Gastbeitrag: „Uno“
Mein „Faktencheck“ zum umstrittenen Phrasierung-Video hat großes Interesse gefunden. Besonders dankbar bin ich Rainer Lehmann für seine musikalischen Erklärungen. Und natürlich für seinen Hinweis auf die Partitur bei „Todo Tango“:
https://www.todotango.com/musica/tema/165/Uno/
Wie angekündigt habe ich seine Beiträge meinen Musikerinnen weitergeleitet. Meine Frau Karin hat nun – auf der Grundlage dieser Notation und der verwendeten Einspielung von Mariano Mores (siehe unten) – einen Kommentar dazu verfasst.
Ich fand aber, diesen Text sollte man wegen seiner Länge als eigenen Gastbeitrag veröffentlichen:
Lieber Herr Lehmann,
Ihren Beitrag fand ich dankenswert sachlich und themenorientiert. Daher einige Ergänzungen dazu.
Vorweg: Ich habe privat lange Geigen- und Gesangsunterricht gehabt und verfüge über jahrzehntelange Erfahrung im Orchester- und Ensemblespiel, sowie als Chorsängerin und auch Solistin.
Ein Musikstudium habe ich nicht absolviert und erhebe daher auch keinen Anspruch auf ein wissenschaftliches Fundament meiner Aussagen.
„Uno!“ ist ein Tango, der auf die unterschiedlichsten Weisen interpretiert wurde und wird.
Dies ist ein wichtiger Wesenszug von Tangomusik überhaupt, die anfangs oft auf praktischer Überlieferung beruhte und somit immer wieder in neuem Gewand auftauchte.
Auch ein geschriebenes Notenmaterial legt keine absolut fixierte Interpretation fest. (Gilt natürlich auch für die klassische Musik.)
Sie hatten einen Link zu der Notenversion von „Uno!“ auf Todotango angegeben.
Anhand dieser mit Text versehenen Klavierfassung habe ich Ihre Einteilung des Stückes nachvollzogen, wobei dies leichter gewesen wäre, hätte ich nach Taktzahlen oder nach Textabschnitten vorgehen können.
Was Sie als Teil A bezeichnen ist wohl der Abschnitt: Uno busca lleno … bis empecina.
Teil B ginge von Uno, va astrándose… bis tanta traicíon.
Nun folgt der umstrittene sogenannte „Refrain“ von Si yo tuviera… bis para llorar tu amor (bei Ihnen Teil C).
Trotz aller Proteste möchte ich beim Begriff Refrain bleiben.
Denn dieser Teil soll nach der 2. Strophe (bei der Todotango-Version unten mit I (Bis) angegeben) tatsächlich mit identischem Text (!) nochmals gesungen werden. Somit wäre ein Kriterium für den Begriff „Refrain“ durchaus erfüllt.
Die musikalische Gestaltung der Strophen (bei Ihnen Teil A und B) hat einen rezitativartigen Charakter (hier viele gleiche Töne mit durchaus anspruchsvoller Textverteilung).
Der Refrain dagegen ist aus meiner Sicht wesentlich melodiöser.
(Irgendwie vergleichbar mit der Arie nach dem Rezitativ in Oratorien – auch wenn dies ein gewagter Vergleich sein mag.)
Die Melodie des Refrains prägt sich dem Hörer bestimmt mehr ein als die Melodie der Strophen. Wenn ein Tänzer heimlich mitsummt, dann, eher als bei der Strophe, doch beim Refrain. So wäre wiederum ein ganz einfaches Kriterium für diesen Begriff erfüllt.
Die Nr. 4 auf der zweiten CD von „Tangomanía“ bringt eine Aufnahme von Mariano Mores‘ „Uno“ mit dem Sänger Carlos Acuña.
Hier beginnt man mit dem instrumental gespielten Refrain (in einer gekürzten Version), darauf singt Acuña die 1. Strophe, es folgt nochmals der Refrain, anfangs gespielt, der Schluss gesungen.
Die 2. Strophe fehlt.
Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf dem (eingängigeren) Refrain.
Noch ein paar Anmerkungen zur Phrasierung:
Im o.g. Notenmaterial kann man im Teil A (s.o.) in der ersten und in der zweiten Zeile jeweils einen viertaktigen Zusammenhang sehen. Im Grunde wird das Thema zweimal gebracht - wenn auch in der Tonart/Harmonie verschoben und durch die Dynamik (p resp. ff) variiert.
Darauf folgen eine dreitaktige Phrase, zwei zweitaktige und eine viertaktige Phrase.
Dann kommt der Übergang zum Refrain, welcher mit einer auftaktigen Sequenz eingeleitet wird (7 Sechzehntel, zu Beginn 1/16 Pause).
Die ersten 8 Takte des Refrains (einschließlich Auftakt) sind thematisch sehr ähnlich gebaut. Auch die folgenden 8 Takte bilden eine thematische Einheit.
Die darauffolgenden Takte ähneln wiederum den ersten 8 Takten des Refrains, führen dann leicht variiert zum Schluss.
Wenn Tänzer diese im Wesentlichen 8-taktige Struktur des Refrains hören oder vor allem spüren, ist schon viel erreicht.
In den vorliegenden Noten sind im Refrain zu Beginn ein pp, am Schluss ein p, ansonsten keine dynamischen Zeichen angegeben. Dennoch ist die Melodieführung deutlich von Dynamik geprägt, z.B. von Es possible… bis besos, dann wieder von Sin pensar … bis vivir.
Ich würde Tänzern raten, solche Steigerungen und deren Nachlassen (von den Musikern mit crescendo und decrescendo realisiert) versuchen zu hören sowie vor allem zu erspüren und sie tänzerisch auszudrücken, einfach durch etwas größere, „energischere“ Schritte, durch Drehungen, interessante Figuren – je nach Können (und Platz).
Die Musik zu spüren, zu erfassen und sie dann möglichst passend in der Bewegung auszurücken – dies macht die Faszination des Tanzens aus.
Voraussetzung dafür aber ist Übung – das Trainieren der körperlichen Flexibilität und der des Hörens.
Mit besten musikalischen und tänzerischen Grüßen
Karin Law Robinson-Riedl
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Ich danke den beiden Autoren herzlich für ihre Beiträge. Sie zeigen, dass man kontroverse Themen auch sachlich und detailliert besprechen kann – in der Absicht, anderen zu helfen und nicht, sie niederzumachen.
Ich freue mich, dass durch solche Diskussionen wieder einmal deutlich wird, dass man sich als Tanzender intensiv mit der Musik beschäftigen sollte, welche so viel mehr als ein Rhythmusgeber ist.
Nebenbei erhält der großartige Musiker und Komponist Mariano Mores wieder einmal gebührende Aufmerksamkeit. Daher hier noch seine Einspielung von „Uno“:
Hallo Frau Karin Law Robinson-Riedl
AntwortenLöschenviele Dank für ihre Ausführung. Genausso sehe ich das auch. Warum man zu der Erkenntnis kommt, dass der Titel "Uno" keinen Refrain haben soll ist mir nicht klar. Vielleicht kommt ja noch eine sachliche Erklärung. Ich bin da durchaus lernfähig.
Für die Analyse braucht man glaube ich kein Musikstudium. Liedformen sind eigentlich Bestandteil des Musikunterrichts an Schulen, sofern er denn mal stattfindet.
Vielleicht hier noch einige musiktheoretische Ergänzungen für Nichtmusiker unter den Lesern. In der Musik spricht man von Liedformen. Es gibt bei den einfachen Strukturen drei Arten. Man teilt auch hier in der Regel in achttaktige Phrasen auf. Der einfachste Liedtyp besteht nur aus einem A Teil, also einer Phrase. Bruder Jacob wäre so ein Lied. Dann die zweiteiligen Liedtypen. Also AB. "Oh du Fröhliche" fällt mir da spontan ein. Oder AA´ oder AA. Dann gibt es die dreiteiligen Liedtypen. Also ABC,ABA oder ABB
Die meisten Tangos bewegen sich in der zwei oder dreiteiligen Liedform.
"Bahia Blanka" von Carlos di Sarli wäre ein AB-Typ. Wenn man genauer unterteilt wäre hier AA´BB´ richtiger. https://www.todotango.com/musica/tema/2601/Bahia-Blanca/
Man spricht dann auch von erweiteter Liedform.
Bei kleineren Liedern teilt man in kleinere viertaktige Phrasen auf, weil sie oft aus nur zwölf Takten bestehen. Als Beispiel fällt mir da "Hänschen klein" ein. Da wäre das dann AA´BA´. Im Prinzip wäre es so auch eine dreiteilige Liedform.
Im englischen taucht auch der Begriff Section für die Liedeinteilung auf. In der Übersetzung von Michael Lavocah Tangobüchern wird der Begriff Sektion verwendet. Für den Refrain benutzt er den Begriff C-Section.
Nun zurück zu Uno. Die Liedform wäre hier grob : ABC
Genauer ABCC` wegen des 16-taktigen Refrains, der in der Wiederholung etwas abweicht. Also auch eine erweiterte Liedform.
Der B-Teil besteht aus nur zweimal 7 Takten. Eigentlich nicht typisch. Kommt aber vor.
Wahrscheinlich war bei dem Stück der Text zuerst da.
Vielleicht noch zum Thema. Die sechzehn Takte zu Beginn sind ein klassisches Beispiel für eine Komposition. 8 Takte Frage, 8 Takte Antwort. Spannung, Entspannung. Viele Klaviersonaten von zum Beipiel Mozart beginnen so.
http://cantorion.org/music/2897/Piano-Sonata-No.-16-2.-Andante-%28typeset%29
Weitere Liedformen wären die große dreiteilige Liedform wie man sie im 3. Satz bei Sonaten oder Sinfonien findet. Das Rondo, die Variation, Bluesschema und die Sonatenhauptsatzform.
Im Schlager oder der Popmusik (kann man für den Tango auch so sehen) gibt es noch die Form "Strophe und Refrain" , die Strophe, wie schon gesagt, verwendet dafür immer einen unterschiedlichen Text. Beim Refrain bleibt der Text immer gleich. Letztendlich sind gesungene Titel aber auch den Liedformen unterworfen.
Wie ihr Mann schon sagte bewegen sich die Tangos, die man so in der Regel auf Milongas hört (mehr wie ca 500 Stücke aus der goldenen Ära sind es ja nicht) in einfachen Liedformen. Wenn man sich die Stücke anschaut, passen sie auf ein bis zwei Seiten. Was die Kompositionen interessant macht ist ja das, was die Orchesterleiter,Arrangeure und Interpreten daraus machen. Im Stück Uno würde ich mich bei der Wiederholung auch auf den synkopischen Rhythmus stürzen. Und Dynamik ist auch ein Aspekt, den sie ja gut erklärt haben.
Ich persönlich denke, es ist auch als Tänzer/in nicht verkehrt sich ein wenig mit dem Thema zu beschäftigen um auch beim Hören die Strukturen in der Musik besser zu verstehen und zu erkennen. Da ja die Tangos immer Wiederholungsteile haben, hätte ich so die Möglichkeit beim aufmerksamen Zuhören wenigstens da die ein oder andere Phrasierung richtig zu tanzen.
Viele Grüße Rainer Lehmann
Bahia Blanca natürlich, bevor sich jemand aufregt.
LöschenLieber Herr Lehmann,
Löschenvielen Dank für Ihre ausführlichen, ergänzenden Erläuterungen.
Aber jetzt meine ich "grau ist alle Theorie" - vamos a bailar!
Beste Grüße
Karin Law Robinson-Riedl
Hallo Frau Karin Law Robinson-Riedl,
LöschenJa ein bisschen Theorie schadet aber nicht. Ich hoffe wir haben damit die Existenz des Refrains im Stück "Uno" nachgewiesen. In diesem Sinne ihnen auch weiterhin viel Spaß mit der Musik und noch viele schöne Wohnzimmermilongas.
Die Playlist lese ich immer mit viel Interesse. Viele Grüße Rainer Lehmann
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AntwortenLöschenSorry, ich veröffentliche keine Beiträge, die nur dazu dienen, andere Schreiber gegeneinander aufzuhetzen - typisches Troll-Verhalten!
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