So wird’s nie wieder sein
Durch Corona wird der Tango nie mehr so werden, wie er vorher war. Das meint jedenfalls ein Altersgenosse von mir, der seit über einem Jahr die sozialen Foren mit vielen Versionen seines Lamentos beglückt.
Lange Zeit meinte er, Milongas würde es sowieso nicht mehr geben – nachdem sich die Szene in der letzten Zeit doch wieder reorganisiert, hat er eine andere Quelle des Unglücks ausgemacht. In der Tango-Facebookgruppe, aus der man nicht zitieren darf, schreibt er:
„Fällt Euch auch auf, dass die Tangoszene in 2 Teile zerfällt? Hier die 2G oder 3G Milongas (von denen es einige nach Corona nicht mehr gibt) und dort jene, die öffentlich nicht bekannt sind. Mehr noch, in den offiziellen wird abfällig über Impfverweigerer diskutiert und genau vice versa in den inoffiziellen. Das Impfthema entzweit die Szene mehr als früher die Frage, ob eine Milonga mit Non Tango Tandas sich noch argentino und Milonga nennen darf.“
Immerhin hat er eine Parallele erkannt: Tatsächlich fühlen sich Menschen, die musikalische Vielfalt schätzen, seit vielen Jahren im Tango ausgegrenzt. Wir haben jahrelang Veranstaltern Eintrittsgeld bezahlt, die ganz genau wussten, dass wir uns über die eine oder andere Tanda moderner Musik sehr gefreut hätten – und das waren auf den betreffenden Milongas nicht wenige Gäste. Nein, da zog man stur seinen ideologischen Kurs durch: keine einzige Aufnahme von nach 1955. Stattdessen unendliche Wiederholungen der üblichen Klassiker.
Zum Unterschied wäre anzumerken, dass man mit einer Tanda Otros Aires niemanden in die Gefahr gebracht hätte, schwer zu erkranken oder gar zu sterben (wobei gewisse Blogger durchaus diesen Eindruck erweckten). Daher kann ich Veranstalter durchaus verstehen, die mit „2G“ einen höheren Grad der Sicherheit anstreben. Und für die meisten Gäste gilt ja: Sie könnten sich problemlos impfen lassen. Wer meint, sich lieber an dubiosen Quellen orientieren zu sollen statt den Empfehlungen der weltweiten Mehrheit der Schulmediziner zu vertrauen, bedient halt einen Freiheitsgrad, der auf der anderen Seite zu Einschränkungen führt.
Hätte es früher eine Impfung gegeben, die mich vor der Infektion mit historischem Tangogedudel schützt – ich hätte sofort zugegriffen.
Im Ernst: An vielen Problemen, die sich im Zusammenhang mit Corona ergeben, ist niemand schuld außer dem Virus selbst. Das vergessen viele.
Der obige Schreiber hat noch ein anderes Argument auf der Tango-Klagemauer hinterlassen:
„Aber manche versuchen eben nicht, in offizielle Milongas durch die 3G Schranken zu kommen, sondern besuchen andere, eher private Orte. Und gehen so der zahlenden Kundschaft verloren und veröden damit die offiziellen Milongas. Denn dort findet derweil eine Abwärtsspirale statt. Tänzerinnen und Tänzer finden ihre gewohnten und geliebten Partner / Partnerinnen nicht mehr und bleiben ihrerseits fern. Danach bleiben weitere fern, bis die Milonga ausgeblutet ist. Ist hier derzeit zu beobachten. Es braucht eben beim Tango auch eine critical mass.“
Mir kommt es eher so vor, als bräuchte der „offizielle“ Tango eine unkritische Masse.
Die obige Befürchtung erinnert mich an ein Erlebnis, als wir vor knapp 15 Jahren unsere eigene (damals öffentliche) Milonga in einer Tanzschule aufmachten. Eines Samstags waren wir ziemlich aufgeregt: Ein damals ziemlich angesagter DJ von weither hatte sein Kommen angekündigt, weshalb ich mir beim Auflegen besondere Mühe gab. Den Betrieb auf dem Parkett ignorierte der Herr weitgehend. Stattdessen kamen meine Mitveranstalterinnen in den Genuss eines längeren Referats von ihm, das er Gästen auf der Terrasse hielt: Unsere Veranstaltung sei ja ganz nett, nur entzögen Leute wie wir den „gültigen Milongas“ Gäste, was sehr schade sei.
Im weiteren Verlauf des Abends zog sich der Auflege-Star an die Bar im Nebenraum zurück, wo er eine Tangoschönheit zutextete.
Unzählige Erlebnisse und Geschichten dieser Art haben meine Einstellung bewirkt: Die „Tangoprofis“ haben bei unserem Tanz mehr Schaden als Nutzen angerichtet. Welche Qualität schaffen denn DJs, die vorgefertigte Playlisten mit immer denselben Titeln herunternudeln, Tangolehrer, welche ihre Schüler vorwiegend mit Figuren-Müll versorgen, Veranstalter, die sich – mit Alien-Blick hinter ihrer Kasse – einen Dreck darum scheren, ob ihre Gäste sich wohlfühlen? Denen es piepegal ist, dass weibliche Gäste stundenlang herumsitzen? Eine Mischpoche, die nichts gegen die unsägliche Hierarchie im Tango tut, sondern daran oft genug mitstrickt? Die auf Kritik nur mit donnerndem Schweigen und der Sperrung von Kommentarfunktionen reagiert?
„So wird’s nie wieder sein“ könnte die Überschrift zu bald 150 Jahren Tango-Evolution sein: Weder wird es noch einmal die Tänze auf schwarzen Festen zu Candombe-Rhythmen geben noch Gaucho-Sänger, die ihre Tangos mit Gitarre und auf dem Kamm geblasen darbieten. Auch keine Zeiten von Männerüberschuss und Prostitution, wo man die Tänzerinnen bezahlen musste. Und schon gar keine „Goldene Epoche“, wo wirklich Hunderttausende am La Plata dem Tangofieber verfielen.
Die sich professionell dünkenden Akteure haben unseren Tanz mit einer hohen Dosis Geschichtsklitterung in eine historische Sackgasse getrieben. Klar können Barocktänze oder historische Ritterspiele in entsprechenden Kostümen einen possierlichen Zeitvertreib darstellen – so lange man nicht glaubt, nach dieser Zeit habe es nichts Wichtiges mehr gegeben. Wer aber meint, man könne einer Tanzszene insgesamt Musik und Gesellschaftsmodell einer längst versunkenen Epoche aufdrücken, möchte offenbar die Evolution rückwärts laufen lassen. Dazu ist die aber nicht bereit. Bestenfalls kann man dem Fortschritt im Weg stehen.
Die wichtigste Triebfeder der Stammesgeschichte ist die Selektion. Daher ist es doch nicht schlimm, wenn Corona dafür sorgt, dass wenigstens die schlimmsten Beispiele „professionellen“ Tangotuns Pleite gehen. Und ein Tangoverein, für den die angeblich beruflich diesem Tanz ergebenen Leute den entscheidenden Faktor bilden, hat erwartungsgemäß kaum Erfolg.
Nein, der Tango wird weiterleben, so wie er immer wieder Krisen überstanden hat: Durch die Aktivität vieler, die sich aus Idealismus für ihn einsetzen statt ans Verdienen zu denken. Und er wird sich verändern. Daher finde ich es toll, dass gerade in der jetzigen Situation viele private, kleine Milongas entstehen. Die großen Veranstalter sollten sich überlegen, was diese attraktiv macht. Es könnte beim Kurswechsel helfen. Und wer nur auf der Stelle treten möchte, soll sich nicht wundern, wenn er überholt wird.
„So wird’s nie wieder sein“ ist der Titel eines wunderbaren langsamen Foxtrotts, den 1941 Gerhard Winkler (Musik) und Bruno Balz (Text) herausbrachten. Ihnen muss wohl klar gewesen sein, dass sie damit ein Remake des Liedes „Thanks for the Memory“ schufen, das Bob Hope und Shirley Ross 1938 in dem Film „The Big Broadcast“ sangen. Das Stück von Ralph Rainger (Melodie) und Leo Robin (Text) gewann 1939 den Oscar als bester Filmsong.
https://www.youtube.com/watch?v=KmE7gVkK14I
Die deutsche Fassung eines amerikanischen Schlagers ging zu dieser Zeit aber nicht, da es auch damals Leute gab, die ihren ideologischen Musikgeschmack anderen aufdrückten. Es ist amüsant zu hören, wie Winkler an einigen Noten fummelte, damit es unverdächtig wirkte. Ja, Musik lässt sich nicht unterdrücken... Ulrich Tukur und die „Rhythmus Boys“ haben die alte Nummer wieder zum Leben erweckt:
https://www.youtube.com/watch?v=CWt9IwgntnI Quelle: https://www.facebook.com/groups/214360532064758 (Post vom 9.10.21)
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