Rückblick auf ein interessantes Jahr

 

Ich kann die Empörung von Lesern ob dieser Überschrift regelrecht fühlen – klar, in den medialen Betrachtungen zu 2020 häufen sich eher Adjektive von „finster“ bis „fürchterlich“. Ich bleibe aber dabei: Ich fand dieses Jahr spannend und aufschlussreich.

Klar, ich gehöre nicht zu den Alleinerziehenden, Gastronomen oder hauptberuflichen Künstlern – und ich sage ja auch nicht, dass meine Einschätzung alle teilen müssen. Dennoch hat die Mehrheit der Bundesbürger weder Hunger gelitten noch musste sie auf der Straße übernachten. Im gelobten Land des deutschen Tango-Aficionado sieht das eher anders aus. Große Spendenaufrufe für den Tango in Argentinien habe ich jedoch nicht erlebt. 

Sicherlich gehöre ich mit meinen festen Bezügen zu den Privilegierten. Schmunzelnd erinnere ich mich an die sittliche Entrüstung eines Berliner Tangofunktionärs, als ich auf Nachfrage antwortete, ich hätte halt außer Tango noch etwas Gescheites gelernt. Mag ja in der Bundeshauptstadt nicht selbstverständlich sein – dennoch bleibe ich bei einem Standpunkt, den ich schon öfters vertreten habe:

Auf breiter Front war Tango noch nie ein lukratives Geschäftsmodell – die Versuche, ihn zur Branche zu machen, waren bereits vor Corona nicht sonderlich erfolgreich und verwandelten diesen Tanz in eine käufliche Ware. Wenn man dann noch versucht, ausgerechnet in Deutschland das „Weltkulturerbe Tango“ zu retten, ohne sich im Mindesten bewusst zu sein, worin dieses tatsächlich besteht, wirkt das für mich lächerlich. Es ist ja verständlich, wenn man schlicht den Hut aufhält, um Spenden zu sammeln – nur sollte man das nicht derartig unglaubwürdig überhöhen 

Der Tango selber wird durch das Virus nicht zugrunde gehen – er lebte stets vor allem vom unentgeltlichen Engagement vieler, welche diese Subkultur trugen und weiter tragen werden. Sie waren auch weniger als die „Profis“ daran beteiligt, das unsägliche Hierarchie- und Kastensystem zu etablieren, das in unserem Tanz so viel kaputtgemacht hat. Wenn daher der eine oder andere Tangolehrer oder Veranstalter wieder als Sozialpädagoge oder Beziehungscoach arbeiten müsste, könnte ich das verkraften.

Mich überzeugen auch die Klagen nicht, Corona habe den Tango nun in zwei Fraktionen gespalten: die Vorsichtigen und jene, welche die Gefahren herunterspielen – beiderseitige Aggressivität inklusive. Sorry, ich habe seit dem Erscheinen meines Tangobuches die Feldschlachten zwischen den Vernagelten und den Vernünftigen lange genug verfolgt und erlitten. Da wurden Aufforderungsriten, Musikauswahl, Tanzweise und Emanzipation zum ideologischen Kriegsanlass erhoben. Nein: Im Tango tummelt sich seit langem ein respektabler Anteil Durchgeknallter – dies wird halt jetzt auch für Beobachter sichtbar, welche bislang von der „liebevollen Bussi-Bussi-Gemeinschaft“ träumten. 

Ich finde es interessant, dass nun nicht mal mehr der Cabeceo große Streitanlässe schafft – selbst Berliner „Prinzessinnen auf der Erbse“ ließen sich wohl derzeit an den Haaren auf die Tanzfläche ziehen, so schwer wiegen die Entzugserscheinungen. Und man wäre auch mit ganz kleinen Milongas zufrieden, selbst mit musikalisch modernen, und ganz ohne Ronda sowie Beinhebeverbote. Dass man solche Erkenntnisse ins „Nach-Corona-Leben“ mitnimmt, glaube ich jedoch nicht. Alle Zeichen, die ich wahrnehmen kann, signalisieren mir die Einstellung: „Wir wollen genauso weitermachen, wie wir aufgehört haben“. Darauf warte ich gern noch etwas länger… 

Dass es auch im Tango Verschwörungsideologen und Corona-Anzweifler gibt, war also zu erwarten. Und die Erscheinung, dass in der gesamten Gesellschaft ziemlich viel wirrer Unsinn verbreitet wird, kann mich ebenfalls nicht wirklich überraschen.

Da ich mich über die Feiertage gesundheitlich etwas schonen musste, suchte ich in meinen alten VHS-Kassetten die zahlreichen Aufnahmen alter Zauberauftritte heraus. Dazu muss ich anfügen: Ich war meist nicht darauf erpicht, dass meine Vorstellungen auf Video gebannt wurden. Im Gegenteil leide ich eher beim Anschauen, da mir stets ganz viele Dinge auffallen, die ich besser hätte machen können. Dennoch war es nach vielen Jahren amüsant, mein „jugendliches Gebaren“ zu verfolgen.

Es waren ganz verschiedene Anlässe – von der großen Bühne bei einem Kongress bis zum Hotel-Nebenzimmer mit einer Geburtstagsfeier. Dabei machte ich eine erstaunliche Entdeckung: Gewisse Gags und Wortspiele verwende ich seit langer Zeit – während das Publikum jedoch vor zwei, drei Jahrzehnten die Sprüche weitgehend kapierte und darüber lachte, erntete ich in den letzten Jahren dazu oft nur verständnisloses Schweigen. 

Beispiel: „Damals war Inflation, da hat man Geldtransporter überfallen und die Reifen mitgenommen.“

(Bei Nichtverstehen einfach nochmal genau durchlesen!)

Sind also die Menschen in den letzten Jahrzehnten dümmer geworden? Na ja, das Sprachgefühl jedenfalls hat gewaltig abgenommen – eine Folge der veränderten Lesegewohnheiten. Ganze Bücher oder wenigstens Leitartikel? Ach was, das Internet liefert uns die Lösung des Problems in drei Sätzen plus einem Video! Auch als Autor und Blogger stelle ich immer wieder verblüfft fest: Was viele für einen inhaltlichen Kommentar zu einem Artikel halten, ist erbärmlich – thematisch, sprachlich und erst recht stilistisch.

Als gelernter Naturwissenschaftler und ehemaliger Gymnasiallehrer weiß ich, wie man seit vielen Jahren Fächer wie Chemie und Biologie kaputtspart, das Anspruchsniveau ins Läppische verschiebt – obwohl sich auf Gebieten wie Genetik und Molekularbiologie das Wissen alle paar Jahre verdoppelt. Dass beispielsweise über die anlaufende Corona-Impfung massenhaft Schwachsinn gelabert wird, ist die logische Folge.  

Verschwörungsmythen erklären uns – im Gegensatz zu wissenschaftlichen Erkenntnissen – die Welt sehr einfach. Das merkt man aber erst, wenn man schwierigere Texte gewohnt ist. Dazu kommen natürlich die simplen Möglichkeiten der Veröffentlichung in den sozialen Medien. Dieter Nuhr meinte einmal, früher habe ein Depp lediglich in sein Bierglas gesprochen, und sein einziger Follower sei der Wirt gewesen. Das hat sich heute gewaltig geändert: Man kann sich die ganze Welt in seiner Filterblase erklären lassen – mit vielfacher Zustimmung und ohne Kontakt mit der Realität.

Zu meiner Jugendzeit las ich eine einzige Zeitung und sah im TV ein Programm, welches sich mangels Konkurrenz „Deutsches Fernsehen“ nannte. Wie schrecklich wurde ich doch von den „Mainstream-Medien“ manipuliert! 

Trotz aller Ungerechtigkeiten, über die man einen Sozialdemokraten wie mich nicht aufklären muss, leben wir Deutsche in einem der am weitesten ausgebauten Sozialstaaten dieses Globus. Leider hat das bei etlichen Zeitgenossen die Einstellung verfestigt, man könne sich jederzeit darauf verlassen, dass der Staat einen aus jeder beliebigen Tinte hole. Und bei schlimmen Ereignissen dafür sorge, dass man ohne jegliche Unbill durchkomme. 

Sorry, aber eine Katastrophe wirkt halt katastrophal – will sagen, sie richtet eben schwerste Schäden an, vor denen keine Gemeinschaft dieser Welt ihre Mitglieder gänzlich bewahren kann. Bestenfalls ist es möglich, das Elend zu lindern und halbwegs gleichmäßig zu verteilen. Bezeichnenderweise sind es genau diejenigen, welche verlautbaren, der Staat habe ihnen gar nichts zu sagen, die sich als erste beschweren, wenn er sie nicht sofort rettet. Ansonsten habe er komplett versagt und wird samt seiner Repräsentanten mit einer Flut von Beschimpfungen überhäuft. 

Besonders stört mich dabei dieses entsetzliche Moralisieren. Man kann gewiss vieles an der Krisenbewältigung bemängeln, aber muss es immer gleich die totale verbale Vernichtung mit Feuer und Schwert sein, die dem anderen unterstellt, er habe mit vollster Absicht alle ins Unglück gestürzt? Auch hier gilt wieder: Gerade bei den größten Schreihälsen hält sich oft die eigene moralische Einstellung in engen Grenzen… 

Was mich an dem Vorwurf besonders amüsiert, wir trieben unweigerlich auf eine Abschaffung der Grundrechte, die Etablierung einer Diktatur, zu: Dafür wird hierzulande noch erstaunlich viel herumkritisiert.

Ich muss hier insbesondere die Contenance einer Politikerin bewundern, welche ich noch nie gewählt habe: unserer Bundeskanzlerin. Da hat man sich nach ellenlangen Konferenzen endlich auf eine gemeinsame Linie geeinigt – und kurz darauf rennt bereits der erste Landesfürst ans Mikrofon und liefert ein Relativierungs-Gelaber ab. Die Versuchung wäre für mich groß gewesen, dies mit dem Zitat des Sachsenkönigs Friedrich August III. zu belegen: „Machd doch eiern Drägg alleene!“ 

Das Gezerre zum Thema „Impfstoff“ bildet nur eines von vielen Beispielen: Schon vor einem Dreivierteljahr fragten Journalisten gefühlte hundert Mal täglich irgendwelche Experten, wann denn nun der Impfstoff komme. Als der nach überraschend kurzer Zeit Realität zu werden drohte, wechselten die Kampfrufe: „Hilfe, man will uns zwangsimpfen – Körperverletzung!“ Derzeit wächst die Empörung, dass nicht genug Vakzin-Dosen geliefert werden – und daran ist natürlich Herr Spahn schuld und nicht die Tatsache, dass ein begehrtes Gut überraschenderweise knapp ist. Ach ja, damit ich’s nicht vergesse: „Welche Privilegien hat man eigentlich als Geimpfter – da muss es doch was geben?“ 

Ich empfehle da einen Satz, den ich als Lehrer stets erfolgreich einsetzte: „Wer drängelt, kommt gar nicht dran!“    

Man kann heute als Verantwortlicher tun oder lassen, was man will – kurz darauf treten dann wieder „Kritiker“ auf, die alles in Grund und Boden motzen. Die Medien berichten begeistert davon, weil Krawall natürlich mehr Leser anlockt als das langweilige, mühsame Bohren dicker Bretter. Und erst recht hacken zuhause im Trainingsanzug die Facebook-Experten ihre Todesurteile in die Tastatur. Klar, man könnte stattdessen mal die betagte Nachbarin anrufen und sie fragen, wie es ihr geht und ob sie vielleicht etwas benötigt. Aber das bringt weder Klicks noch Likes.

Da feiert man doch lieber das eigene Ego ab und fragt nicht, wie man sich verhalten sollte, sondern, was man gerade noch darf. Und parkt dann selbst bei mehr als tausend Covid-Toten täglich noch Ferienorte zu und drängt sich auf der Piste. Ich bin daher sehr froh, dass unsere Regierenden im Schnitt nicht ganz so dämlich sind wie ihre Wähler. 

Woher kommt dieser um sich greifende Irrsinn? Ich glaube, es ist – neben lausigem Bildungsniveau und gnadenloser Egozentrik – vor allem Angst, denn die Situation ist eben, akademisch ausgedrückt, beschissen. Das Virus ist doof wie ein Querdenker, aber viel erfolgreicher: Es kümmert sich nicht um Ideale oder gar Ideologien, sondern steckt schlicht jeden an, der nahe genug dran ist – und davon kann man sehr und lange krank werden oder sogar sterben. Dagegen hilft, wie schon bei der Pest, nur brutale Isolation – mit schlimmen Folgen für Wirtschaft, Bildung, Kultur und Zusammenleben. So ist das eben. Punkt. 

Verständlich, dass sich viele in Gedankengebäude flüchten, die ihnen einfache und schmerzlose Lösungen vorgaukeln: Dass dieses Virus nur eine Erfindung der Pharmaindustrie sei, oder jedenfalls viel harmloser, dass man nur die Grundrechte wieder voll ausleben müsse, und alles sei paletti. Und, für den Deutschen unverzichtbar: Die Klärung der Schuldfrage

Doch, es war wirklich ein sehr interessantes Jahr, das mich zu einer Rekordzahl von Artikeln inspiriert hat und mir vieles klargemacht hat, was ich eigentlich hätte wissen müssen:

Dass es letztlich genau zwei Sorten von Menschen gibt – diejenigen, welche nur an sich denken und solche, die auch andere im Blick haben. Und vor allem, dass all unsere „modernen“ Errungenschaften wie die Erfolge von Naturwissenschaft und Technik, Demokratie, Toleranz und Liberalität keine feststehenden Konstanten darstellen, sondern täglich neu erkämpft werden müssen. Sonst landen wir ganz schnell wieder im Mittelalter. 

Was ich als Satiriker hierfür tun kann, werde ich weiter liefern – vor allem eines: Es denen, welche aus meiner Sicht einen an der Klatsche haben, auch deutlich mitzuteilen. Und nicht erstaunt zu sein, wenn die sich darüber aufregen.

In diesem Sinne wünsche ich meinem Lesern ein gutes Neues Jahr und – nein, nicht Gesundheit – sondern viel mehr: Glück!


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