Kerzlein leuchte!
Heuer überlasse ich den Weihnachtstext einem Gastautor: Kurt Law Robinson, einem Onkel von Karin. Er hat eine selbst erlebte Geschichte aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft aufgeschrieben. Meine Frau verwendete sie – in dieser gekürzten Form – im letzten Jahr als zentralen Text der alljährlichen Pörnbacher Adventsandacht. Wie so vieles musste diese besinnliche Stunde heuer leider abgesagt werden.
Kurt Law Robinson: „Kerzlein leuchte!“
Eine dicke, weiße Schneedecke hat sich über das weite russische Land ausgebreitet. Kerzengerade steigt der Rauch aus den Kaminen in die frostklare Nacht. Das Poltern und Rasseln der Wagen ist dem leise singenden Knirschen der Schlitten gewichen. Mit den kalten Winternächten und den schneegedämpften Geräuschen des Tages sind in allen deutschen Herzen Weihnachtsgedanken eingekehrt.
Unzertrennlich sind sie für uns verbunden mit frohem Geborgensein, mit gebender und empfangender Liebe, mit Kerzenschein und Kinderjauchzen, mit Schellengeläut und Lebkuchendüften.
So dringt der Weihnachtsglanz auch durch die meterstarken, haushohen Mauern des sowjetischen Staatsgefängnisses, in dem fünf Kriegsgefangene ihrem ungewissen Schicksal entgegen harren.
Am Morgen des 24. Dezember gaben die Lippen der Gefangenen die Gedanken frei, die sie seit Wochen verschlossen. Immer stiller war es in den letzten Tagen auf den vierzehn Quadratmetern der Zelle geworden, die nun – wie lange schon? – ihre Behausung waren. Schachbrett und Bücher der Gefängnisverwaltung boten lange schon keine Unterhaltung mehr.
Wie verschieden waren die Männer nach Alter und Herkunft, die das Schicksal hier zusammengeführt hatte: Neben dem halben Kinde von zwanzig Jahren saß der gereifte Mann im grauen Haar. Sie alle einte der Titel „Klassenfeind“, dem sie ihre Isolation im Gefängnis zu verdanken hatten.
So saßen die Männer, von Tag zu Tag schweigsamer, auf ihren Plätzen. Es wurde so still auf der Zelle, dass der sowjetische Posten auf dem Gang einmal beunruhigt die Klappe an der Tür öffnete: Was ihnen fehle? – „Die Freiheit!“, rief der eine, „Gerechtigkeit“ der andere. Und die Klappe ging wieder zu. Wenn nicht ein jeder von ihnen still für sich brockenweise von seiner Brotration gespart hätte, dann hätte man meinen können, die Erinnerung an Weihnachten sei in den Herzen dieser Männer erloschen.
Aber Gottfried, der Bastler, konnte nicht stille sitzen. Er erhob sich und begann, unter den Putzsachen herumzustöbern.
„Was suchst du denn?“, fragte ihn der Obermaat aus dem Schwarzwald. Ohne aufzublicken entgegnete Gottfried: „Das Paraffin für den Fußboden. Es müsste doch möglich sein, aus der Matratzenfüllung und Paraffin eine Kerze zu zaubern.“
Nach einer Stunde war die Kerze da und hatte die heimliche Brennprobe bestanden. Nun war der Bann gebrochen. Die Offiziere unter den Gefangenen, die ja mancherlei mehr zur Verpflegung erhielten als die Mannschaften, legten ihre Ersparnisse zusammen und stellten fest, dass es zu einer allgemeinen Weihnachtsbescherung mit Weißbrot, Stückzucker, etwas Butter und Tabak reichen würde. Der Obermaat ließ es sich nicht nehmen, vorschriftsmäßig „Reinschiff“ in der Zelle zu machen. Der Balte gab seinem Hang zum Sinnieren nach und suchte passende Worte zur bevorstehenden Feier. So verflogen die Stunden rasch und mit ihnen die trüben Gedanken.
Als in den Nachmittagsstunden die Dämmerung hereinbrach, wurde die Zellentür geöffnet.
„Eijeijei!“, schüttelte der alte Posten den Kopf, „was seid ihr für Teufelskerls! Wo hat man so was je gehört: Weihnachtskerzen im Gefängnis!?“ „Wir werden auch Weihnachtslieder singen“, bereitete Hans schonend vor.
„Oh weh, oh weh!“ Der Posten wehrte ab: „Ihr wollt mich wohl auch noch in die Zelle bringen?“ Schmunzelnd drückte er die Zellentür ins Schloss.
Um acht Uhr abends ist Postenablösung. Der Neue weiß nichts vom Weihnachtsfest der Kriegsgefangenen. Wie wird’s gehen?
Hans, der unbeirrt an die Gutmütigkeit des einfachen russischen Volkes glaubt, schlägt vor, nach dem Abendsüppchen einfach mit der Weihnachtsfeier zu beginnen.
So wird nach dem Abendappell der einzige Hocker in die Mitte der Zelle gerückt, ein Handtuch ersetzt die Tischdecke. Die Suche nach Grünzeug war auf dem glatten Asphalt der Gefängnishöfe ergebnislos verlaufen. So muss die umgestülpte grüne Emailleschüssel als „Mooshügel“ einspringen. Hoch und stolz ragt die Weihnachtskerze über dem aufgebauten Gabentisch. Ein Zündholz flammt auf. Warmer Kerzenschein breitet sich aus und mit ihm jener Duft, den alle Welt bei uns mit den Worten beschreibt: „Es duftet nach Weihnachten.“
Die Männer haben sich, alle in Gedanken versunken, um ihr Heiligtum geschart. Dann erhebt sich der klare Tenor des Obermaates, die anderen fallen ein: „Oh, du fröhliche, oh, du selige …“
An der Tür ging mehrmals die Klappe des Guckloches. Zwischendurch hört man von draußen einzelne Worte der Gefangenenaufseher: „Schau, die Fritze … eine Kerze … sie singen … Wohl ein Feiertag von ihnen? … Aber man muss den Diensthabenden fragen …“ Schritte entfernen sich.
Hans hat übersetzt. Besorgt schauen die Männer sich an. Jetzt gilt’s!
„Weitermachen“, meint Hans zuversichtlich. Da dreht sich der Schlüssel im Schloss. Zum Auslöschen der Kerze ist es ohnehin zu spät; also bleibt alles, wie es ist. Als wollten sie ihn schützen, drängen sich die Gefangenen um ihren Weihnachtstisch. Mit schnellen Schritten betritt der Diensthabende den Raum. An der halbgeöffneten Tür drängen sich zwei Posten.
Leise schwankt die Kerzenflamme vom Luftzug. Wird der Mensch im Feldwebel oder wird das Regime im Sowjetbürger siegen? – Jetzt blickt auch der Diensthabende in den Lichterschein, schweigt eine Weile und fragt dann knapp: „Was soll das?“
Hans muss Dolmetscher und Diplomat zugleich sein: „Ein deutscher Feiertag, der größte des Jahres … Weihnachten!“
Seine Stimme zittert. Sein Herz fleht:
Kerzlein, brenne!
„Aha, Weihnachten?! Bei uns kommt das erst im Januar.“ Die Stimme des Feldwebels wird ruhiger.
Kerzlein, leuchte!
Hans muss wieder den Unterschied der Kalender erklären. Der Diensthabende nickt. „Und woher habt ihr die Kerze?“ Seine Frage wird offen und wahrheitsgemäß beantwortet. Wieder schweigt der Diensthabende.
Die Kerze strahlt ruhig.
Langsam schaut der Feldwebel alle Gefangenen der Reihe nach an. Schließlich entscheidet er kurz: „Dann feiert!“ – Und raus ist er.
Kerzlein, du hast gesiegt!
P.S. Die nächste Adventsandacht in Pörnbach findet am 12.12.2021 um 17.00 Uhr statt!
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