Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählt… 21


Bei meinen Milonga-Besuchen bemerke ich immer mal wieder das Wirken von Tangolehrern. Ich könnte wetten, dass man derzeit erneut eine segensreiche Idee durch die Tangodörfer treibt: Nachdem man die Tänzerinnen lange Zeit als pure Anhängsel der männlichen Führungskünste hinstellte, hat man momentan offenbar ein neues Leitbild entdeckt: die eigenständige Frau.

Seither verlasse ich Tangoabende öfters mit Kreuzschmerzen.

Vorher hatte ich dann Erlebnisse wie diese:

In einer bestimmten, mir geeignet erscheinenden Situation gebe ich der Tanzpartnerin mehr Raum. Plötzlich rappelt sie im Stakkato-Tempo los, als wolle sie einem Schwarm Wespen den Zutritt zu ihren Unterschenkeln verwehren – natürlich ohne jeden Zusammenhang mit der Musik. Dann weiß ich: Aha, der „Verzierungs-Verkäufer“ war wieder da.

Was ich an den historischen Tangoaufnahmen besonders schätze, sind die Legato-Stellen, wo man auf einem Streicherteppich – nur angetrieben von einigen Klavier-Akkorden – übers Parkett schweben kann. Tja, denkste: Aus mir unerfindlichen Gründen macht die Dame aus ein paar simplen Rückwärtsschritten eine Staatsaktion mit der Dynamik einer Militärparade – so kräftig und zackig wie möglich.

Zu einer ruhigen Musik führe ich einige sanfte Rückwärtsochos. Doch kaum hat die Tanguera den „Befehl” zu dieser Aktion verstanden, möchte sie mir zeigen, welch tolle, völlig überdrehte Achter sie kann. Natürlich mit dem Bewegungsablauf: Erstmal einen Riesenschwung holen, losbrettern, am Drehpunkt in der Höhe erstarren und anschließend runterdonnern wie auf den Brechreiz-Erzeugern der Volksfeste. Das kann man öfters wiederholen.

Das Gleiche lässt sich auch bei Sacadas anwenden: Am höchsten Punkt der Auslenkung des freien Beins erstarren wie Lots Weib. Kurz vor dem Umfallen nach hinten bei maximaler Panik des Herrn dann weitertanzen!

Drehungen werden selbstverständlich nicht rund, sondern quadratisch bis vieleckig gestaltet, damit es schön ruckelt. Dabei den Körper bei jedem Bodenkontakt herumreißen, damit der Tänzer ja nicht auf nur einem Bein mitdrehen kann!

Und vor allem kommt das „Hase und Igel-Schema“ zum Tragen: Solche Tänzerinnen wollen mir stets beweisen, dass sie „schon da“ sind – mithin verkürzen sie ständig Zeiten und Wege. Manche choreografischen Manöver sind mir so schlicht unmöglich, weil ich unentwegt der Dame hinterhertanzen muss.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass solche Aktionen gerade mich besonders hart treffen. Womöglich bin ich selber schuld, da ich ja als „dynamischer Tänzer“ gelte. Hurra, dann wollen wir ihm doch mal zeigen, mit welcher Verve wir tanzen, wie dynamisch wir uns bewegen können! Zudem neigen ja Frauen nicht nur dazu, dem Männe die herumliegenden alten Socken wegzuräumen, sondern ihm auch beim Tanzen zu „helfen“…

Nein, meine Damen, lasst bitte Gnade und Barmherzigkeit walten – ich werde heuer 69 und wäre sehr froh, den Bogen, welchen ich um Orthopäden schlage, noch etwas verlängern zu können. Und ich will mit euch tanzen und nicht raufen!

Daher möchte ich euch heute eine Übung vorschlagen, die man sehr gut außerhalb von Tangokursen ausprobieren kann: Geht doch einfach mal aufs Klo! Aber nicht, wenn es schon sehr pressiert, sondern vielleicht, um sich auf einer Milonga die Hände zu waschen oder das Makeup nachzuziehen. Es eilt also nicht, und vielleicht lauft ihr ein wenig eleganter als gewöhnlich, da euch ja der eine oder andere Tänzer beobachten könnte. Möglicherweise geht ihr sogar, da ja Musik spielt, in deren Tempo und Rhythmus.

Auf jeden Fall aber: Es ist ein völlig banaler Vorgang, bei dem ihr euch kein bisschen anstrengen müsst. So – und wenn ihr das einige Male gemacht habt, wisst ihr genau, wo sich das Örtchen befindet, und könnt den Weg mit Rückwärtsschritten unternehmen. Ihr dürft euch trotzdem gerne umsehen, aber bitte bewegt euch weiterhin lässig und unangestrengt.

Und man muss ja nicht ständig Schritte setzen. Vielleicht bleiben wir auch einmal kurz stehen, weil jemand unseren Weg kreuzt oder uns grüßt? Also: keine Hektik – Zeit lassen! Wer besonders ruhig gehen möchte, kann sich noch ein Buch (vielleicht den "Milonga-Führer") aufs Haupt legen.

Nun, meine Damen, stellt euch vor, dass jemand euch begleitet und bei jedem Schritt zusätzlich schubst. Nett, gell? So fühlen sich eure Tanzpartner! Wenn ihr euch nämlich zu sehr bemüht, füttert ihr den Tanz mit übermäßiger Energie – und die muss ja irgendwo hin: Im Zweifelsfall ins Kreuzbein des Tänzers, der das Geruckel und Getobe irgendwie stabilisieren darf.

Damit wir uns nicht missverstehen: Dies ist kein Plädoyer für langweiliges und lasches Getanze – im Gegenteil: Schneller und spritziger wird man aber durch Entspannung, nicht durch Verkrampfung. Im Tango gilt das Prinzip der Impuls-Erhaltung: Hat man sich mit einer bestimmten Energie in Bewegung gesetzt, sollte man alles unterlassen, was diese vernichtet. Man muss dann gar nicht viel zusätzlich aufwenden, um im „Flow“ zu bleiben. Und bei Stopps nicht völlig erstarren, sondern die Energie durch binnenkörperliche Aktionen speichern!

Es ist übrigens erstaunlich, wie wenig dieses Können von Alter und Körpergewicht abhängt. Wenn man zu wenig aufgefordert wird, sollte man dies einmal bedenken anstatt die ewigen Klischees von „jung, blond und naiv“ herunterzubeten. Für mich sind Lässigkeit und Entspannung der entscheidende Schlüssel zum guten Tanzen, nicht nur im Tango. Wer als Tanguera den Ruf anstrebt, „leicht“ zu tanzen, sollte sie beherzigen.

Wie grausig der Zusammenstoß zweier Massen ausfallen kann, die mit zu viel Energie unterwegs sind, zeigt eine meiner Lieblings-Filmszenen, die ich schon einmal veröffentlicht habe:



Näheres zum Film findet man hier:

Ein Leser schrieb mir damals dazu:

„You may get the tango out of the jungle, but you never get the jungle out of the tango.”

Ich hoffe zugunsten meines bejahrten Bewegungsapparats, dass er sich irrt!

P.S. Und öfter mal aufs Klo gehen, gell?

Kommentare

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