Blick übern Zaun: L-O-V-E


Vielen in unserer Szene täte es wahrhaft gut, sich einmal mit „Non Tango-Tänzen“ zu befassen – aber Artfremdes wird ja von vielen „Experten“ bei uns als qualitativ minderwertig oder jedenfalls uninteressant abgetan.

Auf Facebook hat mir mein Berliner Tangofreund Tom Opitz gestern ein wunderbares Beispiel geliefert. Es stammt aus der Welt des Boogie Woogie.

Wikipedia weiß von diesem Tanz zu berichten:

Er entstand in den 1920-er Jahren in den USA aus dem East Coast Swing und Lindy Hop. „Boogie Woogie“ nennt man ihn nur in Europa, wohin ihn amerikanische Soldaten nach dem 2. Weltkrieg brachten. Wegen der gefühlten „Unmoral“ und den schwarzen Wurzeln („Negermusik“) lehnten es die Tanzlehrer bei uns zunächst ab, ihn zu unterrichten. Der „Tanzpapst“ Alex Moore (Autor des Standardwerks „Ballroom Dancing“) äußerte, nie zuvor etwas „Grässlicheres“ gesehen zu haben. In Milchbars mit Musikboxen wurde umso heftiger experimentiert, wurden Figuren erfunden und abgeschaut – zweifellos eine jugendliche Subkultur!

Die Schleusen öffnete 1956 der Film „Außer Rand und Band“ („Rock around the clock“), in dem Bill Haley alles niederrockte. Krawalle der „Halbstarken“ in und vor den Kinos waren die Folge, der „Rock’n Roll“ war geboren.

Einen Eindruck vermittelt der folgende Filmausschnitt: hohe Beine, fliegende Röcke, Würfe – welche Verletzungsgefahr! Und die Frauen auf flachen Schuhen – geht ja gar nicht:



Wegen der jugendlichen Begeisterung entschlossen sich die Tanzlehrer dann doch widerstrebend, den Tanz in einer „europäisch“ glatt gebügelten Variante zu unterrichten. Als Jive (abgeleitet vom „Jitterbug“) ist er seit 1968 einer der zehn Turniertänze (nicht ganz logisch in der lateinamerikanischen Sektion).

Das folgende Tanzschul-Video illustriert diese Mentalität. Wie in vielen Tangokursen wird viel geredet, die Musik spielt keine Rolle. Und weshalb die dargebotene Figur ausgerechnet „Flirt“ heißt, erschließt sich mir nicht auf Anhieb:

Ich finde die Parallelen zu den aktuellen Debatten im Tango herrlich: Immer wieder versuchen „Experten“ zu beurteilen, welche Art von Musik denn nun zum Tanzen geeignet sei und wie eine „nicht anstößige“ (im wahrsten Sinne) Interpretation denn auf dem Parkett auszusehen habe. Dies wird dann in einer „kastrierten“ Form den Schülern beigebogen. Ziel ist damals wie heute: Jeder Depp muss es hinkriegen können. Was die „Freaks“ tanzen, ist verdächtig und daher auszusortieren.

Jugendliche „Halbstarke“, die mal eine konservative Milonga zerlegen, fehlen leider. Die schon von draußen zu hörende Musik schreckt sie wohl nachhaltig von solchem Tun ab.

Glücklicherweise ist die Domestizierung nicht in allen Tänzen gelungen. Die Show von Thomas Audon und Sophie Allaf beweist es. Die beiden Franzosen haben seit 2011 im Boogie Woogie so ziemlich alles gewonnen: Welt- und Europameisterschaft, Weltcup und viele nationale Titel. Das folgende Video von der Welttanz-Gala 2017 in Baden-Baden werde ich mir noch oft ansehen:


Klar, der abschließende „Pflichtteil“ zum Little Richard-Klassiker „Tutti Frutti“ (1955) muss sein, da können es die beiden (auf höchstem technischen Niveau) so richtig krachen lassen. Was sie aber vorher zu der Bert Kaempfert-Melodie „L-O-V-E“ (1964) abliefern (übrigens eher ein „Non Boogie“), finde ich sensationell.
Warum das Stück diesen Titel hat, beweist vor allem Sophie Allaf mit umwerfendem Charme. Wer sich im Tango für Musikinterpretation interessiert, sollte in diese Mentalität abtauchen anstatt bei Lavocah Telefonbuchwissen oder bei Amenábar Rhythmus-Schemata durchzukauen.

Wie heißt es so schön bei Duke Ellington und Irving Mills?

"It don't mean a thing, if it ain't got that swing,
It don't mean a thing, all you got to do is sing.
It makes no difference
If it's sweet or hot.
Just give that rhythm
Everything you've got.”

Gib diesem Rhythmus einfach alles, was du hast” – und vergiss das ganze Führungs- und Schritte-Gedudel der Tanzlehrer! Dann wird es – neben den selbstverständlichen technischen Fertigkeiten – das, was das Paar bei seinem Tanz ausstrahlt: Freude an der Musik und Spaß an der Bewegung. Die vermisse ich im heutigen Tango schmerzlich. Du musst es fühlen – oder dir ansonsten ein anderes Hobby suchen.

Diese Erkenntnis befiel sogar den Münchner Sportlehrer, DJ und Hausverbots-Erteiler Jochen Lüders auf der FB-Seite von Tom Opitz zu diesem Video:

„ZeusStehMirBei, die haben ja SPASS und ‚tanzen‘ nicht mit Trippelschrittchen und ernster Miene zu schrammeliger Uralt-Gähn-Musik im Kreis herum ...“

Tja, wo er mal recht hat, hat er recht… Und ich bin und bleibe wohl ein Tango-Halbstarker".

Nun hat mich mein Leser Robert Wachinger auf ein Video aufmerksam gemacht, welches eindrucksvoll zeigt: Tanzen kann man in jedem Alter. Und, was offenbar die Boogie-Szene vom der Tangogemeinschaft unterscheidet: Dort bejubeln junge Leute den Tanz der „Ollen“, statt hochnäsige Kommentare abzugeben.

 
Der erste, welcher den Bert Kaempfert-Song mit einem Text interpretierte, war Nat King Cole. Hören wir zum Schluss nochmal rein: 

  

Kommentare

  1. Tja die Flirt-Figur. Ich wusste bisher nicht, dass sie so heißt, aber flirten kann man mit der sehr gut; natürlich nicht so, wie dort gezeigt. Aber ein kleiner Hüftschwung in Richtung des Partners, einer kleinen Berührung der Hüften, und einem verlegen-schmachtenden Blick, macht daraus einen kleinen Flirt.
    Frank Becker aus Wuppertal

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    1. Tja, die Tanzlehrer sind sehr kreativ mit ihren Bezeichnungen...
      Aber klar, es geht nicht um die Schrittfolge selber, sondern die Art, wie sie getanzt wird. Audon und Allaf zeigen sie ja auch in ihrer Show. Da merkt man dann, was es bedeuten könnte.

      Besten Dank für den Beitrag!

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  2. Robert Wachinger19. Januar 2020 um 20:12

    Hübsch.
    Bin natürlich bei youtube gleich vom hundertsten ins tausendste gekommen und dann auf das gestossen:
    https://m.youtube.com/watch?v=Ft99FKKsqqE
    ;-)
    Geht also auch in unserer Altersklasse noch ;-)

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    1. Lieber Robert,

      vielen Dank für das großartige Video! Ich habe es im Text eingestellt.

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