Tango – prä und post Corona
Zu diesem Artikel angeregt hat mich der Kommentar eines Lesers zum Allzeit-Thema Cabeceo. Tenor: Ich kämpfe da gegen „Scheinriesen“ – die Blinzelaufforderung sei doch eher eine „Bereicherung der Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme“, eine „Ermutigung zum aktiven Blickkontakt durch beide Seiten“.
Na gut, ich habe ja auch nie verlangt, auf jene averbale Form der Tanzeinladung zu verzichten. Allerdings reagiere ich allergisch, wenn man dieses Getue als Fortschritt oder gar als Verpflichtung hinstellt.
Ich glaube, man muss diese Einzelheit in einen größeren Zusammenhang stellen: Aus meiner Sicht – und immerhin bin ich „Zeitzeuge“ – hat dieser gesamte Reglementierungs-Trend begonnen, als der Tango vor mehr als 15 Jahren einen gewaltigen Hype erlebte.
Warum wollten so viele plötzlich einen südamerikanischen Tanz erlernen, dessen europäische Form eher als „Opas Tanzmusik“ galt und in den Standard-Tanzschulen unter „ferner liefen“ dümpelte?
Ich glaube, die Gründe sind ähnlich wie bei der Salsa: Der Deutsche ist ein „Latin Lover“ – er steht auf Exotik. Beim Tango argentino kommt hinzu, dass die Musik abwechslungsreicher ist und Sinnlichkeit sowie Tiefe zumindest vortäuscht. Die oft ziemlich hirnrissigen spanischen Texte versteht hierzulande glücklicherweise kaum einer – und sie interessieren auch keinen. Der hohe Romantik-Faktor aber wirkt bekanntlich bei Frauen wie Backpflaumen. Und die Männer zieht selbstverständlich der nahe Körperkontakt zum weiblichen Geschlecht an, welches glücklicherweise schon ohne ihr Zutun in Hingabe-Bereitschaft schwelgt. Sex sells:
https://www.youtube.com/watch?v=eIqK7bh2VJc
Freilich verhalten sich solche Illusionen zur kargen Wirklichkeit wie ein Haute Couture-Fummel zu Feinripp-Unterwäsche. Da hilft auch St. Pauli nichts:
https://www.youtube.com/watch?v=PNKRoFDips8
Bei Salsa wie Tango stellt sich zusätzlich ein kleines Problem, um in der Szene wirklich aktiv zu werden: Man müsste tänzerisch halbwegs begabt sein.
Warum der Tango die Salsa in der Attraktivität überholte, dürfte daran liegen, dass die Salseros nie versucht haben, ihren munter-athletischen Vierviertler so glattzubügeln, dass er in die Reichweite tänzerisch Minderbegabter kam. Und man kann viel Figurengezwirbel zum ewig gleichen Rhythmus auch ohne tänzerische Intuition auswendig lernen
Tango ist da weit nuancenreicher: Grundbewegungen und choreografische Finessen gibt es zwar, aber letztlich muss man jedes Musikstück individuell interpretieren, benötigt man einen hohen Grad an averbaler Kommunikation und tänzerischer Einfühlung. Beim Massenansturm auf diesen Tanz erschienen viele, die damit eindeutig überfordert waren.
Eine genialer Weg aus diesem Dilemma war schon einmal, den Tanzenden ausschließlich eine sehr einfache Musik vorzusetzen. Die es Gott sei Dank bereits gab – denn im „Goldenen Zeitalter“ des Tango hatten die Orchester ja das Problem eines noch größeren Zulaufs von Menschen, die man musikalisch nicht überfordern durfte: Einfache Mainstream-Tanzmusik war auch hier die Parole.
Natürlich verkaufte man den Lernenden diese Klänge aus Opas Tanzsaal nicht mit dem Hinweis: „Tanzt lieber nur dazu – für den Rest seid ihr zu blöd.“ Nein, dies sei der „authentische Tango“, welcher auf uralten Traditionen der „Tangokultur“ beruhe. Motto: nur echt mit dem Schrammel im Ohr.
Mit dem Totschlagargument der „Tanzbarkeit“ wurde vielfältigere und interessantere Tangomusik abgeschmettert – mehr noch: Wer auf modernere Aufnahmen tanze, sei ein Häretiker – und überhaupt sei das kein Tango. Vor allem nicht Piazzolla. Ich durfte die Schonungslosigkeit, mit der solche Debatten geführt wurden, persönlich erleben.
Sehr bald etablierte sich eine Kaste „traditioneller“ DJs, welche mit einem behaupteten Herrschaftswissen die doktrinäre Linie durchzogen – Widerspruch zwecklos! Merke: Der Mann hinterm Apple weiß schon, was gut für euch ist! Statt an ihrem musikalischen Grundverständnis bastelten diese Leute an elektronischen Finessen.
Es begann die Ära argentinischer Tangolehrkräfte, die – umflort vom Exotikfaktor – ihren Schülerinnen und Schülern ohne Rücksicht auf Unbegabung meist triviales Geschleiche beibogen. Worauf natürlich das einheimische Lehrpersonal zu längeren Wallfahrten an den Rio de la Plata aufbrach, um via „kulturelle Aneignung“ auch ein wenig vom Tangohype abzusahnen.
Für das teutonische Schülermaterial, das nun vorschriftmäßig ums Karree (sprich: „Ronda“) latschte, musste nun aber mittels „Parkettbenutzungs-Regeln“ der Weg freigeschossen werden – denn: Navigieren konnten die erst recht nicht. Das hätte die totale Überforderung bedeutet.
Als tänzerisches Ideal galt fürderhin das Paar, welches dreieinhalb Minuten hinter seinen Nachbarn hertrottete. Bloß nicht überholen oder die Spur wechseln! Wie die Erfahrung bei militärischen Marschkolonnen zeigt, kommt da nur Unruhe rein. Abweichler wurden geradezu mit Hasstiraden überzogen und mit Ausdrücken wie „Pistenrambos“ geschmäht. Erzählungen von schwersten körperlichen und seelischen Verletzungen auf dem Parkett – nur vergleichbar mit den jetzigen Impfschaden-Märchen – machten die Runde.
Ein letztes Problem, das noch der Lösung harrte: Männer (eh in der Minderzahl) mussten davor geschützt werden, mit unbekannten Partnerinnen tanzen zu müssen. Die Gefahr, sich zu blamieren, weil man die Dame „nicht in den Griff“ bekam, oder gar zu einem unbekannten Musikstück tanzen zu sollen, ist für bewegungsmäßig Grenzbegabte der Alptraum schlechthin!
Also besann man sich auf eine Tradition, die in der Tangogeschichte gelegentlich auftauchte: den Cabeceo. Die Tangueros mussten nur wegschauen, dann konnte ihnen nichts passieren. Was mich heute noch amüsiert: Das wurde dann ausgerechnet als Schutz der Tangueras vor Nötigung verkauft! Weiterhin bin ich der festen Überzeugung: Der Blinzel-Zwang ist hervorragend dazu geeignet, Tänze zu verhindern. Bei deren Anbahnung dagegen ergeben sich immer wieder große Probleme, wodurch die Diskussionen um die Sinnhaftigkeit dieses Verfahrens bis heute anhalten.
Wie jede sich rasch vergrößernde Szene wurde der Tango nun attraktiv für Zeitgenossen, die im Leben schon lange, wenn auch meist vergeblich, nach einer führenden Rolle gesucht hatten. Als Tangolehrer oder Milongaveranstalter konnte man nun ein Parfüm verströmen, das Frauen die Sinne raubte und diese bei Männern ersetzte. Was gibt es für eine schönere maskuline Beschäftigung, als die Weiber zu belehren und zweckdienlich einzusetzen? Und dann noch der Versuchung zu erliegen, mit diesem Tanz Geld zu verdienen, Tangoreisen und Festivals zu organisieren! Ich widerstehe der Versuchung, hier Namen zu nennen – dennoch muss ich immer noch lachen, wenn ich mir einige dieser Witzfiguren vorstelle, die nun durch die Tanzsäle stolzierten wie Napoleon vor Waterloo.
Ich gestehe, dass mir durch
all das ein gewisses Urvertrauen abhanden gekommen ist: Wenn ich früher
zum Tango ging, war mir sonnenklar: Bis auf seltenste Ausnahmen würde jede Frau
mit mir tanzen, die ich aufforderte. Später schlichen sich die Bedenken ein:
Will die vielleicht nur per Cabeceo gebeten werden und liefert mir dann
eine ideologisch gefärbte Ablehnung? Oder wohnt sie in tänzerischer Untermiete
bei irgendwelchen lokalen Raumverdrängern und darf gar nicht mit mir tanzen? Es
ist alles so schwierig geworden...
Derzeit ist von all diesen Erscheinungen nicht viel zu merken. Der Tango befindet sich im Corona-Schlaf. Wie wird das Erwachen ausfallen?
Es gibt Anzeichen für vorsichtigen Optimismus: Schon länger liest man auf den Webseiten der Tangoveranstalter kaum noch Aufstellungen, wie sich der korrekte Tanzende auf einer Milonga zu benehmen habe. Bis auf die Encuentros ist man vorsichtiger geworden, der Kundschaft mit allzu viel Regel-Gedöns zu kommen. Offiziell gibt es kaum noch Cabeceo-Pflicht oder Ronda-Aufpasser. Auch im Netz nimmt die Tendenz, doktrinäre Sprüche zu klopfen, deutlich ab – vielleicht auch, weil man keine Lust hat, damit auf meinem Blog zu landen. Vermehrt engagiert man moderne Tangoorchester – selbst wenn sich diese nicht auf das Abspielen historischer Arrangements beschränken. Und – oh Wunder – zumindest offiziell lässt man das Gemecker über gleichgeschlechtliche Tangopaare.
Wie wird es werden, wenn die Corona-Einschränkungen wegfallen? Bleibt zu hoffen, dass viele durch die Krise eingesehen haben, dass man mit diesem Tanz kein Geld verdienen sollte. Die Kommerzialisierung funktioniert nämlich nur, wenn man den Tango als leicht erhältliche und konsumierbare Ware feilbietet. Und genau das vernichtet seinen Wesenskern.
Für mich ist der Tango immer noch der Tanz der einfachen Menschen, die sich in einem staubigen Hinterhof nach ein wenig Glück sehnen. Und dabei wird es bleiben – vor und nach Corona.
Blicke , die sich treffen, ein kurzes Innehalten, ein Nicken - subtil und kann doch der erste Wow Moment der Tanda sein.
AntwortenLöschenNicht jedermanns Stil, offensichtlich.
Doris Lennart
Verstörte Blicke - "Meint der wirklich mich?" - peinliche Missverständnisse - schon wieder eine Tanda tatenlos vorbei...
LöschenNicht mein Stil, tatsächlich.
Nun, meine Erfahrungen sind anders. Gerade bei größeren Veranstaltungen oder wenn ich (fast) niemanden kenne, ermöglichen Mirada & Cabeceo auf eine spielerisch-elegante Weise in Kontakt zu treten.
LöschenDoris
Klar, jeder darf nach seinen eigenen Erfahrungen gehen. Ich habe auch nie gefordert, den Cabeceo zu verbieten. Wogegen ich mich allerdings entschieden wende: Ihn zur Pflicht zu erheben und Tanzende zu kritisieren, wenn sie in Tanzschul-Manier auffordern.
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