O je, OTV!
Vor einigen Tagen schilderte ein DJ auf einem Facebook-Forum etwas, das er für ein Problem hält:
„Ich möchte einen Einblick in meine Arbeit außerhalb der Bühne als Tango-DJ geben:
Vor kurzem bin ich durch alle Aufnahmen von Orquesta Típica Victor gekrochen, was eine schmerzhafte Herausforderung ist.
Orchester wie Demare, D'Agostino, Laurenz und Tanturi lassen sich sehr bequem überprüfen: nur wenige Aufnahmen (100-150), mit einem hohen Prozentsatz (35-40%) guter Musik.
Aber OTV nahm etwa 350 Tangos auf, die Mehrheit davon ziemlich langweilig. Grund ist die Kombination aus niedriger rhythmischer Energie PLUS dem Mangel an schönen Melodien (…).
So musste ich mir alle OTV-Tangos anhören, um die paar guten zu finden. Im ersten Anlauf habe ich mehr als 80% aussortiert. Die restlichen ~60 Tangos habe ich in einem zweiten Anlauf nochmal überprüft. Immerhin sind etwa 20-25 gute Tangos (~ 6% aller Aufnahmen) geblieben.
Nächstes Problem: So eine kleine Auswahl (Spanne von 1927 bis 1944) erschwert die Zusammenstellung von Tandas.
Du hast vielleicht 5-6 gute Instrumentaltangos aus ähnlichen Jahren, aber die passen nicht mit Energie oder Klangqualität zusammen. Oder du hast 6 gute Vocal-Tangos mit 3 Sängern.
(…) Anstatt mittelmäßige Musik zu spielen, breche ich lieber die Regel ‚mische keine gesungenen mit instrumentalen Tangos‘ und kombiniere 2 Vocals mit 2 Instrumenten.
Am Ende konnte ich 3 Tango-Tandas bauen, die das ‚Beste von OTV‘ repräsentieren. Zeitinvestition: ~ 30-40 Stunden“
Wem das erleuchtete Insider-Wissen fehlen sollte:
Das „Orquesta Típica Victor“ – „OTV“ (auch „Orquesta Típica Select“) war eine argentinische Tangoformation, welche im Studio Aufnahmen für das Platten-Label „RCA Victor“ produzierte. Es wurde auch das „unsichtbare Orchester“ genannt, da es nie öffentlich auftrat. (Siehe die oft beschworene „Symbiose“ zwischen Musikern und Tanzenden in dieser Zeit!)
Aus kommerziellen Gründen etablierte die Plattenfirma eine größere Zahl weiterer Studio-Orchester mit teilweise demselben Personal.
Musikalischer Leiter war zunächst der Pianist Adolfo Carabelli, der bislang nur klassische Musik gespielt hatte. Das Orchester arbeitete in ständig wechselnden Besetzungen – auch mit einer Vielzahl von Sängern – die Aufnahmen entstanden teilweise in den USA. Neben einer großen Menge an Tangomusik nahm OTV auch andere Tänze wie Walzer, Rancheras, Foxtrotts und Pasodobles auf. Ein musikalischer Gemischtwarenladen also.
https://es.wikipedia.org/wiki/Orquesta_T%C3%ADpica_Victor
Tragischerweise hat es die Formation in die Liga der pflichtgemäß auf „traditionellen“ Milongas aufzulegenden Orchester geschafft. Der Grund ist wahrscheinlich, dass man damit für Ultra-Orthodoxe die EdO-Frühzeit der 1930-er Jahre abdecken kann. An der Musik kann es jedenfalls nicht liegen.
Ich kann die oben geschilderten Schmerzen des DJs gut nachvollziehen. OTV kriegt auf meiner internen „Schrammelskala“ volle hundert Punkte. Wenn eine Tanda mit diesem vertrauten, öden Gestampfe beginnt, lege ich umgehend eine Zigarettenpause ein (möglichst an einem schallisolierten Ort). So ein blutleeres Gerappel bringt nicht mal Francisco Canaro (mein zweites „Lieblingsorchester“) zustande.
Daher wäre mein Rat gewesen (den ich natürlich im „Feindesland“ lieber nicht äußere): Warum lässt du dieses Orchester nicht außen vor, anstatt dich 30 bis 40 Stunden mit purem Quatsch zu beschäftigen? Es gibt – bis heute – unzählige Musiker, die es besser machen!
Nun hat der Arme drei Tandas, welche ihm die ideologische Frage ersparen: „Wieso spielst du nichts von OTV?“
Manche Kollegen auf dem Forum reagieren erwartungsgemäß etwas angefressen, da ja einem „anerkannten“ Orchester mindere Qualität unterstellt wurde:
„3 Tandas... Ich glaube, du unterschätzt die Schönheit von OTV.“ (23 „Gefällt mir“-Angaben, darunter natürlich die Münchner Gralshüterin des antiken Tango, Theresa Faus)
„Im OTV-Katalog gibt es mehr als genug gute Musik, um ein paar gute Tandas zu machen, meiner Meinung nach.“ (16 „Gefällt mir“-Angaben, darunter… okay, hatten wir schon)
„Während einer Milonga sollte es nicht mehr als 2 Tandas OTV geben (von denen einer eine eine Tanda von Milongas ist).“ (O je, dann ist der arme Fragesteller nach anderthalb Veranstaltungen schon durch!)
„Oh, eine Aussage ‚ziemlich langweilig‘ zu machen ‚disqualifiziert‘ dich, ein (guter) TDJ (aus meiner Sicht) zu sein. Vielleicht hast du Tango selbst nicht verstanden. Man kann es mögen oder nicht, aber es ist Teil der Geschichte des Tango (und der Tango-Musik). Und eine gute Milonga präsentiert eine gut ausgewogene Mischung durch die Jahrzehnte.“
Na ja, aber selbstverständlich nur bis 1960, gell?
Vereinzelt gibt es auch Zustimmung:
„Ich mag einige der alten Aufnahmen wirklich, aber sie inspirieren mich normalerweise nicht zum Tanzen.“
„Ich habe eine ähnliche Erfahrung gemacht, mit 10 Tango- und 2 Vals-Tandas von OTV. Klar, alle Lieder einer Tanda sollten ähnlichen Sound, Energie usw. haben, aber vier sehr ähnliche Lieder zu tanzen ist vielleicht nicht so inspirierend für den Tänzer.“
Echt jetzt? Kann es langweilig sein, viermal fast das Gleiche zu tanzen? Eine extreme Ansicht!
Und selbst die Kombination von gesungenen und instrumentalen Stücken wird von einigen nicht ausgeschlossen. Ebenso könne man ja auch mit Titeln der anderen Orchester des RCA-Labels mischen – da hätten teilweise dieselben Musiker mitgespielt.
Ich muss sagen: Da wird die reine Lehre schon ziemlich verwässert…
Pures Kabarett ist diese Wortmeldung:
„Ich wurde 1944 in Buenos Aires geboren. (…) Ich fing 1951 an zu tanzen (Terrassen-Familien-Partys). Ich weiß ein bisschen was über Tango Argentino / Rioplatense. – Kannst du mir Bescheid geben: Bitte, was ist OTV? Danke vielmals. Entschuldigung für meine Unwissenheit. Zum Wohl.“
Tja, mein Lieber, du bist hier halt in einer Gruppe nachgemachter Argentinien-Versteher gelandet!
Quelle: https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum (Post vom 12.8.22)
Wenn ich mich durch solche Debatten arbeite, verstärkt sich bei mir der Eindruck, dass es sich bei der Gruppe der „traditionellen“ DJs um eine Art Sekte handelt, die den Kontakt mit der realen Welt weitgehend aufgegeben hat – regelversessen und technikfixiert.
Teilweise unterhält man sich in einer Sprache, zu der ich keinerlei Zugang finde:
„Bei der Gelegenheit habe ich auch eine neue Veröffentlichung gemacht und hochgeladen:
V0.6, 2022-07-20
* Neues Modul für JRiver/Windows
* Mixxx verwendet zuerst Geschichte und dann Auto-DJ Playlist
* Winamp/AIMP liest Tags aus AIFF- und WMA-Dateien
* Anzeige-Timer für Layout-Artikel
* Immer noch niemand hat eine neue MacOS-Version erstellt.“
https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum (Post vom 2.8.22)
Irgendwann hängt man dann zappelnd im selbstgesponnenen Netz, das einen daran hindert, ein schönes Stück aufzulegen – nur weil man keine weiteren drei sehr ähnlichen Aufnahmen findet. Darauf muss man erstmal kommen!
Leute, wenn euch ein Tango gefällt, dann spielt ihn einfach! Und hinterher einen anderen, welcher euch gleichfalls anspricht. So simpel könnte das sein.
Eure Gäste werden es euch danken!
Und zum Schluss natürlich eine Cumparsita – das Zuschalten des Tons erfolgt auf eigene Gefahr:
Die Gefahr sich im Technikraum zu verlaufen besteht. Ich denke solange man regelmäßig tanzt halten sich die Gefahren in Grenzen. Oder es ist Ausdruck einer Persönlichkeitseigenschaft, die sich sowieso irgendwie auswirkt, sei es positiv oder negativ.
AntwortenLöschenFür Tänzer sind Tandas eine Strukturierung der Zeit. Gefällt einem der Anfang nicht, kann man seine Zigarette in aller Ruhe rauchen oder sonstwas tun. Man kann das gut finden oder nicht, man kann auch Bücher mit Kapiteln und Abschnitten gut finden oder nicht. Hier entscheiden in der Regel die Veranstalter einer Milonga das Format.
Tandas sind für den DJ mehr eine Reduzierung der Komplexität. Ein Teil der DJ-Tätigkeit kann vor die Milonga verlegt werden, so bleibt mehr Zeit zum Zuhören oder Tanzen. Die Suche nach ähnlichen Titeln kann auch Motivation sein, sich intensiver mit einen Ausschnitt eigenen Musiksammlung zu beschäftigen.
Kann alles sein.
LöschenIch habe übrigens Bücher geschrieben, die in Kapitel unterteilt sind - und ich lege auch im Tango nicht kreuz und quer auf.
Die geschilderten Vorzüge sollten halt nicht dazu führen, so einen Bohei zu veranstalten wie der zitierte DJ. Und in der Gefahr befindet sich die Branche.