Tango: zu welchem Zweck?


In meinen Zauberprogrammen begegne ich häufig dem Ansinnen, magisch bestimmte Wünsche erfüllen zu sollen. Gerne wird dann gefordert, ich möge doch den Hundert-Euro-Schein eines Zuschauers vermehren, ihm ein Bier her- (oder seine Frau weg-) zaubern. Als Antwort verwende ich meist eine Formulierung unseres Altmeisters Punx:

„Zauberei ist die Kunst der erhabenen Zwecklosigkeit. Bei realen Wünschen versagt sie.“

In unserer Facebook-Gruppe wurde ich neulich daran erinnert. Ein Kommentator sah drei Gründe, Tango zu tanzen:

„1. Weil man befreundet ist (=Vertrauen und Verbindlichkeit)
2. Weil man sich sexuell oder wie auch immer attraktiv findet
und mindestens genauso verlockend:
3. Weil man die Energie, die der andere verbreitet, teilen möchte.

Jemand, der mir im Gespräch, oder im Tanz, oder beim gemeinsamen Fußballspiel Inspiration und Energie gibt, mit dem teile ich gerne meine Zeit…“

Aha: Ich teile also meine Zeit mit Menschen, von denen ich dafür etwas bekomme… Dies motivierte mich, einen weiteren Grund hinzuzufügen:

„Oder: 4. Weil man selber gerne tanzt und jemanden sucht, der dieses Interesse teilt. Geben muss er mir nix dafür.“

Anschließend sprach ich noch davon, der Tango sei für mich „zweckfrei“. Dies wollte ein anderer Schreiber so nicht stehen lassen: Es gebe viele, auch geschlechtsspezifische Antriebe:

„Bei Frauen dürfte die Lust an der tänzerischen Bewegung, an der Umarmung und dem Genuss von männlicher Körperlichkeit, ohne gleich Sex haben zu müssen, im Vordergrund stehen.
Bei den Männern würde ich die eigene Kraft, innere Stärke und Selbstwirksamkeit hervorheben.“

Na ja, ob Frauen im 21. Jahrhundert noch „Sex haben müssen“? Wenn, dann hoffe ich doch: freiwillig und gerne!

Aber ganz allgemein: Klar gestehe ich jedem seine persönlichen Motive zu, Tango zu tanzen. Selber habe ich mich schon als Jugendlicher mit Vergnügen zu  Musik bewegt, die mich dazu animierte: ob Operette, Musical, Swing – kurz gesagt: Tanzmusik. Zu meiner Zeit waren die Optionen eher überschaubar, daher landete ich halt beim „Welttanzprogramm“ der Tanzschulen. Natürlich entwickelt man seine persönlichen Vorlieben, weshalb ich vor 20 Jahren beim Tango argentino hängen blieb.

Ich glaube, dass dies bei Leuten wie mir an einem bestimmten „Tanz-Gen“ liegt: Wenn zur Bewegung anregende Musik erklingt, können sie einfach nicht stillsitzen – und selbst in Konzerten wippen sie dann mit den Füßen oder klopfen den Rhythmus dazu auf dem Knie (vielleicht sogar auf dem eigenen).

Und sicher verstehe ich jeden, der gerade den Tango argentino hierfür besonders schätzt. Was mich in der Tangoszene allerdings irritiert, ist die teilweise grenzenlose Verachtung, mit der man auf andere Tänze, insbesondere den „Standard-Tango“, herabsieht. So las ich erst jüngst wieder in einen Kommentar:   

„Ich habe irgendwann aufgehört zu sagen, dass ich Tango Argentino tanze. Warum muss ich mich von diesem ADTV-Gehampel, welches den Namen Tango geklaut hat, abgrenzen? Lieber sollten die ihres ‚tangoa alemana‘ nennen.“

Nun ja, wenn man schon gescheit (und auch noch spanisch) daherreden möchte: „Deutscher Tango“ würde ich mit „tango alemán“ übersetzen…

In meiner Sicht spuckt ein Tanzbegeisterter nicht Gift und Galle, wenn er andere Tänze sieht – im Gegenteil: Zumindest achtet er die Bemühung und freut sich, dass sich die Tanzenden – zu welcher Musik und in welcher Weise auch immer – auf dem Parkett bewegen.

Daher verfestigt sich bei mir immer mehr der Eindruck, dass es vielen in unserer Szene gar nicht hauptsächlich ums Tanzen geht. Eher bildet die Beherrschung einiger Schrittmuster auf dem Parkett die Eintrittskarte zu einer Welt, von der man sich ganz andere Dinge erwartet.

Ein Symptom ist für mich auch, dass man sich ängstlich an die Mainstream-Tangomusik der 1930-er bis 50-er Jahre klammert. Klar gibt es auch da tänzerisch interessante Aufnahmen – den Durchschnitt jedoch bildet ziemlich simple Schlagermusik in konstantem Tempo und mit überschaubarer Gliederung. Kennst du eine, kennst du alle… Sicherlich kann man dazu ganz nett tanzen – aber ausschließlich und unter größtmöglicher Verachtung für jegliche andere Musik, andere Tanzstile?

Lange Zeit kam ich immer wieder ins Grübeln, wenn hundertprozentige EdO-Anhänger beteuerten, sie benötigten ein ganzes Leben, um wirklich alle Feinheiten dieser Aufnahmen vertanzen zu können: Was hörten die da, was mir verborgen blieb? Ich fürchte inzwischen, die vernehmen erst nach Jahren das, was sich einem geübten und passionierten Tänzer ziemlich rasch erschließt…

Bezeichnend auch die Antipathie in diesen Kreisen, wenn man versucht, den Ritus der Aufforderungen zu liberalisieren: Igitt, dann müsste ich ja mit jeder tanzen… wie schrecklich! Überhaupt liegt es im Trend, die Zeiten auf dem Parkett zu reduzieren. Motto: Es muss halt wirklich alles passen, sonst lässt man es lieber. Und früher oder später wird man DJ, Veranstalter oder Tangolehrer, dann kann man auf das lästige Rumgehüpfe fast ganz verzichten.

Was ich erst jüngst wieder erleben durfte: An sachlichen Diskussionen zum Tango hat man dann null Interesse – wieso auch, wenn man ihn lediglich als Mittel zu ganz anderen Zwecken benötigt!

Insgesamt gibt es also sicher Ursachen oder Gründe, warum man gerne tanzt – aber muss es Zwecke, sprich Ziele geben? Für mich jedenfalls nicht – und da haben Zauberei und Tango viel gemeinsam: Ein rotes Seidentuch weiß zu färben ist ebenso sinn- und zweckfrei wie mit einer Frau im Arm im Kreis zu laufen. Der einzige Grund, der mir für beides einfällt, ist: Ich finde es schön.

Machen wir uns nichts vor: Der Tango hat längst Warencharakter angenommen. Der Verkauf des entsprechenden Produkts wird dann mit Mystifizierungen überhöht. So schreibt die argentinische Lehrerin Maria Mondino (von mir übersetzt):

„Die Umarmung ist absolut heilsam. Die Umarmung ist das Mächtigste, was man einem anderen Menschen geben kann. Absolut heilend. Und es gibt viele Menschen, die das brauchen. Irgendwie zieht dich die Umarmung aus und macht dich nackt. Es ist ein großes Thema, auch für die Lehrer, den Menschen hier zu vermitteln, was wir fühlen, wenn wir in Buenos Aires mit diesen Männern tanzen, die dich umarmen, als ob sie dich für immer lieben, mit dieser Männlichkeit, mit diesem Gefühl, dass sie auf dich aufpassen, dir zuhören, dich wie eine Königin behandeln, so viele Dinge, die du in nur einer Umarmung fühlen kannst. Das ist so mächtig, so schön.“ 

O je, hamm’ses nicht ‘ne Nummer kleiner? Kein Wunder, dass heute massenhaft Therapiebedürftige auf die Milongas rennen (und da sind welche darunter, bei denen sich mir der Begriff „Sexualneurotiker“ durchaus aufdrängt) und dem Tango schier unerfüllbare Sehnsüchte überstülpen: Erotik, Sex, Geld, Geltungsbedürfnis und Befreiung aus der selbstverschuldeten Einsamkeit – bei etlichen Singles in der Szene ist mir jedenfalls glasklar, wieso sie welche sind und es auch bleiben werden.     

Der oben zitierte Kommentator führt ein sehr bezeichnendes Zitat an:                   

„Dazu fällt mir ein Spruch von Juan Camerlingo ein, der mal auf einem Workshop den anwesenden Männern zurief: ‚Chicos, seid ehrlich. Wir wollen nicht tanzen. Wir hassen es sogar. Wir sind nur zu feige die Frau an der Bushaltestelle zu fragen ob wir sie in den Arm nehmen dürfen. Deswegen lernen wir tanzen.‘“

Echt? Dann lasst es lieber – und sucht euch besser ein gruppendynamisches Seminar aus der Psycho-Abteilung oder meldet euch bei einer Partnervermittlung an!

In einer Lieblingsstelle aus meinem Tangobuch (die ich bei jeder Lesung einsetze) habe ich die Problematik so beschrieben:

Warum also geht man zum Tango? Darauf gibt es viele Antworten, und jede davon ist grundsätzlich in Ordnung, ob es sich dabei um Selbsttäuschung handelt oder nicht. Auf den ersten Blick steckt zumeist das dahinter, was die Biologen „Sozialattraktion“ nennen, also das Bestreben nach Erfolg im Kontakt mit anderen Menschen – und dieses weite Spektrum reicht von Macht und Geld über Geselligkeit, Geborgenheit sowie Freundschaft bis hin zu Erotik und Sexualität.
Doch da ist der Tango ziemlich zickig: Je mehr man sich von ihm erwartet, desto weniger bekommt man. Wer also jenseits einer herrlichen Musik und eines faszinierenden Tanzes noch anderes sucht, der wird meistens frustriert: Restaurierung des angeknacksten Selbstbewusstseins, Finden einer neuen Geschlechterrolle, eine Machtstellung ausüben, zu den „wichtigen Leuten“ gehören, Geld verdienen, den Traumpartner für den Lebensabschnitt finden oder gar die krisenhafte Ehe retten?
Da dreht einem der eitle Tango fast immer eine Nase: Ätsch, nun gerade nicht! Wer aber das nimmt, was er ziemlich automatisch bekommt, nämlich einen Tanz zu diesen unglaublichen Klängen, wird (zumindest prinzipiell) nicht enttäuscht – und wenn die „Tangodiva“ gerade ihren guten Tag hat, kriegt man als Draufgabe vielleicht einen Hauch Sympathie und Zärtlichkeit, ein wenig Nestwärme, ein bisschen Schwerelosigkeit und Schweben… aber nur geschenkt, nicht geliefert!

Daher richtet sich mein Buch in erster Linie an die, welche nichts erwarten: die Tänzer. Na, heute Abend schon etwas vor? Nein? Dann lasst uns doch tanzen gehen – vamos bailar!

Wahrlich: Ein paar Tänzer mehr täten dem Tango gut!
Illustration: www.tangofish.de

Kommentare

  1. „Oder: 4. Weil man selber gerne tanzt und jemanden sucht, der dieses Interesse teilt. Geben muss er mir nix dafür.“
    "Müssen" sowieso nicht, d.h. ich erwarte nichts, aber lasse mich halt von der anderen (in meinem Fall ist das nunmal meistens eine "Sie" ...) gerne überraschen und nur ungern enttäuschen (in letzterem Fall kann ich im Extremfall durchaus auch "nachtragend" sein und diese Dame niemals wieder auffordern...).

    Allerdings glaube ich auch festgestellt zu haben, dass Tänze (für mich) sehr viel schöner werden, wenn ich wenigstens prinzipiell (also ohne Alter von uns beiden, Umstände etc zu berücksichtigen) mir mit ihr auch eine (sexuelle) Beziehung vorstellen könnte. ;-)

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  2. Na ja, wenn's nicht passt, hat man es halt einmal probiert und lässt es in Zukunft lieber. Als "nachtragend" würde ich das nicht bezeichnen.

    Und dass man tänzerische Harmonie manchmal mit weitergehenden Vorstellungen verbindet, kann ich als Mann durchaus verstehen. Ich fürchte nur, für die meisten Frauen liegen beide Effekte Lichtjahre voneinander entfernt. Daher rate ich nicht nur Kavalieren, sondern auch Tänzern, sowohl zu genießen als auch zu schweigen...

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