Tango versus Encuentro

Was wäre mein Blog ohne meine Leserinnen und Leser? Gleich zwei von ihnen haben mich in den letzten Tagen auf einen (bzw. zwei) Artikel von Christian Stoll zu den Encuentros aufmerksam gemacht.

Über den Autor habe ich bereits berichtet:

http://milongafuehrer.blogspot.com/2021/05/freigeist-contra-tangoprofis.html

https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/05/qualitat-und-kommunikation-im-tango.html

Seine ursprüngliche Seite, „Lies feddich“ (https://lies-feddich.de/) existiert zwar noch, seine Tangotexte sind inzwischen aber auf „David (Männer Blog und Online Magazin)" zu finden.

Den einen Text zu den Encuentros kenne ich wohl schon, er wurde 2020 verfasst. Christian Stoll hat nun einen weiteren Beitrag zum Thema geliefert. Beide findet man hier:

https://david-maenner-blog.de/social-dancing-encuentro-tango/

Der Titel des aktuellen Artikels lautet: „Encuentro – ein Erfolgsrezept“.

Alles „Einfache“, so Stoll, sei erfolgreich – ob nun BILD-Zeitung, Budweiser Bier oder „Encuentro“ – von ihm als eigenständiger Tanz angesehen. In Argentinien werde der Begriff gar nicht verwendet – dort man spreche schlicht von „Tango“.

Aus dem Tango habe sich „der Encuentro“ einiger Kleinigkeiten bedient: Der Führung, der Musik (EdO) sowie kleiner Schrittfolgen, welche leicht zu erlernen seien. Alles andere wie größere Figuren oder offenes Tanzen seien untersagt.

Im Gegensatz zum Tango, wo meist ein größerer Frauenüberschuss herrsche, erfreuten sich die Damen durch die Geschlechterparität dauerhaften Tanzvergnügens. Eingeladen werde privat (und geheim") durch persönliche Ansprache.

Der beispiellose Erfolg, den diese Kombination erziele, sei durchaus zu respektieren.

Das Problem sei nur der Einfluss dieses Konzepts auf die „normale“ Szene, indem man es als den „wahren Tango“ anpreise.

Verschwiegen werde, dass es fast alles ausblende, was die Faszination des Tango ausmache: Freiheitsliebe, Improvisationsfähigkeit, musikalische und tänzerische Vielfalt. Ausschluss und Verbote entsprächen weder dem Geist noch der Geschichte des Tango. Es missfällt dem Autor, wenn Mitglieder der Encuentro-Szene sich als tolle Tanzende ansehen, obwohl sie „eine Colgada für eine Zahnpasta halten“.

Sein Fazit: „Tango ist Tango und Encuentro ist Encuentro.“ Dieser Unterschied müsse deutlich kommuniziert werden.

In seinem älteren Artikel mit dem Titel „Tango und Encuentro – das Kuckucksei im Tangonest“ argumentiert Christian Stoll ähnlich.

Besonders amüsiert hat mich die Passage über die Musik und ihre Aufleger:

„Akzeptiert wird nur Tangomusik aus der Epoca de Oro.
Die Tangos aus dieser sehr überschaubaren Zeit werden gnadenlos rauf und runter genudelt, selten von DJs, die ihr Handwerk bestens verstehen, eher öfter von kostengünstigeren, sehr jungen Probanden, sinnsuchend, dem Tanzen kaum mächtig, dafür aber top, was das Downloaden von fertiggestellten Tandas auf YouTube anbelangt.“

Quelle: https://david-maenner-blog.de/tango-encuentro/

In der Tendenz gebe ich Christian Stoll durchaus Recht. Der „Encuentro-Tango“ ist für mich eine stark reduzierte und reglementierte Form des Tanzes vom Rio de la Plata. Und ich meine, man müsse nicht mehr befürchten, dass diese sich in der gesamten Szene ausbreite. Das ist wohl längst geschehen: Musikauswahl, Códigos, enge Umarmung und kleinteilige Tanzweise haben sich längst auf vielen „traditionellen“ Milongas etabliert.

Und schon vor Jahren war auf Cassiels Blog öfters zu lesen, ein Wegbleiben der Encuentro-Fans von den „normalen“ Milongas führte dort zu einer Qualitäts-Verschlechterung. Wiederholt habe ich geschrieben, dass ich das genaue Gegenteil befürchte!

Heftig widerspreche ich allerdings dieser Feststellung von Christian Stoll.

„Encuentro hat nichts von alledem und sollte sich aus genau diesem Grunde vom Tango distanzieren, so selbstverständlich wie es die Nuevo-Szene, die Neo-, Electro-Tango-Szene tut: als eigenständige Tanzform.“

Für mich stellt das genau diese Form der Spalterei dar, gegen die ich seit vielen Jahren anschreibe: Nein, der Oberbegriff lautet „Tango“ – und dieser zeigt eben eine große Vielfalt und Buntheit. Wir sollten einander dieses Label nicht absprechen!

Wer Gefallen an Encuentros hat, soll sie besuchen – und viel Geld sowie lange Fahrten aufbringen. Für das Tragen einer hohen Nase besteht jedoch keinerlei Grund. Man tanzt halt eine sehr spezielle Tangoform, die relativ leicht zu erlernen ist.

Was mir am Autor gefällt: Er nimmt beim Verbreiten solcher Minderheiten-Standpunkte kein Blatt vor den Mund. Es würde seiner Überzeugungskraft allerdings guttun, etwas weniger holzschnittartig zu argumentieren. Beispielsweise, wenn er den häufigen Partnerwechsel auf Encuentros als „Rudelbums“ bezeichnet. Dies dürfte das gegenseitige Verständnis kaum fördern.

Was ich noch angefügt hätte: Die Geschlechterparität auf diesen Veranstaltungen garantiert nicht allen Frauen „dauerhaftes Tanzvergnügen“. Ich habe mehrfach Tänzerinnen zitiert, die dennoch weitgehend sitzen blieben – wohl, weil sie nicht der richtigen Clique angehörten.

Mit dem Begriff „Social Dance“ sollte man nicht operieren – das heißt nämlich übersetzt schlicht „Gesellschaftstanz“ und deutet nicht etwa ein besonders soziales Verhalten an.

Abschließend noch einmal meinen herzlichen Dank an die Leserinnen und Leser, welche mir immer wieder interessante Links zuschicken, oft garniert mit persönlichen Erfahrungen. In vielen Fällen schwingt dabei die Erwartung mit, ich möge dazu doch bitte mal etwas schreiben. Weniger erfolgreich bin ich meist mit der Anregung, das als Gastbeitrag für mein Blog selber zu unternehmen. Nö, da möchte man sich den Mund dann lieber nicht verbrennen.

Tja, dann mache ich es halt wieder mal. Ich bin ja Kritik gewöhnt…

P.S. Eine Realsatire" zu dem Encuentros habe ich bereits vor acht Jahren veröffentlicht. Sie gefällt mir heute noch: 

http://milongafuehrer.blogspot.com/2014/09/realsatire.html

Illustration: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Ich mag ja eine zugespitzte Meinung, aber "Encuentro ist kein Tango" ist mir dann zu platt, die Absicht einen Aufreger zu platzieren zu deutlich.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Sicher, das habe ich ja auch entsprechend kommentiert.

      Allerdings mussten sich die Vertreter eines modernen Tango jahrelang erklären lassen (teilweise bis heute), was auf der anderen Seite "kein Tango" sei. Da gab es viel Zuspruch.

      Löschen
  2. Kann sein - ich höre nicht wirklich hin, wenn jemand allgemein festlegen möchte, was "Tango" ist.

    Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass jemand auf einem Tangoevent grundlegend anders tanzt als auf einer lokalen Milonga. Mir wäre das jedenfalls viel zu aufwendig und anstrengend.

    Und ich denke, dass Events den Bedürfnissen und Trends von Besuchern folgen, nicht umgekehrt. Wo die Teilnehmer die Kosten tragen und zufrieden sind entwickeln sich die Dinge, ansonsten verkümmern sie. Wie bei lokalen Milongas auch. Ich habe jedenfalls noch kein Encuentro mit "Missionseifer" seitens des Organisators erlebt.

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.