Der größte Lump im ganzen Land…
Jörg Buntenbach, der sicherlich über intime Kenntnisse zum Berliner Tango verfügt, berichtete kürzlich in einem Artikel von „Geheim-Milongas“, zu denen Insider – wohl vorbei an behördlichen Infektionsschutz-Bestimmungen – eingeladen würden. Lehne man dankend ab, müsse man im querdenkenden Sinne einer „Gehirnwäsche“ gewärtig sein. Starker Tobak!
Der Autor geht noch einen Schritt weiter:
„Einige räumen anderen großzügig das Recht ein, die Einladung zu einer Geheim-Milonga dankend abzulehnen, wenn die oder der Eingeladene das ‚Geheimtreffen‘ jedoch zur Anzeige bringen würde, wäre das ein Grund, den Kontakt abzubrechen.
Viele lehnen Denunziantentum grundsätzlich ab. Das ist aus gutem Grund nachvollziehbar. Menschen mit Blockwartmentalität haben in der Regel keine Freunde.“
https://www.tango-argentino-online.com/post/tango-im-untergrund
Klar, wissen wir doch alle: „Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.“ Oder?
Buntenbach versieht in seinem Artikel den bösen Begriff jedoch mit einem Fragezeichen, und der Blogger Thomas Kröter setzt in einem eigenen Text diesen Gedanken fort:
„Aber er fragt, wo die Grenze zu ziehen sei ‚zwischen Denunziation und einer sinnvollen und notwendigen sozialen Kontrolle, die eine funktionierende Gesellschaft braucht‘? Die Vorsicht, mit der er das Thema anfasst, lässt mich darauf schließen, dass die Zahl derer, die von ihren Gegnern gelegentlich als ‚Covidioten‘ bezeichnet werden, zumindest in dem von ihm in Augenschein genommenen Teil der Tangoszene nicht kleiner ist als in der Gesamtgesellschaft. Auch ich bin bereits durch oberflächliches Surfen auf Beiträge gestoßen, in denen Menschen von Veranstaltungen mit C 19-Infektionen berichten, aber keine Namen nennen. Begründung: Sie wollten niemanden persönlich kritisieren.“
http://kroestango.de/aktuelles/untergrundtango-nein-danke/
Da hat der Schreiber sicherlich recht: Eine Szene, welche mehrheitlich Tangomusik nach 1960 für untanzbar hält und um das Zublinzeln zwecks Aufforderung jahrelange Glaubenskriege anzettelt, hat genügend an der Waffel, um auch noch querdenkend aktiv zu werden. Und die Größe der Klappe ist oft umgekehrt proportional zum Mut, sich namentlich zu einer Ansicht zu bekennen oder andere konkret zu benennen. Man könnte ja – zumindest zu normalen Zeiten – des Bussi-Bussi-Abrazo verlustig gehen.
Zurück
zur Kernfrage! Ich habe den
schillernden Begriff ein wenig recherchiert und bin der Überzeugung: Wer bei uns eine
nach den aktuellen Bestimmungen untersagte Veranstaltung den Ordnungsbehörden
meldet, begeht keine Denunziation! Man mag es im Einzelfall übertrieben, ungeschickt oder kleinkariert finden, mehr jedoch nicht.
Voraussetzung ist allerdings, dass den Betreffenden keine „niedrigen Beweggründe“ leiten. Diese definieren sich im Strafrecht so:
„Unter niedrigen Beweggründen versteht man alle, die nach allgemeiner rechtlich-sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen, durch hemmungslose Eigensucht bestimmt und deshalb besonders verachtenswert sind.“
https://www.iurastudent.de/definition/niedrige-beweggr%C3%BCnde
Die Anzeige sollte also – entgegen tangospezifischer Gewohnheit – nicht anonym erfolgen oder gar den Zweck haben, dem Kollegen Tangolehrer oder Veranstalter eins auszuwischen oder sonstige Fehden auszutragen. Die Absicht aber, weitere Infektionen zu verhindern, zählt sicherlich nicht zu den sittlich verwerflichen Motiven.
https://de.wikipedia.org/wiki/Denunziation
Und natürlich muss die Bestimmung, auf die man sich beruft, rechtsstaatlich einwandfrei sein. Trotz gegenteiliger Ansichten aus dem Querdenker-Lager halte ich dies für absolut gegeben, da die maßgeblichen Autoritäten unseres Staates immer noch aus freien Wahlen hervorgehen. Der Klageweg gegen Bestimmungen, welche man für rechtswidrig hält, steht jedem offen, wird auch oft genug und manchmal sogar erfolgreich beschritten. Nur: Wenn’s denn dann so gilt, endet mein persönlicher Interpretations-Spielraum – so wie bei der Bußgeldhöhe für ein bestimmtes Delikt im Straßenverkehr.
Der negative Klang des Begriffs „Denunziation“ geht halt auf Diktaturen zurück, in denen diese Voraussetzungen nicht galten. Gerade im Dritten Reich waren die Anreize, unliebsame Personen zu melden, riesig:
Bereits im März 1933 traten Bestimmungen in Kraft, die nach ihrer Verschärfung 1934 unter dem Begriff „Heimtückegesetz“ gehandelt wurden. Bereits dadurch war die Meinungsfreiheit drastisch eingeschränkt:
„§ 3 (1) Wer vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder eines Landes oder das Ansehen der Reichsregierung oder einer Landesregierung oder der hinter diesen Regierungen stehenden Parteien oder Verbänden schwer zu schädigen, wird, soweit nicht in anderen Vorschriften eine schwere Strafe angedroht ist, mit Gefängnis bis zu zwei Jahren und, wenn er die Behauptung öffentlich aufstellt oder verbreitet, mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft. (2) Ist durch die Tat ein schwerer Schaden für das Reich oder ein Land entstanden, so kann auf Zuchthausstrafe erkannt werden. (3) Wer die Tat grob fahrlässig begeht, wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bestraft.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Heimt%C3%BCckegesetz#Verordnung_von_1933
Im Frühjahr 1934 starteten die NSDAP-Propagandisten eine „Aktion gegen Miesmacher und Kritikaster“. Bis ins kleinste Dorf fanden dazu Veranstaltungen statt. Die Welle an Denunziationen war derartig gewaltig, dass die Behörden schließlich dem sogar entgegenwirken mussten.
https://de.wikipedia.org/wiki/Aktion_gegen_Miesmacher_und_Kritikaster
Eine andere Chance, unliebsamen Nachbarn eins auszuwischen, war die „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ vom 1.9.1939: Im § 1 wurde „das absichtliche Abhören ausländischer Sender“ verboten und bei Zuwiderhandlung mit Zuchthausstrafe bedroht, deren Dauer nicht begrenzt war. Leichtere Fälle waren mit Gefängnisstrafe zu ahnden; das Rundfunkgerät war einzuziehen. Im § 2 wurde die Verbreitung der abgehörten Nachrichten, welche „die Widerstandskraft des deutschen Volkes“ gefährdeten, mit Zuchthausstrafe und in besonders schweren Fällen mit der Todesstrafe bedroht.
https://de.wikipedia.org/wiki/Verordnung_%C3%BCber_au%C3%9Ferordentliche_Rundfunkma%C3%9Fnahmen
Eine besonders scharfe Waffe im Meinungskampf waren die Bestimmungen zur „Wehrkraftzersetzung“ ab 1938. Die konnten schon jemanden treffen, der „öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht“. Schon in „minder schweren Fällen“ konnte auf Gefängnis oder Zuchthaus erkannt werden. Es wurden aber auch Tausende von Todesstrafen verhängt (auch die Verurteilung von Mitgliedern der „Weißen Rose“ beruhte auf dieser Bestimmung).
https://de.wikipedia.org/wiki/Wehrkraftzersetzung
Fassen wir zusammen:
Wer damals geheime, verbotene Treffen organisierte, konnte mit der Guillotine Bekanntschaft machen. Heute erhält man schlimmstenfalls einen Bußgeldbescheid, gegen den man den Rechtsweg beschreiten kann. Und vor allem: Die jetzigen Regeln verletzen die Menschenwürde nicht, sondern dienen dazu, Menschenleben zu retten. Aber klar kann man Verbote übertreten. Wenn man dann auf Grund einer Anzeige erwischt wird, ist es keine gute Idee, von „Denunziation“ zu faseln.
Andererseits gilt natürlich: Wer eine Ordnungswidrigkeit nicht anzeigt, macht sich nicht strafbar – im Gegensatz zu Kapitalverbrechen, wo diese Pflicht besteht (§ 138 StGB). Und Fingerspitzengefühl hat noch nie geschadet.
Wie man sich also konkret verhalten sollte, wenn man von einer „Geheim-Milonga“ erfährt, hängt sehr von den speziellen Umständen ab. Keinesfalls käme ich auf die Idee, aktive Nachforschungen nach Illegalem zu betreiben. Und wenn vier oder fünf Leute zuhause ein Übungsstündchen veranstalten, würde ich dies als „Privatsache“ betrachten. Events in üblicher Milongagröße sicherlich nicht. Und selbst bei geringen Erfolgsaussichten würde ich ein Gespräch versuchen. Leider sind aber die Fronten inzwischen ideologisch verhärteter als beim Cabeceo.
Wenn es daher mit rationalen Argumenten nicht geht, muss halt Strafe sein – ob nun jemand sich weigert, im Supermarkt eine Maske zu tragen oder es für den Weltuntergang hält, noch eine Zeitlang auf gewohnte Tangoerlebnisse zu verzichten.
Spätestens aber, wenn man mich dann als „Denunziant“ bezeichnen würde, griffe ich zum Notruf.
P.S. Wie es sicher nicht geht, zeigt eine meiner Lieblings-Satiresendungen:
Kommentare
Kommentar veröffentlichen