Der Gastlehrer-Tsunami
Interessante Texte entdeckte ich heute auf dem mir
bislang unbekannten Blog „THE TANGO
LESSON“. Betrieben wird es von dem australischen Tanzpaar John und Cheryl Lowry. Sie tanzen seit
ihrem 18. Lebensjahr miteinander (damals noch Rock’n Roll) und kamen mit Shows
und als Lehrer durch die ganze Welt. Seit 1999 sind sie dem Tango
verfallen. Näheres hier:
Ein Beitrag auf ihrer Seite betitelt sich „Do Touring Tango Teachers Help or Hinder
Local Tango Communities?” („Fördern oder behindern reisende Tangolehrer die
lokalen Tangoszenen?“). Ich habe ihn
(leicht gekürzt) übersetzt.
Tangoshows, so John Lowry,
förderten sicherlich immer wieder das Interesse für diesen Tanz, so wie bei
ihnen die Produktion „Tango Pasión“
mit dem Sexteto Mayor.
Aber,
so fährt er fort:
Jedes Jahr spült ein weiterer Tsunami argentinische Tanzlehrer an unsere
Küste. Einige dieser tourenden Lehrer sind in den USA und Europa ansässig,
andere in Argentinien.
Australien ist aufgrund seines Reichtums ein Hauptziel für reisende Profis
geworden. Mit Newslettern und Social Media-Werbung werden die Tugenden der
nächsten „Maestros“ atemlos gepriesen und betont, wie glücklich wir seien, mit
ihrer Anwesenheit gesegnet zu sein.
Die meisten Besucher werden von Schulen als Teil ihres Geschäftsmodells
oder von wohlmeinenden Clubs engagiert, die ihren Gesellschaftstänzern eine
größere Vielfalt bieten möchten.
Aber helfen oder behindern sie lokale Tango-Gemeinschaften? Verbessern oder
hemmen sie den Standard und die Qualität des sozialen Tangotanzes?
Meiner Erfahrung nach erwecken Gastlehrer kein signifikantes neues
Interesse an Tango. Eher locken sie Menschen an, die bereits in ihren lokalen
Gemeinschaften mit dem Tanz vertraut gemacht wurden.
In einer Woche kann man Tango (oder etwas darüber) nicht lernen. Es ist wie
das Erlernen eines Musikinstruments. Es dauert Jahre des engagierten Lernens,
des regelmäßigen Übens und des Diskurses. Es sind Ihre lokalen Lehrer, die
Woche für Woche die harte Arbeit leisten, die grundlegende Technik
unterrichten, korrigieren und fördern und die Musik, die Codes, die Kultur und
vieles mehr besprechen.
Einige der Gastlehrer sind, wie wir wissen, sehr nette Tänzer, andere sind
(oder waren) hochkarätige Künstler. Einige sind nicht gerade inspirierend als
Lehrer oder Gesellschaftstänzer. Einige der Werbevideos zeigen schwerwiegende
Mängel in der Tangotechnik des Gesellschaftstanzes. Das Lesen der Lebensläufe
vieler Gastlehrer zeigt, dass sie Absolventen von Tanzschulen und Universitäten
sind, die Bühnen-/ Show-Tanz lehren, entweder allgemein oder spezifisch Tango,
oder sie zitieren die Interpreten, von denen sie gelernt haben, und die
Bühnenshows, in denen sie aufgetreten sind. Ihr primäres oder ursprüngliches
Ziel war es, Arbeit in Tango-Kabarettshows und auf der Bühne zu erhalten,
ergänzt durch das Erteilen von Unterricht. Jetzt wird es immer mehr üblich für
einige, ihr Geld damit zu verdienen, Jahr für Jahr um die Welt zu touren. In
der Regel sind Workshops für lokale Verhältnisse teuer, und der Privatunterricht
kann bis zu 200 AU$ kosten (ca. 120 € - Anm. d. Übers.).
Vieles von dem, was sie lehren, ist eine auf Figuren basierende
modifizierte Tanzweise. Das ist verständlich, weil sie (nach dem, was wir auf
YouTube sehen) verbreitet sowie unterhaltsam ist und Workshops ein paar spaßige
und gesellige Tage bilden können. Einige Gastlehrer werden versuchen, die
Unterschiede zwischen geselligem Tanzen und Show herauszustellen, aber sie
wissen zwei Dinge:
1) Ihr Hauptziel ist es, zu unterhalten, und
2) sie können nicht hoffen, ein bleibendes Erbe zu hinterlassen.
Sie lehren zwangsläufig eine Abfolge von Figuren, die in wenigen Wochen
meist vergessen ist.
Was sie jedoch hinterlassen, ist ein modifizierter Demonstrations- /
Performancestil, der einen neuen Gesellschaftstanz hervorgebracht hat. Es ist
in Ordnung, wenn man das tanzen will. Vielleicht passt es zur westlichen Kultur
und zum Verständnis von Tanz als unterhaltsame Erholung, wie Jive, Swing, Salsa
oder New Vogue. Kreativität und Selbstdarstellung werden oft als
erstrebenswerte Ziele genannt.
Es ist eine Geschichte, die sich wiederholt, als sich Tango in den 1920-er
Jahren in Standardtango in Europa verwandelt hat, zuerst von argentinischen
Gastlehrern und ansässigen Lehrern eingeführt und dann von britischen Tanzschul-Lehrern
kodifiziert, um einen wettbewerbsfähigen, beurteilbaren Lehrplan zu erstellen. Klingt
das bekannt?
(…)
Sozialer Tango ist kein
Tanz der hohen Fersen, kein ausgelassenes Freizeitvergnügen. Er ist keine „Schau
mich an" -Demonstration von Kicks, Ganchos und ausgefallener Beinarbeit.
Sein eigentliches
Ziel ist „Teilen und Sorgen". Teilen Sie Zeit, Raum und Musik in einer
liebevollen Umarmung. Teilen Sie den Tanz mit jedem anderen Paar im Raum.
Kümmern Sie sich um den Partner, die Musik und jedes andere Paar im Raum.
Tango ist von seiner
besten Seite erfüllend, kontemplativ, kollaborativ, spirituell, respektvoll und
bezaubernd. Es hilft, Gleichgewicht, Bewusstsein, Bodenständigkeit, Zentrierung
und Harmonie herzustellen. Es ist ein Tanz der Konzentration, der Verbindung,
der Entspannung und der stillen Kommunikation. Das Ergebnis ist eine wunderbare
Partnerschaft.
Wenn Sie gut genug
sind, um die Informationen von Gastlehrern einzuordnen, zu filtern und in Frage
zu stellen, können Sie im Laufe der kurzen Zeit einige neue und interessante
Dinge lernen, die jeder mit seiner eigenen Einstellung oder seinem eigenen
Tangostil lehrt.
Von einem Workshop
oder einem Kurs in den nächsten zu rennen ist jedoch ein todsicheres Rezept für
Verwirrung. Tango ist sehr persönlich; Jeder Lehrer hat eine andere Art, sein
Wissen zu vermitteln, und die Technik kann sehr unterschiedlich sein.
Anfänger oder
durchschnittliche Tänzer sollten sich bewusst sein, dass sie durch die
Teilnahme an Gastworkshops keine kompetenten Tangotänzer werden. Dazu brauchen
Sie das langfristige Engagement guter lokaler Lehrer. (…)
Also,
wie lautet die Antwort?
•
Nehmen Sie an Workshops teil, haben Sie Spaß und filtern Sie, was Sie mitnehmen
möchten.
•
Beobachten Sie andere Tänzer und Lehrer und überlegen Sie, wie Sie tanzen
möchten.
•
Finden Sie einen lokalen Lehrer, der tanzt, was Sie bevorzugen.
•
Ehren Sie Ihre lokalen Lehrer und halten Sie sich an Ihre Wahl, bis Sie
wirklich kompetent sind.
•
Denken Sie daran: Der Weg zählt mehr als das Ziel!
Hier
der Originaltext:
Mir
ist natürlich klar, dass John Lowry
stellenweise das hohe Lied der „traditionellen“ Tanzweise singt. Das ist in
seinem Alter kein Wunder. Und sicherlich ist sein Lob der lokalen Tangolehrer
nicht ganz uneigennützig: Schließlich bietet er daheim Tangokurse an. Andererseits
war er offenbar oft genug auch in anderen Ländern als Gastlehrer tätig – und auf
seiner Website finden sich genügend Referenzen von Tangogrößen. Marketing ist
ihm also – wie der kritisierten Konkurrenz – nicht fremd:
Dennoch stimme ich ihm im Kern zu.
Ich habe heute einmal in der (inzwischen
wieder zur Werbeseite verkommenen) Facebook-Gruppe „Tango München“ einmal nachgezählt: In den letzten 14 Tagen gab es
dort ganze 18 Posts mit Angeboten reisender Tangolehrer.
Genauere Erklärungen
dessen, was man da aus der Wundertüte zieht, haben Seltenheitswert. Üblich sind
mehr oder weniger originelle Schlagzeilen
wie „Advanced
basic tango“,
„Crossed vals“, „Milonga girls and displacements“ oder schlicht: „Tango figures“ (alles aus derselben
Einladung).
Oder, auch sehr hübsch: „Traditional and not so traditional ornaments, side step, ochos
backward and foreward, static feed speed, musicality Calo and Pugliese”.
Die
Werbung beweist oft ein geradezu grausliches
Formulierungstalent – man darf dann froh sein, wenn man dergleichen nicht
auf Deutsch geboten erhält: „Exploring
the limits of time and space. Intensive, for advanced and intermediate tango
dancers“.
Und
selbstverständlich werden die Stars stets mit glühenden Super-Duperlativen gerühmt. Ein Foto wie dieses ist als ungewollte
Satire unübertrefflich:
Trotz
des „professionellen“ Nüstern-Blähens wirkt solche PR ziemlich amateurhaft. Wären die angepriesenen
Stars wirklich solche Cracks, könnten sie sich gute Werbetexter und Fotografen
leisten. Diese würden dann nicht Technicolor-Bildchen liefern, welche für mich
stilistisch oft zwischen Heimatfilm-Postern der 1950-er Jahre und Schulmädchen-Reports
der 70-er rangieren. Da trauere ich Zeiten nach, wo unterm Dirndl wenigstens
nur gejodelt wurde…
Sicherlich
kann der eine oder andere „Workshop“ einmal eine neue Anregung liefern. Tango
lernt man dadurch aber nicht, da hierzu so gut wie immer zwei Dinge gehören:
Durch
unsere bescheidene „Wohnzimmer-Practica“
ist mir noch viel deutlicher geworden, wie lange
man mit einem Paar arbeiten muss, bis sich die Fortschritte auch stabilisieren.
Eine „Schnellbleiche“ von wenigen
Stunden (und dann noch in Gruppenform) bewirkt da sehr wenig – die persönliche Beziehung ist unabdingbar.
Weiterhin
sind die meisten Gastlehrer in erster Linie Showtänzer, keine Milongueros. Tango als Gesellschaftstanz kann man
jedoch erfolgreich nur lehren, wenn man selber sehr viel auf Milongas tanzt. Diese Erfahrung ist durch nichts zu
ersetzen. Wie wenig die meisten Gastlehrer damit am Hut haben, sieht man immer
wieder, wenn ein solches Paar bei der Abschlussmilonga auftritt. Sie sind
ausschließlich an ihrer Performance interessiert, den Rest des Abends sind sie
entweder nicht anwesend oder ziehen sich in die hinterste Ecke zurück. Das
Treiben auf der Piste ist ihnen völlig schnuppe.
Daher
hat John Lowry natürlich recht:
Wahrer Gesellschaftstanz ist weit mehr als ein zusammengekaufter Figurensalat. Technik, Musikalität und Harmonie im Paar sind die entscheidenden Basics – Ganchos und andere Fußspielchen lediglich die Tüpfelchen auf dem I.
Ausländischer Starruhm und Hochglanz-Werbung sollten kein Grund sein, Tangostunden zu buchen – ebenso wenig wie geografische Nähe oder Preis des Unterrichts.
Ausländischer Starruhm und Hochglanz-Werbung sollten kein Grund sein, Tangostunden zu buchen – ebenso wenig wie geografische Nähe oder Preis des Unterrichts.
Mein
Tipp: Wenn Ihnen die Tanzweise eines
Paars auf einer Milonga (!) besonders gefällt, fragen sie doch, wie und wo die
Betreffenden Tango gelernt haben. Auf jeden Fall kriegen Sie dann eine Empfehlung – oder das Paar selber ist
bereit, mit Ihnen zu üben!
Hier ein Kommentar von Norman Thom:
AntwortenLöschenLieber Gerhard,
danke für die Infos und Deine oft sehr unterhaltsam geschriebenen Artikel. Auch wenn ich viele Deiner Thesen grundsätzlich anders sehe, will sagen oft diametral anderer Meinung bin, bleibe ich doch immer wieder in Deinem Blog hängen.
Konkret zu John + Cheryl Lowry:
Vielleicht hättest Du sagen können, dass die Beiden im Canyengue-Stil tanzen, und recht schön, wie ich finde, also angenehm anzusehen.
Canyengue ist meines Erachtens technisch sehr viel einfacher als Tango Salon, und hätte insofern einige Vorteile für viele von uns Tangotänzern. Das sieht man auch bei diesem Lehrerpaar.
Schöne Grüße, Norman Thom
Lieber Norman Thom,
Löschenvielen Dank für die positiven Anmerkungen!
Ich verstehe meine Artikel stets als Diskussionsbeiträge und freue mich, wenn man sie liest und unterhaltsam findet – ganz unabhängig davon, ob man nun mit meinen Ansichten übereinstimmt. Ein Verkündigungsorgan nur für „Gläubige“ ist nicht meine Sache.
Dass es sich im Video um den Canyengue-Stil handelt, geht aus der YouTube-Beschreibung bereits hervor. Ich würde nicht generell behaupten, dass der einfacher zu tanzen ist. Aber er ist ein Beleg dafür, welch unterschiedliche Tanzstile (und Musik) es in der Tangogeschichte schon gab. Leider werden solche Stücke auf den Milongas eher selten gespielt.
Beste Grüße
Gerhard Riedl
Ein Kommentar von Bernd Corvers
AntwortenLöschenSeien wir doch froh, dass es das gibt, damit kann für jeden was dabei sein
und es findet sich einfacher, wo die Chemie stimmt. Zum Canyengue, ist
sehr spaßig zu tanzen, da gibt es meiner Meinung nach viel zu wenig
Lehrer dafür. So alt sind die passenden Interpretationen dafür gar nicht.
La Tubatango / Zorro Gris - Zorro gris
https://www.youtube.com/watch?v=F_Sk1GQJiG4&list=PLTOAUUjhQKy64utT5tsIOO3STiokbbF6I
Gruss Bernd Corvers
Klar, es gibt auch moderne Versionen von Cayengue-Stücken, und ich bin froh, wenn das mal einer auflegt.
LöschenAllerdings war das Thema meines Artikels eigentlich ein anderes.
Auf der Website von John und Cheryl Lowry finden sich auch Videos, auf denen die beiden klassischen Tango tanzen. Den können sie schon auch.
Danke für den Beitrag und beste Grüße
Gerhard Riedl