Das Große Zweimalsieben des Cabeceo
Du bist die Blume aus dem Gemeindebau, merkst du net, wia ich schau,
wenn du an mir vorüberschwebst, du Blume aus dem Gemeindebau.
Merkst du net, wier i mi bei dir einehau, weu du bist für mich
die Überfrau, komm, laß dich pflücken, du Rose aus Stadlau!
(Wolfgang Ambros, Georg Danzer, 1977)
Bekanntlich ist für den gemeinen Tangoblogger der Einschaltquoten-Renner nicht die Corona-Omikron-Mutante, sondern der Tanten-Aufforderer Cabeceo. Wann immer ich dieses Thema behandle, erreichen mich Botschaften, welche die Eleganz und Subtilität des Blinzelkontakts rühmen.
Da stehe ich armer Tor dann betreten da, weil ich auf den üblichen vollen Milongas mit schlechter Sicht, Schummerlicht und unkonzentrierten Weibern mit der Anstarr-Variante einfach nicht zurechtkomme. Zweifellos: Ich bin zu blöd dazu.
Leider hatte meine Recherche nach vernünftigem Schulungsmaterial zum Thema bislang nur kargen Erfolg, nachdem ich vor Jahren an dem Cabeceo-Training von Theresa Faus nur unter Lebensgefahr hätte teilnehmen können.
Nun entdeckte ich ein YouTube-Video aus dem Café Tango Wuppertal, welches uns das Verständnis dieser uralten argentinischen Tradition in dreieinhalb Minuten vermittelt. Titel: „Cabeceo im Tangosalon“. Ich habe es ausführlich studiert:
Gleich zu Beginn umfangen uns die schleppenden Klänge des Vals „Corazón de Oro“, welcher einen Rekordplatz auf der nach unten offenen Canaro-Skala besetzen dürfte. Botschaft: Da kann doch wirklich jeder und jede mitmachen!
Nachdem uns die Fin de siècle-Stimmung eines lüsternen Leuchters umfangen und der Kameramann die passende Schärfe hinbekommen hat, erblicken wir, eng nebeneinander sitzend und in Gegenüber-Position, die Dramatis Personae:
Die Tangueros (von links nach rechts):
· schwarzgelockt, dunkelblaues Hemd, gestreifte Hosen, Halskette mit Eckzahn-Amulett
· graubärtig, gescheitelt, schwarzes T-Shirt
· Glatze, grauer Kinnbart, grau-gemustertes Hemd
· Stirnglatze, Brille, Anzug/Krawatte
· schwarzhaarig, glattrasiert-markant, weißes Hemd, hellgraue Jeans
· etwas korpulent, Dreitagebart, graues Hemd mit Blumenmuster
· relativ jung, bartlos, dunkelblond, weißes Hemd
Die Tangueras (von rechts nach links):
· halblanges, brünettes Haar, geblümtes Oberteil, schwarzer Satinrock
· relativ jung, schwarzes Trägerkleid, Pferdeschwanz, güldene Ohrhänger
· graue Kurzhaarfrisur, ausgeschnittenes schwarzes Top
· graues, streng nach hinten gekämmtes Haar, schwarzer Rolli, helle Hose
· rothaarig mit Dutt, helles Spitzenkleid
· schwarzes Top, rötliches Haar
· älter, weißhaarig, rotes Kleid
Was für ein Glück – gleich viele Männer und Frauen! Gibt es im Tango ja selten…
Die Herren unterhalten sich abgehoben-souverän und zeigen den kennerischen Fleischbeschau-Blick, der uns in der Damenwelt so beliebt macht. Die Tänzerinnen bemühen sich, so zu tun, als würden sie nicht beobachtet. Lediglich die Ältere im roten Kleid scheint über die Typen abzulästern. Ihrer Nachbarin gefällt‘s. Man sitzt sich, wie im Puff-Kontakthof, auf eine Entfernung von gut zwei Metern gegenüber – kennen wir ja von den Milongas.
Nun beginnt die Action:
· Der Schwarzgelockte mit gestreiften Hosen holt sich die geblümte Brünette im schwarzen Rock. Lese ich ein „Okay“ von seinen Lippen ab? Darf man beim Cabeceo reden?
· Der mit Glatze und grauem Hemd fordert anschließend (ebenfalls redend?) die ausgeschnittene Kurzhaarige auf.
· Weiter nickt die Rothaarige im Spitzenkleid dem Markanten im weißen Hemd zu.
· Sodann holt sich die alte Dame im roten Kleid mit ziemlich gebieterischem Nicken den relativ jungen Herrn im weißen Hemd, dessen Begeisterung sich in Grenzen hält. Echt? Mit Cabeceo geht das – oder weil hier ein Film gedreht wird? Nach meinen Erfahrungen wäre die erstmal für zwei Stunden sitzen geblieben!
· Der Grau-Gescheitelte im schwarzen T-Shirt pfeift sich erstmal ein Mundspray ein, bevor er die junge Pferdegeschwänzte mit den goldenen Ohrhängern abholt.
· Die streng Frisierte im schwarzen Rolli und heller Hose vereint sich mit dem Anzugträger, der sie – ist das erlaubt? – nicht vom Sitzplatz abholt.
· Der etwas korpulente dreitagegebartete Herr im Blumenhemd kommt dann mit der Rotbraunen im schwarzen Oberteil zusammen.
Inzwischen sind schon über zweieinhalb Minuten des Walzers verstrichen. Na ja, hätte man sonst auf dem Parkett verquatscht. Und auf die Musik kommt es ja eher nicht an.
Die Kamera schwenkt nun aufs Parkett. Doch was sehe ich da? Der jüngere Herr im weißen Hemd hat inzwischen die Olle entsorgt und tanzt mit einer anderen! Hab ich mir’s doch gedacht! Inzwischen tanzt er mit der Rotbraunen im schwarzen Oberteil. Offenbar ist die ihren Dicken auch losgeworden. Und die junge Pferdegeschwänzte mit den goldenen Ohrhängern hat sich inzwischen mit einem knusprigen jungen Mann mit Vollbart zusammengetan! Konvenierte das Pfefferminzspray nicht? Glücklicherweise bleibt das Video doch halbwegs lebensnah…
Hier das Video zum Nachkontrollieren und Freuen:
https://www.youtube.com/watch?v=Bbc_DyNz5uM
Zweifellos hat das Werk die Förderung durch das Kultur- und Wissenschaftsministerium NRW verdient – gut, man hätte auch Schulklos finanzieren können. Immerhin habe ich aber gelernt: Der Cabeceo funktioniert durchaus, wenn sich Tänzerinnen und Tänzer in einem Abstand von gut zwei Metern gegenüber sitzen. Und wenn der Blickeaustausch schön nacheinander abläuft. Notfalls ist dann halt die Musik fast vorbei, was macht das? Und Fehlentscheidungen kann man auf dem Parkett noch korrigieren und unliebsame Partnerinnen oder Partner wegschicken. Das beruhigt doch ungemein!
Geübt haben wir in Pörnbach das Kleine Zweimaleins des Cabeceo und die kleinschrittige Ronda ja schon vor über sechs Jahren. Und über das Ergebnis können wir heute noch schallend lachen:
https://www.youtube.com/watch?v=GbSEuNbnWlE
Hallo Herr Riedl,
AntwortenLöschenDas positive ist, sie schauen sehr viel YouTube. Das negative: Eine solche Ferndiagnose ist ein sehr fragwürdiges Rechercheinstrument, wie man im vorliegenden Fall sieht. Praktisch alle Tänzer zwischen Köln und Münster, sowie zwischen Aachen und Coesfeld (für den Bajuwaren: Koosfeld gesprochen) waren schon mal zu Besuch dort. Jeder der Ihren Artikel mit der dortigen Realität vergleicht, verdreht zwangsläufig die Augen, weil das Café Tango genau das Gegenteil ist über das Sie spotten. Wenig Cabeceo, Moderne Musik, Unorthodoxe Tandas, Multirole Tanzen, Frauen die Männer auffordern. Die Ronda ist nur spärlich vorhanden usw.
Ihr Problem wird hier einfach perfekt, und dies für alle, offensichtlich dargestellt. Sie verbreiten aus der Ferne Hohn und Spott, bedienen sich fragwürdiger Medien als Informationsquelle- anstatt sich einfach mal selbst ein Bild vor Ort zu machen.Dabei bilden sie die Wirklichkeit verzerrt, oder wie in diesem Fall- schlicht falsch ab.
Damit schaden sie eventuell noch dem Besitzer Luis Rodriguez.
Setzen, Sechs!
Ich bin gespannt ob Ihre Recherchekapazität ausreichen wird um den wahren Zusammenhang zwischen Herrn Rodriguez und Fr. Doña Piedra, der Initiatorin des Films, welche übrigens ein wundervoller Mensch und eine hervorragende Tänzerin ist, herauszubekommen - ich denke nicht. Dafür müsste man mit Menschen sprechen und dies scheint nicht Ihre Stärke zu sein.
Und nochmal: Die meisten TänzerInnen aus NRW werden es ähnlich empfinden.
Ihr Ingo
Lieber Herr Knitor,
Löschenschön, dass Sie eine Ferndiagnose über die Ansicht der „meisten TänzerInnen aus NRW“ abgeben. Sicherlich auf der Basis repräsentativer Umfragen.
Blöd ist nur, dass mein Artikel sich nicht mit dem Café Tango in Wuppertal befasst. Ich war dort zwar vor Jahren einmal tanzen, würde mir aber nie ein Urteil über die derzeitige Qualität dieser Location erlauben. Ob die geschilderten Vorzüge in der überwiegend konservativen Tangoszene so gut ankommen, weiß ich nicht.
Mein Thema war ein Video, das man nach eigenen Angaben im Café Tango gedreht und auf dem „fragwürdigen Medium“ YouTube veröffentlicht hat.
Meiner Besprechung dieses Werks kann man zustimmen oder auch nicht. Nur: Wer ein Video, einen Film oder ein Buch veröffentlicht, muss mit Rezensionen rechnen. Das gilt selbstverständlich auch für meinen Text, den Sie mal schnell mit Note 6 bewerten. Ich könnte nun ebenfalls argumentieren, dieses Urteil könne eventuell meinem Blog schaden. Tue ich aber nicht – warum auch?
Muss ich vor einer solchen Besprechung den persönlichen Kontakt mit den Schöpfern suchen? Ich meine: nein. Klar, die werden ihr Produkt toll finden – sonst hätten sie es wohl nicht publiziert. Immerhin habe ich mich mit der Website von Doña Piedra befasst. Die Vorstellung ihrer eigenen Person fand ich – sagen wir mal – sehr selbstbewusst. Sie wird meine Rezension zweifellos gut verkraften.
Danke für den Beitrag und beste Grüße
Gerhard Riedl