Der Senf als Zugabe

Wieder einmal ist die Aufregung im weltweiten Netz riesig:

Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser war Ende Juli zu einem Besuch in Kiew. Fotos und Videos zeigten die SPD-Politikerin mit ihrem Parteikollegen und Arbeitsminister Hubertus Heil, Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko und der deutschen Botschafterin Anka Feldhusen auf dem Balkon der Residenz der Botschafterin.

Der Skandal: Die Vier lachten und hatten Sektgläser in der Hand, was heftig kritisiert wurde. Der CDU-Generalsekretär Mario Czaja beispielsweise twitterte:

„Was von der Zeitenwende übrigbleibt: Mit Champagner in der Hand einen Logenplatz ergattern: Sinnbild für die #SPD-Riege der Scholz-Regierung. Bilder haben eine Wirkung - und die Wirkung dieses Bildes spricht Bände.“

https://twitter.com/MarioCzaja/status/1551876111738585088

Wie nicht anders zu erwarten, kroch Faeser zu Kreuze: „Wir waren abends eingeladen bei der Botschafterin und mit dem Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko und haben letztlich das gleiche Getränk wie er gewählt." (…) Ich würde das nicht mehr machen. Weil das etwas ausdrückt, was unangemessen ist, wenn man aus einem anderen Land kommt."

Allerdings betonte sie, in Kiew sei wieder Alltagsleben eingekehrt:

„Die Leute gehen einkaufen. Es sind wieder im öffentlichen Raum Blümchen gepflanzt. Die Menschen gehen in Bars, sie sitzen in Cafés, sie gehen ihrer Arbeit nach."

Quellen:

https://www.sueddeutsche.de/politik/bundesregierung-faeser-bereut-sektglas-szene-auf-balkon-in-kiew-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220809-99-330659

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/nancy-faeser-bereut-sektglas-szene-auf-balkon-in-kiew-a-126c2074-c953-4155-8b9c-6f8128995e3d

Die Presseberichte dazu sind weitgehend ähnlich und beruhen offenbar auf einer dpa-Meldung.

Mich hätte eigentlich – wenn schon – mehr interessiert, was beim Besuch der Politiker in Kiew inhaltlich herausgekommen ist und nicht, was diese Personen abends tranken. Und ich darf daran erinnern, dass bei solchen Anlässen die menschliche Vertrauensbasis entscheidend ist, die sich halt oft bei solchen Treffen „außerhalb des Protokolls“ entwickelt. Und vielleicht, dass der 16 Stunden Job eines Spitzenpolitikers ohne solche Entspannungs-Momente vollends unerträglich wäre.

Allenfalls wäre zu kritisieren, dass man bei einem solchen Anlass die Fotografen nicht fernhält. Klar – Bilder haben ihre eigene Sprache: „Die trinken Schampus und in der Ukraine wird gestorben!“ Was natürlich niemand ergänzt: Ohne die Nobelbrause auch!

Ja, da hat der gemeine Internet-Empörer wieder seine Story und bläst die einschlägigen Sprüche ins Netz – vermutlich auch die über 83000 Leute, welche sich ein paar Tage später beim Wacken Open Air die Birne mit nicht immer erlaubten Drogen zugedröhnt haben. Oder sich auf Fußballplätzen danebenbenehmen. Und das trotz des Ukraine-Kriegs!

Auch Faesers Kollegin Christine Lambrecht werden gerne öffentlich gewaltige Fehler vorgehalten – so bei einem Besuch der Bundeswehr-Einheit in Mali, bei dem sie Stöckelschuhe trug. Der gigantische Aufreger: Sie habe damit Sicherheitsvorschriften verletzt: Man habe an diesem Standort geschlossenes Schuhwerk zu tragen, weil dort der Gelbe Mittelmeerskorpion beheimatet ist! Sein Stich könne für Menschen tödlich sein.

„Sie lernt es einfach nicht. Mit High Heels in unserem gefährlichsten Einsatz – peinlich", zitiert die „Bild"-Zeitung einen Oberst der Bundeswehr.

https://www.news.de/politik/856225623/christine-lambrecht-mit-stoeckelschuhen-bei-bundeswehr-besuch-in-mali-kritik-an-verteidigungsministerin-wegen-falschem-schuhwerk/1/

Als Biologen hat mich die Recherche hinsichtlich der Skorpionart interessiert:

„Die Letalität kann vor allem bei Kindern 1 bis 10 Prozent betragen, für einen Erwachsenen ist der Stich in der Regel nicht tödlich.“

https://flexikon.doccheck.com/de/Gelber_Mittelmeerskorpion

Zudem frage ich mich: Warum hat eigentlich niemand aus unserer kompetenten Bundeswehr die Ministerin rechtzeitig auf die Gefahr aufmerksam gemacht? Oder hat man ihr absichtlich ein Fettnäpfchen aufgestellt, weil man sie eh weghaben will?

Gesundheitlich völlig gefahrlos ist eine andere Empörungsquelle, die man ebenfalls gerne gegen Frauen einsetzt:

Bei den diesjährigen Salzburger Festspielen traf es die Schauspielerin Mavie Hörbiger (die Enkelin von Opa Paul), die sich zusammen mit ihrer Kollegin Verena Altenberger ablichten ließ. Der Skandal: Hörbiger trug unter ihrem schwarzen Shirt keinen BH. (Sorry, liebe Leser, dazu liefere ich kein Bildmaterial!)

Das Niveau der Internet-Sprüche war einschlägig:

„Es muss kalt gewesen sein.",

„War der Fotograf fesch?“

„Kannst du dir keinen BH leisten?"

„Warum könnt ihr den Festspielen nicht die Würde verleihen, die jenes Kulturereignis groß gemacht haben? Ein Jedermann, der zum JederGender verkommt – Kleidungsstil, der so zu Woodstock passt, Frauen ohne BH - nur, um sich aufzuregen, dass ihnen Männer auf den Busen glotzen. Kultur Over."

Na, gucken darf man ja aber der genießende, jedoch schweigende Kavalier scheint der Vergangenheit anzugehören!

In diesem Fall aber konterte die Schauspielerin ziemlich mutig:

„Es ist weder das erste noch das letzte Mal, dass eine Frau von einer Gruppe Fremder zu hören bekommt, was an ihrem Körper alles falsch ist. Besorgniserregend ist aber, wie vulgär einige von euch Männern dabei sind. So viele von euch wollten mich auf aggressive Weise wissen lassen, wie enttäuscht sie von meinen ‚kleinen Titten' sind oder dass ich mich schämen sollte, so flachbrüstig zu sein. Ich habe schon eine ganze Weile in meinem Körper gelebt. Ich bin mir über die Größe meiner Brüste vollends bewusst und habe keine Angst davor. Was vielmehr Sorge bereitet .... Warum habt ihr solche Angst vor Brüsten?"

https://freizeit.at/trending/nippel-bei-den-salzburger-festspielen-ein-skandal/402091009

Nun gut, vielleicht wollen Schauspielerinnen durch solche Fotos auch auf sich aufmerksam machen. In der Branche ist schließlich der Konkurrenzdruck riesig. Nur: Wieso finden sie dabei immer wieder Trottel, welche sie dabei unterstützen?

Männer werden wegen ihres Äußeren viel weniger kritisiert trotz Bierwampe und Maurerdekolleté.

Wahrlich, der Drang, zu jeder Nichtigkeit im Internet auch etwas zu meinen, ist uferlos: Da postet jemand auf Facebook ein Bild seines veganen Frühstücks oder seines rätselhaften Hautausschlags – und schon drängt es Hunderte von Stammtischpoeten oder Gesundheitsexperten, ihren Senf dazuzugeben. Wobei man wissen sollte: Die Paste aus Senfsamen ist nicht von Würstchen, sondern nur mit diesen schmackhaft!

Bevor man mir nun den Vorwurf macht, ich würde ja ebenfalls im Internet kritisieren:

Stimmt schon, nur versuche ich ein Thema nach sorgfältiger Recherche umfassend mit durchschnittlich tausend Wörtern (die Buchstabengruppen zwischen den Leerzeichen) darzustellen. Das darf man gerne kommentieren – nur dann bitte ebenfalls mit ein wenig Tiefgang!

Wem das unerreichbar erscheint, der möge dann zumindest versuchen, seine Meinungsäußerungen mal in der analogen Welt zu erproben. Auch hierzu gibt es schöne Anleitungen:

https://www.youtube.com/watch?v=cRWmYHfYeQ4

Kommentare

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