Eine ausgefallene Diskussion
Über einen Kommentar
in unserer Facebook-Gruppe habe ich
mich genügend geärgert, um dazu nochmal zu schreiben.
Auf meinen letzten Artikel, der sich mit sitzen gebliebenen Frauen auf Tangofestivals befasste, schrieb ein Leser:
„Gerhard, mal ganz ehrlich!
Auf wie vielen und welchen ausländischen Tangoevents warst du schon? Mir kommt nämlich vor, du schreibst als Blinder über Farbe.“Aha. Wenn ich nun „mal ganz ehrlich“ sein soll, war ich es wohl bei meinem Beitrag – oder generell – nicht. Weiterhin wird mir, wie schon oft, die „Kompetenzfrage“ gestellt, sprich: Offenbar habe ich keine Ahnung von dem, was ich in meinen Artikeln behandle.
Später schiebt der Kommentator noch nach, er habe mir eine „unangenehme Ausgangsfrage“ gestellt. O je, da habe ich wohl erfundene Erfahrungen dargestellt und bin dabei nun ertappt worden… so eine Art „Tango-Karl May“?
Worum ging es denn in meinem Artikel? Habe ich behauptet, ein intimer Kenner ausländischer Tangofestivals zu sein? Dann hätte ich tatsächlich geschwindelt.
Vielmehr gab ich von einem solchen Event wieder, was die Veranstalter in ihrer Ankündigung schrieben (inklusive Link zu ihrer Website). Weiterhin zitierte ich in voller Länge, was eine anscheinend sehr erfahrene und weitgereiste Tanguera in der FB-Gruppe des Festivals an Erlebnissen zu berichten wusste – und gab Reaktionen der Organisatoren und von Teilnehmern wieder.
Zu dem, was ich dann an eigenen Überlegungen und Wertungen beisteuerte, muss man keine solche Veranstaltung besucht haben. Ich habe auch nirgends behauptet, dass ich aus persönlichem Erleben schreibe. Zu allen vertretenen Auffassungen kann man durch Videos, Veranstalter-Ankündigungen, Kommentare im Internet und die Verfolgung allgemeiner Tango-Entwicklungen kommen.
Die Problematik des in unserem Tanz immer noch deutlichen Machismo habe ich wiederholt beschrieben. Die obige Tanguera ist ja nicht die erste, die sich öffentlich dazu äußert. Und im Lauf der Jahre habe ich viele Mails von Frauen erhalten, in denen immer wieder über das selektive Aufforderungsverhalten von Tänzern geklagt wird. Weiterhin habe ich das auf vielen Milongas selber beobachtet. Hier könnte man es unter anderem nachlesen:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/06/jahrelang-hochgedient.html
https://milongafuehrer.blogspot.com/2020/10/den-cabeceo-herrklart.html
https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/10/wo-der-mann-noch-macho-sein-kann.html
Die männlichen Reaktionen auf solche Vorhaltungen sind stets gleich: Ihr Besuch von Tanzveranstaltungen sei nicht als karitativer Akt zu verstehen – wäre ja noch schöner, wenn man als Mann gezwungen wäre, „mit jeder“ tanzen zu müssen. Und Veranstalter lehnen kategorisch jede Verantwortung für solche Missstände ab – oder sollten sie gar selber mit solchen Mauerblümchen tanzen? Verrückte Idee!
Außerdem dürften nicht nur die Herren, sondern auch die Damen per Cabeceo auffordern und seien daher völlig gleichberechtigt. Ich weiß nicht mehr, wie oft mir dieses Schwachsinns-Argument schon angedreht wurde. Seltsamerweise hat das die Klagen übers Rumsitzen nicht verstummen lassen. Wieso auch? Wenn die Einladung durch Blicke eines zuverlässig bewirkt, ist es die Verhinderung von Tänzen. Man muss sich als Mann ja nur „blickdicht“ genug geben – und schon hat man lästige Weiber von der Pelle.
Über all das hätte ich mit meinem Kritiker gerne einen Meinungsaustausch begonnen. Daher reagierte ich auf seine Anfrage so:
„Schreib doch eine detaillierte Besprechung meines Artikels, in der du meinen Kritikpunkten eigene Erfahrungen auf solchen Festivals entgegenstellst. Ich veröffentliche auf meinem Blog gerne Gastbeiträge – Umfang zirka 1000 Wörter.“
Aus langjähriger Erfahrung weiß ich: Daraus wird so gut wie nie was. Weil es solchen Leuten nicht um die Sache geht. Das ganze Thema ist ihnen halt unangenehm, daher sucht man den einfachsten Weg, es unterzupflügen: den persönlichen Angriff gegen den Autor. Der habe ja keine Ahnung, worüber er schreibe. Er soll doch erstmal beweisen, ob er überhaupt die Legitimation besäße, solche Themen zu behandeln.
Mein Stil ist das nicht. Ich habe Diskussionspartner noch nie gefragt, wie lange sie schon tanzen, auf wie vielen Milongas sie schon waren, an wie vielen Orten, mit wie vielen verschiedenen Partnerinnen, wo und bei wem sie Tango gelernt haben. Wieso auch? Wenn sie wenig Ahnung haben, wird sich das eh am Fortgang der Debatte zeigen, sofern die sich möglichst konkret auf Fakten bezieht.
Ständig arbeitet man in der Tangoszene mit dieser Experten-Beeindrucke – gibt sich Namen wie „maestro de maestros“ oder zählt die Ahnenreihe seiner Tangolehrer auf. Da muss ich dann schon mal eine Frage stellen:
Wenn es denn bei uns schon derartig von Fachleuten wimmelt – wieso ist man dann viele Jahre auf falsche Propheten hereingefallen, welche die Mär von der schon ewig existierenden „traditionellen Milonga“ verbreiteten, der sexuellen Nötigung beim verbalen Auffordern? Wie konnte sich eine Szene, bei der die Musik eine derart zentrale Bedeutung hat (oder haben sollte), bald ein Jahrzehnt lang den Bären aufbinden lassen, jedwede Tangomusik nach 1955 sei tänzerisch einfach nur Müll? Ich habe gefühlt an die hundert Artikel gebraucht, um den fürchterlichen Begriff der „Tanzbarkeit“ zu eliminieren, mit dem man Komponisten und Musiker niedermachte, zu deren Schöpfungen man selber keinen Zugang fand.
Wie konnte sich der Großteil der Tangoszene zu einer Sekte entwickeln, in denen Gurus das Sagen hatten?
Über solche Fragen hätte ich gerne einmal mit meinem Kritiker diskutiert. Aber ich erhielt die übliche Antwort:
„Lieber Gerhard, ich bin nicht so mitteilungsbedürftig und habe mich daher kurz gefasst. Aber danke für das Angebot.“
Na ja, aber immerhin mitteilungsbedürftig genug, um mich ein wenig schlecht zu machen. Was hängen bleiben dürfte: Der hat ja keine Ahnung von dem, was er schreibt. Ich halte solche Reaktionen für ziemlich feige.
Dabei hatte ich die konkrete Ausgangsfrage durchaus beantwortet: Vor vielen Jahren besuchten wir einmal ein Tangofestival im österreichischen Bregenz. Versprochen war – zu ziemlich stolzen Preisen – ein Konzert mit dem Sänger Ariel Ardit, anschließend eine Milonga zu Musik aus der Konserve.
Seit diesem Abend gehört der Künstler zu meinen absoluten Lieblingsinterpreten. Wir waren völlig euphorisiert: Ja, so konnte Tangomusik des 21. Jahrhunderts klingen! Was hinterher kam, war allerdings schauerlich: Dass wir eine Stunde länger auf den Milongabeginn warten durften als vorgesehen, der Eintritt entgegen der Ankündigung nochmal extra kostete – geschenkt. Als wir an der Kasse anstanden, konnten wir die Klänge von drinnen kaum glauben: Da lief dieselbe antike Schrammelmusik, wie wir sie von vielen anderen Veranstaltungen kannten. Wir machten auf dem Fuß kehrt.
Meine Frau und ich haben in dieser Nacht noch lange über dieses Phänomen gesprochen: Zwei Stunden hatten wir beim Konzert mühsam die Füße stillgehalten – diese Musik zog einen förmlich aufs Parkett. Wie konnte es sein, dass uns dann im Nachgang ein derartiger Klangmüll angedreht werden sollte? Waren wir von hunderten Gehörlosen umgeben? Und das auf einem Festival, das auch „Inklusion“ zum Thema hatte – sollte man da nicht schon mal bei der Musik beginnen?
Daher werde ich mich nicht weiter mit der Frage beschäftigen, ob ich als Blinder von der Farbe schreibe. Vielmehr sollen mir diejenigen, welche mir einreden wollen, die Tangomusiker hätten seit über 60 Jahren nichts Tanzbares mehr geboten, ein Attest vom Ohrenarzt vorlegen!
Auf YouTube habe ich noch einen Schnipsel aus diesen Zeiten gefunden. Die Besucher dieses Tangoballs beneide ich darum, zu Ariel Ardits Musik tanzen zu dürfen. Uns war es damals versagt.
https://www.youtube.com/watch?v=qQ3QTxxmXf4
P.S. Zum Weiterlesen:
http://milongafuehrer.blogspot.com/2021/01/zur-sache.html
Quelle: https://www.facebook.com/groups/1820221924868470
(Post vom 8.10.21)
Für den satirischen Blick ist es vielleicht ganz gut, wenn man nur die Fassade abklopfen kann, da bröckelt ja beim Tango immer was.
AntwortenLöschenAber es fehlen dann eigene positive Erlebnisse. Ich war letztens als Fremder auf einer Milonga im Ausland, klein und famliär, Cabeceo üblich. Und das war sehr praktisch, da konnten die junge, die hübsche, die erfahrene, die unscheinbare, die ... Tanguera es quasi untereinander ausmachen, wer das Risiko eingehen will, als Erste mit mir zu tanzen. Und ich fand es angenehm, nicht gleich beim Betreten des Raumes von einer "alten Spinatwachtel" angefallen zu werden - das war schlicht nicht deren Biotop.
Vielen Dank für den Beitrag, welcher die Unterschiede kontrastreich darstellt:
LöschenIch unterscheide die Tango-Biotope nicht nach dem Vorkommen irgendwelcher weiblicher Vögel.
Eher orientiere ich mich nach dem Fehlen eingebildeter Gockel.
Das ist auch so ein Bias der entstehen kann, wenn man nur sein Heimat-Biotop kennengelernt hat.
LöschenWer quasi von der Pubertät an nur erlebt hat, dass beim Tanzen die Männer fehlen - begleitet von Klagen der Frauen und auch Verfehlungen bei Männen - der glaubt vielleicht irgendwann wirklich, dass die Frauen die Guten und die Männer die Bösen sind.
Wenn man etwas herum kommt, etwa nach Istanbul oder hilftsweise auf Encuentros, kann man das unbefangener einschätzen.
Frauen haben im Schnitt ebenso viele gute und schlechte Eigenschaften wie Männer. Das Problem ist nur, dass Männer in unserer Gesellschaft mehr Möglichkeiten haben, Schaden anzurichten. Und das wirkt sich beim Tango besonders aus.
LöschenAnsonsten bitte ich um Verständnis, dass ich auf Argumente wie „du als Provinzler“ oder „ich war schon weiter weg“ nicht eingehe.
Ich kann nur meine Anregung erneuern, dass du unbedingt einen eigenen Blog aufmachen solltest. Als ersten Beitrag empfehle ich eine Tabelle, auf welchen Events du schon warst und welchen Eindruck du dabei auf die Tänzerinnen gemacht hast. Bereits heute freue ich mich darauf, den Text zu besprechen.
Bei Ersterm gebe ich Dir bezüglich unser allgemeinen Gesellschaft Recht, sehr interessant zu lesen ist das Buch "Die Wahrheit über Eva" (rowohlt, Schaik&Michel, 2020). Beim Tango ist die Situation allerdings speziell, z.B. hat der Begriff "Frauenquote" hier eine ganz andere Bedeutung. Und mindestens die Hälfte aller Tango-Events werden maßgeblich von Frauen veranstaltet, auch das eingangs monierte "Tango Barocco".
LöschenUnd nein, von "Provinzler" habe ich nichts geschrieben. Ich denke, dass der Großraum München sich nicht großartig von anderen Regionen in Deutschland unterscheidet. Aber getreu dem Motto "Negatives wird sofort geglaubt, Positives muss bewiesen werden" fehlt hier ohne eigenes Erleben die Erkenntnis, welche Bedürfnisse so ein Festival wie "Tango Barocco" für die Mehrheit der Tänzer - bei den Teilnehmerzahlen offenkundig hervorragend - erfüllt. Das sind ja im Mittel ganz normale Menschen "wie Du und ich", die (hoffentlich) freiwillig anreisen um dort zu tanzen.
Faktencheck: Das Tango Barocco Festival wird laut Website von drei Frauen und zwei Männern veranstaltet.
Löschen„Das ist auch so ein Bias der entstehen kann, wenn man nur sein Heimat-Biotop kennengelernt hat.“ Ich sehe das schon als provinzielle Anspielung. Und ich habe in 22 Jahren Tango mehr kennengelernt als nur den „Großraum München“. Aber das könnte man ja alles nachlesen.
Was Festivals, Encuentros etc. betrifft: Wenn alle Besucher so begeistert wären, hätte ich keinen Anlass, kritisch darüber zu schreiben. Dann könnte ich höchstens begründen, warum es mich selber nicht hinzieht. Aber ich habe ja nun auf genügend Artikel von mir hingewiesen, die massenhaft Zitate von Besuchern enthalten, die absolut nicht zufrieden waren.
Das berichte ich halt und schließe eigene Gedanken an. Warum dennoch so viele teilnehmen, kann verschiedene Gründe haben. Für mich ist es vor allem der Masseneffekt. Viele suchen halt den Trubel – gibt es auch beim Fußball und in der Popmusik.