Die Eunuchen entdecken den Missstand
„Niemand urteilt
schärfer als der Ungebildete, er kennt weder Gründe noch Gegengründe.“
(Anselm Feuerbach)
Nun
gut: Ein nicht mehr ganz jugendliches Paar tanzt also in einer herbstlichen Szene zu Astor Piazzollas „Oblivion“. Die Stimmung ist gut eingefangen. Ebenso
kann ich an der musikalischen
Interpretation nichts Schreckliches finden. Die Dame bemüht sich um
zahlreiche hohe Beinaktionen, die
für mich etwas „gewollt“ wirken und nicht den Gipfel von Leichtigkeit und
Eleganz bilden – ebenso wenig wie die ein wenig hölzerne
Bewegungsweise des Tänzers. Und wieso die Tanguera auf dem blanken Erdboden
unbedingt in High Heels agieren
muss, verstehe ich auch nicht so ganz.
In
meiner Sicht: Nichts Großartiges, aber recht
nett gemacht – und die beiden nennen nicht mal ihre Namen, beanspruchen
keine „Professionalität“ und werben mit dem Video für gar nichts. (Inzwischen weiß ich, dass die beiden auch Tangobilder verkaufen – ich habe jedoch 24 Stunden gebraucht, das herauszufinden!)
Was
mich dann aber total verblüffte, waren die teilweise vernichtenden Kommentare aus dem Leserkreis:
„Das Geld für die
Gancho-, Volcada-, Boleo-Workshops war gut investiert. Für das Video hätten
Musik und Landschaft gereicht.“
„Karatekas würden
diese Bewegung als Beleidigung ihrer Kampfsportkunst werten.“
„Wenn man sich nicht
von ihr stören lässt, kann man zu jeder Musik tanzen.“
„Nett anzuschauen – aber die Frage, ob die beiden beim Tanzen Musik gehört
haben, bewegt mich auch.“
„Auch wenn ich mich
jetzt bei einigen Tangowissenden unbeliebt mache: Für mich ist es grottig. Er
stakst vor der Dame herum, diese schleudert ungeführt ihre Beine durch die
Gegend. Irgendeine ‚Verbindung‘ im Paar, außer dass sie sich gegenseitig
festhalten, ist nicht zu erkennen. Vielleicht sollte man sich ein Video
anschauen bevor man es postet...“
Insbesondere ein Münchner
Neo-DJ, der seit Längerem nicht nur im Internet mit der verbalen Guillotine unterwegs ist, kann sich kaum einkriegen:
„Oh Göttin, ist das
furchtbar. Nach was tanzen die beiden denn da? Ist es wirklich ‚Oblivion‘, oder
wurde die Musik nachträglich nur untergelegt? Falls ‚Oblivion‘, wäre es nicht
schlecht, zumindest ab und zu die Betonungen der Musik (z.B. im Bass) tänzerisch
umzusetzen? Umarmung bzw. Kontakt innerhalb des Paares ist praktisch nicht
vorhanden. Die meisten Ganchos sind grausam, weil die Frau (wie so viele) aktiv
ihr Bein durch die Gegend bewegt. (…)
Entweder sie hatte(n)
einen miesen Lehrer oder unsere ‚Tango-Diva‘ hat nicht gut aufgepasst. Ein
Gancho ist kein aktives Treten/Kicken der Frau!“
Doch, das kann ein Gancho
oder Boleo durchaus sein – da er nicht zwingend geführt werden muss… Und ich sehe bei dem Paar weit mehr Verbindung als auf Neolongas in der bayerischen Landeshauptstadt. Aber über all das
kann man selbstverständlich geteilter
Meinung sein.
Was mich in solchen Situationen wirklich bewegt: Der Stil mag einem gefallen oder auch
weniger – auf jeden Fall aber braucht man Jahre, bis man einen Tango derartig
tanzen kann – und ein Video dieser
Art entsteht auch nicht dadurch, dass man sein Smartphone drei Minuten über den
Kopf hält. Ziemlich viel Arbeit
also.
Ich finde, dies sollte man zumindest auch respektieren. Was aber passiert realiter? Man setzt sich an
den Computer und hackt in wenigen Minuten und Zeilen ein Werturteil zusammen, das auf die zentralen Begriffe „grottig“, „grausam“, „furchtbar“ oder „mies“ setzt – und auf nicht allzu viel mehr.
Klar stimmt es, wenn ein angesprochener Kommentator dann feststellt: „Aber wer sich öffentlich zeigt, muss auch mit Kritik
zurechtkommen.“
Es wäre allerdings schon einmal zu fragen, ob einige
zusammengeklopfte, holzige Sprüche für sich schon das Prädikat „Kritik“ beanspruchen können. Nach
meiner Meinung gehört dazu schon etwas mehr als nur der Rat, sich das Video
anzusehen, bevor man es postet – im Klartext: Wer das tut, könne eigentlich nur
zu einer bestimmten Wertung kommen.
Sorry: Man kann und darf es auch anders einschätzen.
Oder handelt es sich bei solch verbaler Kraftmeierei um Satire? Ich fürchte: nein. Die sollte
schon einmal eine gewisse literarische
Qualität aufweisen. Und zudem passt die Zielrichtung nicht. Hätte das Tanzpaar seine Vorführung vollmundig
beworben und zudem in der Szene einen berühmten Namen, könnte man darüber
reden, da man in diesem Fall von unten
nach oben kritisiert.
Obwohl mir immer wieder das Gegenteil unterstellt wird: Ich
überlege mir bei jedem Blogartikel sehr genau, ob es gerechtfertigt ist, reale Personen mit
Formulierungs-Spitzen zu attackieren. Wenn es sich irgendwie vermeiden lässt,
verzichte ich darauf und kritisiere lieber in allgemeiner Form. Und es hat das
private Vergnügen des Satirikers zu bleiben, die eigene Tanzweise mancher Protagonisten zu kennen…
Es gibt tänzerische Szenen, wo man mit Respekt und Anerkennung für die Leistung anderer kommuniziert (zum Beispiel
beim Salsa) – auch und gerade, wenn der eigene Geschmack davon abweicht. Im
Tango hingegen ist es hingegen schon fast eine Pflichtübung, individuelle Tanzstile erbarmungslos niederzumachen – eine
immense Werbewirkung für neue
Interessenten: Man weiß dann gleich, dass man so zu tanzen hat wie alle anderen – und schon gar nicht auf die Musik von Piazzolla.
Mit derartigen Manövern habe ich weiß Gott Erfahrung –
fast jedes meiner Tanzvideos wurde
auf diese Weise in Grund und Boden gedisst. Zu einem schrieb der Kommentator:
„Erst
dachte ich an einen schlecht programmierten Roboter, dann erkannte ich doch
noch, in den Hosenbeinen steckt ein Mensch, der staccatohaft fast exakt den
vorgegebenen Takt in den Boden nagelt, ohne zu tanzen und ohne Rücksichtnahme
auf sein Gegenüber, mit schlechter Körperhaltung und fehlendem Gespür für die
Musik.“
„Ich
filme mich nicht beim Tangotanzen, heute Abend werd ich eine Ausnahme machen
und dir dann morgen zeigen, wie s geht. Guck dir das Video einfach mehrmals an
und versuche mich nachzumachen, dann klappt s auch bei dir vielleicht noch mit
dem Tangotanzen.“
Wen überrascht es, dass ich bis heute auf diesen Bildbeitrag warte? Als ich damals einige Tage später nachfragte, wurde ich lediglich mit weiteren wüsten
Beschimpfungen überzogen. Tja, es lebe die „Eunuchen-Kritik“:
Wissen, wie’s geht…
Daher werde ich den Showtänzer Carlos Copello gerne noch ein paar Mal zitieren, weil er mir aus
dem Herzen spricht:
„Und deshalb sage ich
nicht: ‘Ich bin der König des Tango.’ Nein, ich habe meinen Stil, meine Art.
Das ist mein Tango. Ich weiß nicht, ob er ganz toll ist, ganz schlecht oder
Mittelmaß. Und mich kümmert es nicht, es herauszufinden. Ich weiß, was ich
fühle, wenn ich tanze, und ich weiß, was ich tue. Das war’s dann schon, verstehen
Sie? (...)
Jeder von uns hat seinen Stil.Und ich mag die Leute, die einen persönlichen
Stil haben, einen individuellen Stil für alles. In ihrer Aufmachung, ihrem
Tanz, in allem, ganz egal, was sie tun. (...) Persönlichkeit, das ist es!"
Ich finde auch: Persönlichkeit ist die zentrale
Anforderung – nicht nur für Tänzer,
sondern auch für Kritiker.
https://www.youtube.com/channel/UCLIv8CFOfats2Svc8MiXLzA/videos
P.P.S. Kollege Thomas Kröter hat zum selben Thema einen empfehlenswerten Blogartikel verfasst. Nun weiß ich auch, dass es sich bei den Akteuren um Caroline Roling und Jürgen Kühne handelt – beide wohl lupenreine Amateure in Sachen Tanz:
http://kroestango.de/aktuelles/aufgespiesst-von-freundlichen-taenzerlnnnen/
Mehr Sachlichkeit zum Thema geht nicht mehr! Danke Gerhard.
AntwortenLöschenNa ja... sachlich... es ist schon eine Glosse. Vermutlich werden etliche Leser diese Sicht nicht teilen.
LöschenMein Hauptmotiv für den Artikel war es, die Sinne für einen Unterschied zu schärfen: differenzierte Kritik versus Heruntermachen.
Herzlichen Dank und weiterhin viel Freude auch mit den Videos!