ auflegt, geht es für mich sofort los. Da darf man keine Sekunde verschenken!
Zu den Videos: Show ist nun mal Show, da darf eine gewisse Dramaturgie schon sein. Und da man oft erstmal auf die Bühne oder die Tanzfläche kommen muss, gibt es eben ein Entrée. Finde ich jetzt nicht so schlimm, aber ich komme ja aus einer anderen Tanzecke, wo ein showmäßiger Aufbau üblicher ist.
AntwortenLöschenBeim "normalen" Tanzen gebe ich Dir allerdings recht, da braucht es das wirklich nicht. Da helfen einem doch die ersten Takte wunderbar, in die Musik einzutauchen.
Wobei...bei manchen Neo- oder Non-Tangos kann es schon passieren, das mein Partner und ich erstmal dastehen ....um die Musik zu hören und zu entscheiden, ob wir darauf tanzen wollen. Aber bei Piazzolla ganz sicher nicht.
Es gibt sicherlich gute Gründe, nicht sofort mit dem Tanzen anzufangen. Aber dieses "Sabbel-Ritual" schien mir doch eine Satire wert.
LöschenUnd nichts gegen dramaturgische Gestaltung eines Auftritts. Sie muss nur nicht so fantasielos geraten wie in den beschriebenen Fällen. Für professionell halte ich diese Umsetzung jedenfalls nicht.