Die Eunuchen entdecken den Missstand


„Niemand urteilt schärfer als der Ungebildete, er kennt weder Gründe noch Gegengründe.“
(Anselm Feuerbach)

Katastrophen beginnen ja häufig mit Harmlosem – so wie hier: Blogger-Kollege Thomas Kröter postete am 24.9.19 auf seiner Facebook-Seite ein Tanzvideo mit den Worten: „schön so“.


Nun gut: Ein nicht mehr ganz jugendliches Paar tanzt also in einer herbstlichen Szene zu Astor Piazzollas „Oblivion“. Die Stimmung ist gut eingefangen. Ebenso kann ich an der musikalischen Interpretation nichts Schreckliches finden. Die Dame bemüht sich um zahlreiche hohe Beinaktionen, die für mich etwas „gewollt“ wirken und nicht den Gipfel von Leichtigkeit und Eleganz bilden – ebenso wenig wie die ein wenig hölzerne Bewegungsweise des Tänzers. Und wieso die Tanguera auf dem blanken Erdboden unbedingt in High Heels agieren muss, verstehe ich auch nicht so ganz.

In meiner Sicht: Nichts Großartiges, aber recht nett gemacht – und die beiden nennen nicht mal ihre Namen, beanspruchen keine „Professionalität“ und werben mit dem Video für gar nichts. (Inzwischen weiß ich, dass die beiden auch Tangobilder verkaufen ich habe jedoch 24 Stunden gebraucht, das herauszufinden!)

Was mich dann aber total verblüffte, waren die teilweise vernichtenden Kommentare aus dem Leserkreis:     

„Das Geld für die Gancho-, Volcada-, Boleo-Workshops war gut investiert. Für das Video hätten Musik und Landschaft gereicht.“

„Karatekas würden diese Bewegung als Beleidigung ihrer Kampfsportkunst werten.“

„Wenn man sich nicht von ihr stören lässt, kann man zu jeder Musik tanzen.“

„Nett anzuschauen aber die Frage, ob die beiden beim Tanzen Musik gehört haben, bewegt mich auch.“

„Auch wenn ich mich jetzt bei einigen Tangowissenden unbeliebt mache: Für mich ist es grottig. Er stakst vor der Dame herum, diese schleudert ungeführt ihre Beine durch die Gegend. Irgendeine ‚Verbindung‘ im Paar, außer dass sie sich gegenseitig festhalten, ist nicht zu erkennen. Vielleicht sollte man sich ein Video anschauen bevor man es postet...“

Insbesondere ein Münchner Neo-DJ, der seit Längerem nicht nur im Internet mit der verbalen Guillotine unterwegs ist, kann sich kaum einkriegen:

„Oh Göttin, ist das furchtbar. Nach was tanzen die beiden denn da? Ist es wirklich ‚Oblivion‘, oder wurde die Musik nachträglich nur untergelegt? Falls ‚Oblivion‘, wäre es nicht schlecht, zumindest ab und zu die Betonungen der Musik (z.B. im Bass) tänzerisch umzusetzen? Umarmung bzw. Kontakt innerhalb des Paares ist praktisch nicht vorhanden. Die meisten Ganchos sind grausam, weil die Frau (wie so viele) aktiv ihr Bein durch die Gegend bewegt. (…)
Entweder sie hatte(n) einen miesen Lehrer oder unsere ‚Tango-Diva‘ hat nicht gut aufgepasst. Ein Gancho ist kein aktives Treten/Kicken der Frau!“

Doch, das kann ein Gancho oder Boleo durchaus sein – da er nicht zwingend geführt werden muss…  Und ich sehe bei dem Paar weit mehr Verbindung als auf Neolongas in der bayerischen Landeshauptstadt. Aber über all das kann man selbstverständlich geteilter Meinung sein.

Was mich in solchen Situationen wirklich bewegt: Der Stil mag einem gefallen oder auch weniger – auf jeden Fall aber braucht man Jahre, bis man einen Tango derartig tanzen kann – und ein Video dieser Art entsteht auch nicht dadurch, dass man sein Smartphone drei Minuten über den Kopf hält. Ziemlich viel Arbeit also.

Ich finde, dies sollte man zumindest auch respektieren. Was aber passiert realiter? Man setzt sich an den Computer und hackt in wenigen Minuten und Zeilen ein Werturteil zusammen, das auf die zentralen Begriffe „grottig“, „grausam“, „furchtbar“ oder „mies“ setzt – und auf nicht allzu viel mehr.

Klar stimmt es, wenn ein angesprochener Kommentator dann feststellt: Aber wer sich öffentlich zeigt, muss auch mit Kritik zurechtkommen.“

Es wäre allerdings schon einmal zu fragen, ob einige zusammengeklopfte, holzige Sprüche für sich schon das Prädikat „Kritik“ beanspruchen können. Nach meiner Meinung gehört dazu schon etwas mehr als nur der Rat, sich das Video anzusehen, bevor man es postet – im Klartext: Wer das tut, könne eigentlich nur zu einer bestimmten Wertung kommen. Sorry: Man kann und darf es auch anders einschätzen.

Oder handelt es sich bei solch verbaler Kraftmeierei um Satire? Ich fürchte: nein. Die sollte schon einmal eine gewisse literarische Qualität aufweisen. Und zudem passt die Zielrichtung nicht. Hätte das Tanzpaar seine Vorführung vollmundig beworben und zudem in der Szene einen berühmten Namen, könnte man darüber reden, da man in diesem Fall von unten nach oben kritisiert.

Obwohl mir immer wieder das Gegenteil unterstellt wird: Ich überlege mir bei jedem Blogartikel sehr genau, ob es gerechtfertigt ist, reale Personen mit Formulierungs-Spitzen zu attackieren. Wenn es sich irgendwie vermeiden lässt, verzichte ich darauf und kritisiere lieber in allgemeiner Form. Und es hat das private Vergnügen des Satirikers zu bleiben, die eigene Tanzweise mancher Protagonisten zu kennen…     

Es gibt tänzerische Szenen, wo man mit Respekt und Anerkennung für die Leistung anderer kommuniziert (zum Beispiel beim Salsa) – auch und gerade, wenn der eigene Geschmack davon abweicht. Im Tango hingegen ist es hingegen schon fast eine Pflichtübung, individuelle Tanzstile erbarmungslos niederzumachen – eine immense Werbewirkung für neue Interessenten: Man weiß dann gleich, dass man so zu tanzen hat wie alle anderen und schon gar nicht auf die Musik von Piazzolla.

Mit derartigen Manövern habe ich weiß Gott Erfahrung – fast jedes meiner Tanzvideos wurde auf diese Weise in Grund und Boden gedisst. Zu einem schrieb der Kommentator:

„Erst dachte ich an einen schlecht programmierten Roboter, dann erkannte ich doch noch, in den Hosenbeinen steckt ein Mensch, der staccatohaft fast exakt den vorgegebenen Takt in den Boden nagelt, ohne zu tanzen und ohne Rücksichtnahme auf sein Gegenüber, mit schlechter Körperhaltung und fehlendem Gespür für die Musik.“
„Ich filme mich nicht beim Tangotanzen, heute Abend werd ich eine Ausnahme machen und dir dann morgen zeigen, wie s geht. Guck dir das Video einfach mehrmals an und versuche mich nachzumachen, dann klappt s auch bei dir vielleicht noch mit dem Tangotanzen.“

Wen überrascht es, dass ich bis heute auf diesen Bildbeitrag warte? Als ich damals einige Tage später nachfragte, wurde ich lediglich mit weiteren wüsten Beschimpfungen überzogen. Tja, es lebe die „Eunuchen-Kritik“: Wissen, wie’s geht…

Daher werde ich den Showtänzer Carlos Copello gerne noch ein paar Mal zitieren, weil er mir aus dem Herzen spricht:

Und deshalb sage ich nicht: ‘Ich bin der König des Tango.’ Nein, ich habe meinen Stil, meine Art. Das ist mein Tango. Ich weiß nicht, ob er ganz toll ist, ganz schlecht oder Mittelmaß. Und mich kümmert es nicht, es herauszufinden. Ich weiß, was ich fühle, wenn ich tanze, und ich weiß, was ich tue. Das war’s dann schon, verstehen Sie? (...)
Jeder von uns hat seinen Stil.Und ich mag die Leute, die einen persönlichen Stil haben, einen individuellen Stil für alles. In ihrer Aufmachung, ihrem Tanz, in allem, ganz egal, was sie tun. (...) Persönlichkeit, das ist es!"

Ich finde auch: Persönlichkeit ist die zentrale Anforderung – nicht nur für Tänzer, sondern auch für Kritiker.

P.S. Das Tanzpaar hat eine ganze Reihe von Videos in unterschiedlichen Szenerien und mit sehr vielfältiger Musik veröffentlicht. Bei Interesse hier nachschauen:
https://www.youtube.com/channel/UCLIv8CFOfats2Svc8MiXLzA/videos

P.P.S. Kollege Thomas Kröter hat zum selben Thema einen empfehlenswerten Blogartikel verfasst. Nun weiß ich auch, dass es sich bei den Akteuren um Caroline Roling und Jürgen Kühne handelt beide wohl lupenreine Amateure in Sachen Tanz:
http://kroestango.de/aktuelles/aufgespiesst-von-freundlichen-taenzerlnnnen/ 

Kommentare

  1. Mehr Sachlichkeit zum Thema geht nicht mehr! Danke Gerhard.

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    1. Na ja... sachlich... es ist schon eine Glosse. Vermutlich werden etliche Leser diese Sicht nicht teilen.
      Mein Hauptmotiv für den Artikel war es, die Sinne für einen Unterschied zu schärfen: differenzierte Kritik versus Heruntermachen.
      Herzlichen Dank und weiterhin viel Freude auch mit den Videos!

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