Das Virus tanzt mit

Im Internet kursieren derzeit schlechte Neuigkeiten aus Hongkong: Dort wurde ein neuer Shutdown verordnet, da die Infektionszahlen plötzlich wieder stark anstiegen, nachdem man vorher fast wieder auf Null-Niveau war.

Als „ultragroßes Cluster” bezeichnete die Regierungschefin Carrie Lam mehr als 500 Neuinfektionen, die offenbar von Tanzclubs ausgehen. Nun werden wieder Gymnastikkurse gestrichen, die Plätze in Restaurants limitiert, Vergnügungsstätten und Schulen geschlossen. Die Mitarbeiter von Behörden und teilweise auch Firmen werden ins Home Office geschickt.

Die „Pandemie-Müdigkeit“, so die Washington Post in einem Artikel, bringe das Corona-Virus in Teile Asiens zurück.

Für Tanzclubs, so musste die Regierungschefin gegenüber der Presse zugeben, gab es bislang keine behördlichen Restriktionen – das wolle man nun ändern. Seltsam, dass ihr dies jetzt erst auffällt in manchen Clubs scheint sie Mitglied zu sein...

Hierzulande werden ja die „disziplinierten asiatischen Maßnahmen“ zur Pandemiebekämpfung hoch gepriesen – umso unverständlicher mutet ein derartiges Verhalten an. Allerdings, so der Verdacht, gelten behördliche Auflagen gelegentlich nicht für alle Gesellschaftsschichten.

In dem Fall betrifft es vor allem ältere Damen aus gehobenen Kreisen, die sich mit Gesellschaftstanz fit halten und ihre Langeweile bekämpfen: 

„Ihre Ehemänner tanzen nicht, sie pflegen lieber Ballspiele wie Golf ... So wurden diese Tanzlokale zu einem pulsierenden Freizeitmarkt", so George Yip Chi-wai, Präsident des Hongkonger Tanzsportverbands.

https://www.scmp.com/news/hong-kong/society/article/3111507/dance-niche-hong-kong-social-scene-behind-citys-biggest

In der ehemaligen britischen Kolonie gibt es nämlich eine größere Zahl hochedler Clubs, in denen sich die feine Gesellschaft zum Dinieren, Tanzen und Mah-Jongg-Spielen trifft. Die älteren Damen werden dort von jungen Tanzlehrern unterrichtet, welche man teilweise auch – nicht ganz legal – mit Schnellbooten vom chinesischen Festland importiere. Da man nach dem Schwofen oft noch ins Sternelokal ging, betreffen die Ausbrüche auch ziemlich teure Restaurants. 

Die Altersverteilung bei den Infektionen spricht Bände:

Im hochnoblen „Starlight Dance Club“, von dem die Welle zumindest stark befördert wurde, waren fast zwei Drittel der positiv getesteten männlichen Besucher in den Dreißigern, während drei Viertel der entsprechenden Frauen die Sechzig überschritten hatten.

Offenbar gibt es Senioren-Kreise, welche für viel Geld auch private Events organisieren – inklusive Live-Musik, Catering und Tanzlehrern. Die werden, so ein Kenner der Szene, von den Schülerinnen schon mal mit teuren Uhren, iPhones und Luxusklamotten beschenkt. Zitat: „Ich spekuliere nicht, was als nächstes passiert, aber die Beziehung scheint mehr zu sein als ein Lehrer und ein Schüler.“

Und weiter: „Sie fliegen in den Armen ihrer Lehrer herum. Einmal sah ich in einem Restaurant-Tanzsaal eine alte Dame in einem Ballkleid, die ihr Gesicht bedeckte und hinausrannte, als man das Licht andrehte, weil sie nicht wollte, dass die Leute merkten, wie alt sie war.” 

Ein örtlicher Anwalt bezeichnet die Szene als „eine sehr private, versteckte Welt“. Nach dem Essen würden die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen, bevor meist reiche, ältere Damen mit jungen Tanzlehrern aufs Parkett gingen.

Zu Wort kommt auch eine (ungenannt bleiben wollende) Angehörige dieser Zirkel: Die bejahrten Frauen aus reichem Ambiente wollten halt nicht nur zu Hause sitzen und Mah-Jongg spielen. Tanzen sei gesünder. Ihr Interesse sei aber auf den Tanz und nicht irgendwelche Intimitäten gerichtet – abzüglich eines Prozents der Kolleginnen, die schon mal auf falsche Ideen kämen. Masken, so meint sie, seien sicherlich auch auf dem Parkett anzuraten, würden aber oft weggelassen, da sie als „unbequem“ gelten. 

Seriöse Tanzlehrer, die peinlich genau auf Hygieneregeln achteten, sind natürlich ziemlich sauer. „Einige Leute, die sich nicht an die Bestimmungen halten, haben unsere Branche in ein schlechtes Licht gerückt“, so ein örtlicher Salsa- und Bachata-Lehrer. „Nach neun oder zehn Monaten ohne Einkommen begann ich gerade, wieder ein bisschen Geld zu verdienen. Nun ist es vorbei – und ich fürchte, die Leute kommen nicht wieder.“

https://www.scmp.com/news/hong-kong/society/article/3111507/dance-niche-hong-kong-social-scene-behind-citys-biggest

Ich musste bei diesem Thema über zwei Dinge länger nachdenken:

Zweifellos erlangt der gepriesene Begriff „sozialer Tanz“ hier eine neue Bedeutung – das Corona-Virus ist sicherlich ein höchst sozialer Erreger: Egal, ob jung oder alt, arm oder reich, quertanzend oder -denkend – es lässt keine gesellschaftliche Gruppe aus, und nach dem Tanzen kommt es auch gerne mit nach Hause. Es ist, was die Übertragungsmöglichkeiten betrifft, schlicht ein Scheiß-Virus.

Was mich noch mehr bedrückt: Vor der Einsamkeit des Alters schützt offenbar auch großer Reichtum oder hohe Stellung nicht. Wenn ich mir vorstelle, dass sich dann über siebzigjährige Frauen mit Ballkleid und Klunkern behängen, um sich in den Armen eines jungen Eintänzers (dem man vorher noch eine Rolex zugesteckt hat) einmal wie eine Prinzessin zu fühlen… und dann bei hellem Licht flüchten, weil sie sich ihres Alters schämen, macht mich das todtraurig.

Eine Gesellschaft muss sich schon fragen, was eigentlich falsch läuft, wenn man schon ab Fünfzig auf dem Arbeitsmarkt als kaum noch vermittelbar gilt – und später die sozialen Kontakte abbrechen, weil man ab einem bestimmten Alter offenbar als uninteressant gilt. 

Ich sage zum wiederholtem Mal: Der Tanz, auch der Tango, kann es nicht richten. Er ist keine Krücke, die den fehlenden Austausch zwischen den Generationen ersetzt. Das war er schon vor Corona nicht, und das wird während und nach einer Pandemie nicht besser. 

Übrigens hat man in den hochedlen Clubs in Hongkong nicht unbedingt Tango getanzt, sondern ganz allgemein Gesellschaftstänze gepflegt. Dennoch habe ich mich bei den Recherchen gewundert, dass es in Hongkong eine florierende Tangoszene gibt (bzw. gab) – mit dem Schwerpunkten auf großen Festivals und auch Tango-Wettbewerben.

Einen kleinen Eindruck vermittelt das folgende Video. Immerhin scheint man dort auch mal zu Esteban Morgado oder Cáceres zu tanzen. Stressig aber scheinen schnelle Stücke auch für chinesische Männer zu sein. Wegen der Nebengeräusche ist zu vermuten, dass es sich um die Original-Musik handelt, was die Beobachtungen noch amüsanter macht:

Weitere Quellen:  

https://www.washingtonpost.com/world/asia_pacific/hong-kong-coronavirus-dance-cluster-schools/2020/11/30/c58904e4-32df-11eb-9699-00d311f13d2d_story.html

https://hk.appledaily.com/news/20201124/3QNHNQKQCJHODJJ5PXQZ3FWR3Q/

 

 

Kommentare

  1. Hallo Gerhard, erstmal danke für deine wunderbar zu lesenden Artikel!
    Die Situation älterer Damen in edlen Tanzclubs einer ehemaligen britischen Kolonie ist berührend und macht traurig.
    Die Situation älterer Damen in deutschen Milongas ist durchaus vergleichbar. Oder sogar schlimmer?
    Weil sie oft sitzen bleiben..... als wären sie unsichtbar.
    Geld löst nicht das Grundproblem, aber frau in Hongkong kommt damit anscheinend immerhin zum Tanzen.
    Liebe Adventsgrüsse
    Maria

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    1. Liebe Maria,

      die Diskriminierung wegen des Alters hat viele Facetten - das beginnt bei Mini-Renten und endet bei der Vernachlässigung im Pflegeheim. Tango ist da noch ein relativ harmloses Beispiel.

      Leider reagieren viele Ältere mit Rückzug darauf, anstatt sich vehement ins Alltagsleben einzumischen. Das kann nämlich durchaus gelingen.

      Danke und liebe Grüße
      Gerhard

      P.S. Bitte beim nächsten Mal mit vollem Namen kommentieren, sonst schreiben meine Kritiker wieder, ich würde das nur bei negativen Anmerkungen verlangen!

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