Freiheit, Gleichheit oder Tango
Jetzt erst wurde ich auf einen Offenen Brief aufmerksam, den Anfang September knapp 30 Personen auf der Facebook-Seite „Tango Bremen“ veröffentlichten. Hier sein voller Wortlaut:
„Freiheit, Gleichheit, Tango
Tango ist Teil einer kosmopolitischen Kultur, die niemanden wegen seiner Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder sonst etwas ausgrenzt.
Wie die meisten inzwischen wissen, macht die Impfung nicht steril.
Auch Geimpfte können ansteckend sein, genauso wie Genesene. Mit anderen Worten: Geimpfte wie Ungeimpfte und Genesene können Überträger des Virus sein.
Dass die einen sich testen lassen müssen (demnächst vielleicht sogar kostenpflichtig), die anderen nicht, ist in keiner Weise begründbar und zu rechtfertigen. Es ist schlicht Teil eines grundgesetzwidrigen Impfzwangs durch die Hintertür.
Dass einzelne Veranstalter darüber hinaus in vorauseilendem Gehorsam mit einer 2G-Regel einen Teil der Tango-Szene diskriminieren und ausschließen, wollen wir nicht unkommentiert stehen lassen. Seit Ende des zweiten Weltkrieges wurden in Deutschland keine Personengruppe bei kulturellen Events solcherart ausgegrenzt. Egal, wie man zu den Corona-Maßnahmen steht, egal ob geimpft oder ungeimpft, jede Tänzerin und jeder Tänzer sollte sich überlegen, ob sie solche diskriminierende Veranstaltungen durch ihre Anwesenheit unterstützen möchten.
Wir, die UnterzeichnerInnen, richten diesen Brief an die Bremer Tangoszene.
Lassen wir uns nicht spalten! Bleiben wir gemeinsam!
Alle Tänzerinnen und Tänzer sind willkommen.
Niemand wird ausgegrenzt.
Tanzen wir für unsere Freunde und für unsere Grundrechte!“
Vorweg: Wie man für Grundrechte tanzt, wüsste ich spontan nicht – vielleicht im Sinne der freien Persönlichkeitsentfaltung mal die Ronda im Uhrzeigersinn? Wollte ich schon lange mal…
Nein, ernsthaft – dem Text ist ein Zitat von George Orwell vorangestellt: „Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.“
Na, das mache ich doch gerne:
Richtig, die Corona-Impfung macht nicht steril – sollte man vielen weiblichen Querdenkern einmal deutlich sagen.
Geimpfte wie Ungeimpfte und Genesene können Überträger des Virus sein“ – diese Feststellung ist ebenfalls richtig, nur fehlt hier eine quantitative Differenzierung. Die momentane Studienlage gibt nicht her, dass Geimpfte ebenso ansteckend sind wie Ungeimpfte – eher das Gegenteil:
Allerdings ist halt die Möglichkeit, dass eine ungeimpfte Person sich infiziert hat und trotzdem (noch) einen negativen Schnelltest vorweisen kann, deutlich höher. Und trotz eines verfehlten Hauptschulabschlusses sollte die Bedeutung der Tatsache einleuchten, dass auf den Intensivstationen derzeit hauptsächlich ungeimpfte Corona-Patienten liegen.
Auch ich halte von einer staatlich verordneten Impfpflicht wenig. Dass Menschen, die ein objektiv höheres Infektionsrisiko (für sich und andere) eingehen, die gleiche kulturelle Versorgung beanspruchen, überzeugt mich aber noch weniger. Und sorry, da gilt immer noch das Hausrecht des Veranstalters – die Behauptung, dieser „indirekte Impfzwang“ sei grundgesetzwidrig, ist nicht belegbar und juristisch abenteuerlich.
Besonders lustig fand ich die Behauptung: „Seit Ende des zweiten Weltkrieges wurden in Deutschland keine Personengruppen bei kulturellen Events solcherart ausgegrenzt.“
Na ja, immerhin gab es noch lange Jahre nach dem Krieg eine Personengruppe – Frauen genannt – die ohne Genehmigung des Ehemanns nicht mal ein Konto eröffnen, den Führerschein machen oder einen Arbeitsvertrag unterschreiben durfte. Erst 1977 und 1979 wurden männliche Vorrechte bei der Erziehung und rechtlichen Vertretung der Kinder beseitigt. Aber klar, ins Kino durften die Damen wohl auch allein…
https://milongafuehrer.blogspot.com/2016/01/aufforderung-zum-auffordern_29.html
Inzwischen hat die Gleichberechtigung große Fortschritte gemacht – bis auf Burschenschaften, Memminger Fischer und den Tango: Da werden Frauen immer noch wegen ihres Geschlechts diskriminiert, wenn man sie wegen der „Gender Balance“ nicht auf Tango-Events lässt. Und Tänzerinnen, die auch führen oder es gar wagen, Männer direkt aufzufordern, müssen damit rechnen, hinfort ignoriert zu werden.
Selber durfte ich da ja auch einiges erleben: Seit dem Erscheinen meines ersten Tangobuches vor mehr als zehn Jahren wurde ich vom konservativen Teil unserer Szene übel diskriminiert – weil ich von Musik, Unterricht und Tanzregeln abweichende Auffassungen vertrat. Nicht nur, dass mich selber gewisse Kreise ignorieren – viele Leser schicken mir ebenfalls lieber private Mails, statt öffentlich ihre Zustimmung zu verkünden.
Und Spaltung? Die ist doch längst hinsichtlich der jeweils „erlaubten“ Musik oder irgendwelchen Verhaltens-Brimboriums ein Faktum. Und bei alledem ging es nicht um die Vermeidung schwerer Erkrankungen oder gar von Todesfällen, sondern schlicht um persönliche Geschmäcker, die von der entsprechenden Tango-Fraktion mit unglaublichem Starrsinn durchgetrotzt wurden! Zudem ist der Tango oft ziemlich hierarchisch organisiert und wird von herrschenden Grüppchen dominiert.
Und das Motto „Bleiben wir gemeinsam!“ wirkt etwas weniger überzeugend, wenn man gleichzeitig zum Boykott missliebiger Veranstaltungen aufruft.
Nein, ihr Lieben: „Einen Teil der Tango-Szene diskriminieren und ausschließen“ ist in unserem Tanz eine Standard-Methode, ein völlig üblicher Abwehr-Reflex!
Oft genug sehe ich den Tango eher als Gegensatz zu Freiheit und Gleichheit – und das längst vor Corona.
Was mich im Ergebnis wirklich überrascht hat: In der Bremer Facebook-Gruppe jedenfalls erntete der Offene Brief überwiegend Ablehnung. Besonderen Anklang fand die etwas holzige Replik eines traditionellen (!) DJs:
„Ich sehe nicht, dass Menschen ausgegrenzt werden, allerdings sehe ich, dass Menschen mit voraufklärerischem Bewusstsein Sonderrechte einfordern. Die Gesellschaft soll auf die Unvernünftigen und Dummen Rücksicht nehmen. Und wer keine Rücksicht auf eure Befindlichkeit nimmt, der spaltet? Hallo? Geht es noch? Habt Ihr euch mal klar gemacht, dass der ganze Aufwand mit Tests, Kontrollen und Beschränkungen nur euretwegen geschieht? Das alles wäre nicht nötig, wenn jeder geimpft wäre.
Normalerweise würde ich mich nicht an den Rechner setzen, um den Schwachsinn hier zu kommentieren. Der einzige Grund, warum ich es doch tue, ist folgender Satz: ‚Seit Ende des zweiten Weltkrieges wurden in Deutschland keine Personengruppen bei kulturellen Events solcherart ausgegrenzt.‘ Bei aller (tatsächlicher) Sympathie, liebe Freunde – das ist unsäglich, perfide, dumm und brutal!! Impfverweigerer vergleichen sich womöglich mit den Opfern des Naziregimes? Jana aus Kassel lässt schön grüßen! Und die Nazis von heute freuen sich, dass die Untaten der Nazis von gestern relativiert und verharmlost werden.
Das Selbstmitleid der Impfgegner, wie übel ihnen vom Staat mitgespielt werde, geht mir auf den Sack. Mimimi und selbstgemachte Leiden. Hört auf zu heulen, lasst euch endlich impfen und gut ist.“
Bin ich froh, dass der Kommentar nicht von mir stammt…
P.S. Man könnte solche Themen übrigens auch sachlich diskutieren:
https://www.youtube.com/watch?v=Jkw8fLfut1c
Quellen: https://www.facebook.com/groups/tangobremen (Post vom 2.9.21)
https://www.facebook.com/photo/?fbid=4829928277035708&set=gm.6739997616025630
lustig wie deine vorurteile dazu führen, dass du auf die unterzeichner*innen dinge projizierst, mit denen die nichts zu tun haben.
AntwortenLöschenWenn es so wäre, fände ich das überhaupt nicht lustig.
LöschenAllerdings finde ich es intellektuell dürftig, auf einen Text von zirka 1000 Wörtern nur mit einem Satz von etwa 20 Wörtern zu antworten.
Also, wenn schon:
Welche Vorurteile?
Was genau projiziere ich da auf den oder die Verfasser des Offenen Briefes?
Womit haben die nichts zu tun?
Nach meiner Einschätzung bin ich lediglich auf die darin enthaltenen Behauptungen eingegangen.
du merkst es nicht mal mehr selbst?
Löschenich beziehe mich mit "dass du auf die unterzeichner*innen dinge projizierst, mit denen die nichts zu tun haben." auf von "Da werden Frauen..." bis "... und das längst vor Corona."
Also erstens: Woher weißt du, dass die nichts damit zu tun haben? Kennst sie persönlich?
LöschenUnd zweitens: Selbst wenn sie selber nichts damit zu tun haben, sondern es sich um hehre Streiterinnen und Streiter für die Emanzipation im Tango handeln sollte, verkennen sie die Realitäten in diesem Tanz.
Klar, das ist meine subjektive Einschätzung. Ich finde es halt heuchlerisch, wenn man nun plötzlich wegen Corona beim Tango Ausgrenzungen befürchtet, die in anderer Weise seit vielen Jahren bestehen.
Und schließlich passt der Begriff "Projektion" hier eh nicht. Die wäre gegeben, wenn ich meinen würde, die Herrschaften dächten wie ich, obwohl sie es nicht tun.
wie hätte ich es so lustig finden können, wenn ich nicht etliche der unterzeichner*innen persönlich kennen würde?
Löschenhintergund der veröffentlichung des offenen briefes war der umstand, dass ein neo[nuevo]tangoveranstalter ankündigte seine veranstaltungen ausschließlich in 2g veranstalten zu wollen.
ein bißchen recherche von dir hätte keinen so lustigen artikel ergeben. vielen dank!
Du solltest meine Recherchen nicht unterschätzen: Natürlich ist mir bekannt, dass es sich um die Neolonga von Volker Marschhausen aus Bremen handelte. Auf Facebook hat er mir (öffentlich einsehbar) geschrieben:
Löschen„Ich habe selbst eine 2G Tango-Tanz-Veranstaltung organisiert und stehe auch weiterhin dazu!
Teilnahme-Voraussetzung war ein Impf- oder Genesend-Zertifikat via Corona-Warn-App oder Impfausweis, sowie eine Kontakt-Dokumentation via Corona-Warn-App oder Kontaktformular. Alles wurde penibel gecheckt!
Der Mehraufwand hat sich ausgezahlt und es konnte mit Partnerwechsel getanzt werden. Den einzigen Stress erzeugten einige Schwurbler aus der Szene, die mich als Nazi und Rassisten beschimpften, mit Anzeige drohten und sogar einen Boykott-Aufruf initiierten.“
Marschhausen hat mich aber nicht gebeten, diesen Artikel zu schreiben, das war mein eigener Entschluss.
Wenn du Unterzeichnende des besagten Pamphlets kennst, darfst ihnen gerne von mir ausrichten: Ich halte es für unterirdisch, zum Boykott einer Tangoveranstaltung aufzurufen, nur weil man mit den dortigen Infektionsschutzmaßnahmen nicht einverstanden ist.
Bei all den harten Diskussionen, die ich in über zehn Jahren führte, habe ich nie zu einem solchen Mittel gegriffen – anders als die hehren Vertreter der liebevollen Tango-Umarmung…
das steigert dann natürlich noch das maß der unfreiwilligen realsatire. bravo!
Löschenich wünsche einen schönen sonntag
p.s. wenn du menschen etwas mitteilen möchtest, dann solltest du dies schon selber tun.
Als Realsatire sähe ich eher den Versuch, ein komplexes Thema mit Stammtisch-Sprüchen zu begleiten.
LöschenIch habe leider die Kontaktdaten der Person nicht, welche dieses Pamphlet verzapft hat. Und die Mitläufer, welche dann halt auch unterschrieben haben, interessieren mich eh nicht.
Aber es kann ja jeder meine Artikel lesen - und Leute wie du sorgen zuverlässig dafür, dass sie verbreitet werden.
Mal kurz und emotionslos, soweit ich es verstanden habe:
AntwortenLöschenGeimpfte stecken sich (mit Alpha) ungefähr ein Drittel so oft an und sind dann vielleicht(!) nur halb so infektiös, ergibt ein Sechstel des Risikos durch Ungeimpfte.
Ein Sechstel ist auch ungefähr die Risikoreduzierung, die durch einen tagesaktuellen Schnelltest erreicht wird.
Ergo: ein ungetesteter Geimpfter und ein getesteter Ungeimpfter sind für die Umgebung in erster Näherung gleich risikobehaftet.
Für mein persönliches Risiko ist also GG nicht sicherer als GGG, der Status der Anderen geht mich in diesem Rahmen schlicht nichts an.
Eine Steigerung wäre alle Teilnehmer schnellzutesten, die nächste Steigerung nur Geimpfte und diese schnellzutesten, was aber derzeit ja von der Regierung ausgeschlossen wird.
Der Meinung, dass man generell nicht testen sollte, kann ich mich allerdings nicht anschließen.
So ungefähr! Was mir ebenfalls wichtig erscheint: Auf einer Milonga mit 100 Teilnehmenden ist das Risiko im Vergleich zu einer Veranstaltung mit 10 Gästen zirka zehnmal höher, wenn man ein ähnliches Aufforderungsverhalten unterstellt.
LöschenIn meinem Artikel ging es mir allerdings nicht um die beliebten Modellrechnungen, sondern vor allem um die Tatsache, dass nun im Tango - nach 15 Jahren der Zwänge und Ausgrenzungen - Zwänge und Ausgrenzungen entdeckt und beklagt werden.
Tango ist fast nie behindertengerecht, abgesehen davon sehe ich keine spezifischen Diskriminierungen.
LöschenFür einen Paartanz muss man halt einen Partner / eine Partnerin finden, beim Tango am besten mehrere. Und ggf. jemanden der eine genehme Milonga organisiert.
Soweit ich es erlebe ist es für die Harmonie am besten, wenn Milongaveranstalter schlicht die gesetzlichen Vorgaben umsetzen ... oder ihre Milonga absagen.
Als ich noch nicht geimpft war bin ich mit den Kontaktpersonen runter, bis zum privaten 2-Personen-Tanzabend, aber auch das bedeutete implizit Ausschluss von Singles, von Anfängern, von Frauen. Hoffen wir dass es nicht wieder so kommt.
Okay, niemand ist gezwungen, sich mit den wirklichen Aussagen meines Textes zu befassen. Da kann man nichts machen...
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