Traditionelle Milongas?


„Tradition ist die Methode, die verhindern will, dass Kinder ihre Eltern übertreffen.“
Jean Jaurès (Historiker und Sozialist, 1859 – 1914)

Derzeit scheint im Tango einiges zu kippen – nicht nur, was das immer moderner werdende Musikangebot betrifft! Jahrelang mussten „Ungläubige“ sich vorhalten lassen, sie ignorierten Traditionen, welche sich mindestens aus der „Goldenen Epoche“ des Tango (also vor allem den 1940-er Jahren) herleiteten. Wer eine „traditionelle Milonga“ veranstaltete, erweckte den Eindruck, dort herrschten dieselben Sitten und Gebräuche wie in den verklärten Zeiten vor mindestens 60 Jahren – ein Programm also, welches sich in mehr als einem halben Jahrhundert bestens bewährt habe.

Ich habe seit 2013 in einer Vielzahl von Artikeln immer wieder darauf hingewiesen, dass dies die historischen Quellen nicht hergeben: In der EdO spielten vor allem Live-Orchester – tangomäßig wurden somit meist Stücke eines einzigen Ensembles geboten – nix also mit der heutigen Tandastruktur! Die „Cortinas“ waren wohl in erster Linie Umbaupausen, da auf größeren Veranstaltungen zwei oder mehr Orchester auftraten – mindestens eines davon spielte mitnichten Tango, sondern andere Rhythmen. Man wollte schlichtweg nicht den ganzen Abend einem einzigen Tanz frönen.

Diese Tatsachen werden durch verschiedenste Zeitzeugen belegt. Was also heute konservative Veranstalter ihren Gästen bieten, sind schlichtweg „erfundene Traditionen“:

In einer Facebook-Gruppe für DJs fragte jüngst ein Kollege:

„Warum unterscheiden sich die sogenannt traditionellen Milongas so sehr von den Milongas in der Zeit der sogenannt goldenen Epoche des Tangos?“

Im Endeffekt gibt man nun das zu, was ich seit Jahren berichte:

„Auf den sogenannt traditionellen Milongas werden sehr viele verschiedene Orchester abgespielt, und die Auswahl der Musik-Genres wird auf Tango, Vals und Milonga reduziert.“

„Im Grunde geht es dir um die sogenannten Otros Ritmos, oder? Seit dem Goldenen Zeitalter haben sich die Wege von Gesellschaftstanz und Street- oder Clubtanz getrennt: Generalisten hier, Spezialisten dort. Und solange die meisten Milongas hierzulande von den Tanzstudios (also den Tangolehrern) veranstaltet werden, wird sich auch an der Spezialisierung auf die drei Haupttänze nichts ändern. Jeder DJ weiß, dass er für seine Swing- und Salsa-Tandas angefeindet wird. Selbst Foxtrott-Tandas (wohlgemerkt argentinischer Foxtrott) rufen stets die wildesten Diskussionen hervor.“

Weiterhin kann man erfahren, dass viele Tangoorchester damals auch andere Tanzrhythmen spielten:

„Es gab Orchester, die das ganze Spektrum (Paso, Bolero, Fox, Swing, etc.) spielten, wie Rodríguez und der frühe Canaro. Dann gab es aber auch Orchester, die sogar kaum oder gar nicht Vals und Milonga im Programm hatten.“

„Schon im ersten Orquesta von F. Canaro von 1915, das aufgenommen hatte, waren mehrere Non-Tangos dabei. Und: (…) Er hatte auch eine eigene Jazzband. J. D‘ Arienzo übrigens auch.“



Und Theresa Faus, deren Fachwissen wir nun wahrlich nicht bestreiten wollen, informiert uns:
Auch Lomuto, Fresedo, Firpo, Donato und OT Victor / Carabelli waren Allround-Orchester.“
Weiter schreibt sie:
„In den Milongas in Buenos Aires, wo heute noch ‚otros ritmos‘ gespielt werden, sieht man viele ältere und alte Leute, die richtig gut z.B. Rock'n Roll tanzen. Auch wenn sie etwas zu jung sind, um in der EdO getanzt zu haben, vermute ich doch, dass sie als junge Leute schon an eine Tradition angeknüpft haben.“

Warum das heute bei uns im „traditionellen“ Bereich des Tango nicht mehr so ist, erfahren wir von einer anderen Kommentatorin:

„Wer kann denn heute noch die ganzen anderen Tänze tanzen? Ich fürchte, es würde daran scheitern.“

Wie ich auch schon öfters vermutete, haben durchschnittliche Tangotänzer von heute kaum Erfahrungen in den übrigen Gesellschaftstänzen, sondern können nur die paar Tangoschritte, gehören also zur Spezies der „One Trick Ponies“: „Eine Person oder Gruppe, die sich nur durch eine einzelne Leistung, Fähigkeit oder Eigenschaft auszeichnet.“
https://en.wiktionary.org/wiki/one-trick_pony

Völlig zu Recht fragt ein anderer Schreiber:

„Was bedeutet ‚traditionell‘ beim Begriff ‚traditionelle Milonga‘?

Die Antwort der Münchner DJane raubte mir schier den Atem:

„Interessant ist es. Aber wichtig für heute in der Tat nicht, es sei dann, man meint, dass man ‚original wie in Buenos Aires im Goldenen Zeitalter‘ als Werbe-Argument braucht.“

Die andere Ikone des orthodoxen Tango, Melina Sedó, toppt das Ganze noch:

„Ich finde den Begriff ‚traditionell‘ tatsächlich auch schwierig, weiß aber, wie er entstand: Mit diesem Begriff grenzten sich Milongas mit traditioneller Musik (z.B. unsere) Anfang des Jahrtausends von denen ab, auf denen viel Neo/Electro-Tangos gespielt wurde, was ja zu der Zeit durchaus stark verbreitet war. Darüber hinaus ging es darum, enge Umarmung zu fördern und große Moves von den Pisten fern zu halten, wie eben auf den Milongas der Milongueros in BA.

Aber alle anderen ‚Traditionen‘ auf den sogenannten traditionellen Milongas waren bei Beginn dieser Wortverwendung noch gar nicht klar definiert: Tandas + Cortinas, Mirada + Cabeceo, diverse ‚Reglas‘ auf der Piste...

Diese Phänomene waren wohl ansatzweise auf den Milongas in BA schon ab der späten 80ern zu finden, mussten sich aber erst über einen Zeitraum von bis zu 30 Jahren definieren. Zum Beispiel: Heute gilt es als absolutes No-Go auf einer traditionellen Milonga oder einem Encuentro zu überholen. Aber als wir 2001 zu unterrichten anfingen, war das durchaus völlig normal. In unserem ‚Salon-Suvival-Guide‘ haben wir respektvolles und koordiniertes Überholen damals noch unterrichtet.

Oder Cortinas. Die gab es auf ‚traditionellen‘ Milongas nicht von Beginn an. Da musste man wissen, wann die Tanda vorbei war. Mitzählen oder Orchester kennen halt...“


Fassen wir also mutig zusammen: Diese ganzen „Traditionen“, mit denen heute gearbeitet wird, wurden frühestens in den 1980-er Jahren in Argentinien erfunden – in Deutschland eher ab dem Jahr 2000. In meiner Region kamen sie etwa im Jahr 2005 an.

Wer heute mit dem Begriff „traditionelle Milonga“ wirbt, betreibt somit klaren Etikettenschwindel. Kaum weniger problematisch sind Ausdrücke wie „traditionelle Tangomusik“: Am ehesten könnte man sich darunter noch Stücke aus der Tango-Frühzeit, also ab 1900, vorstellen. Aber warum gerade ab Mitte der 1930-er Jahre? Und Tango nuevo gibt es seit 1955, Piazzollas wichtigste Werke stammen aus den 60-er und 70-er Jahren – im Schnitt ist diese Musik also zirka 50 Jahre alt. Darf man da nicht schon von „Tradition“ sprechen? Und: Meint man das Alter der Titel oder das der Aufnahmen?

Korrekt müsste man viele der heutigen Milongas so bewerben: „ausschließlich Musik aus den 1930-er bis 50-er Jahren“, „keine Aufnahme jünger als 60 Jahre“  oder „Einspielungen nur aus der Época de Oro“.

Das werden die Veranstalter natürlich schön bleiben lassen, da sonst der einschränkende Charakter ihrer Events deutlich würde: Zirka 100 Jahre musikalischen Schaffens im Tango bleiben damit ja unterm Tresen. Stattdessen tut man so, als biete man Werte, welche sich – wie in der katholischen Kirche – fast lückenlos 2000 Jahre zurückverfolgen lassen:
„Wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen“
(Übrigens stimmt’s auch da nicht ganz: Das „Gloria Patri“ stammt aus dem 4. Jahrhundert n.Chr.)

Damit wir uns nicht missverstehen: Jeder darf natürlich gerne Historienspiele veranstalten – ob man sich nun als mittelalterliche Ritter, Steinzeitmenschen oder Tangotänzer der 1940-er Jahre verkleidet. Nur sollte man es dann auch so benennen – und vor allem anmerken, ob es einem dabei um geschichtliche Korrektheit oder blühende Fantasie geht.
Hier ein schönes Beispiel, auf das mich Kollege Thomas Kröter gebracht hat:
https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6lner_St%C3%A4mme

Die Vertreter der historischen Tangomusik scheinen inzwischen trotzig zuzugeben, dass man solche Milongas halt einfach wolle – Tradition hin oder her. Recht so! Drollig allerdings wirkt in dem Zusammenhang die Äußerung eines Kommentators in der obigen Debatte:

„Warum ist warum wichtig? Die Vergangenheit war gestern, jetzt ist es heute und das ist in Ordnung.“

Na eben! Schön, dass dies nun auch in konservative Köpfe dringt…

Ich stelle mir manchmal vor, was ein Tangofreak der 1940-er Jahre empfinden würde, wenn er eine heutige „traditionelle Milonga“ besuchte: Sicher würde er sich freuen, die Aufnahmen der Tangoorchester seiner Epoche zu hören – und gleich von so vielen Ensembles auf einmal! Ich fürchte aber, auf die Dauer würde es ihm langweilig, da er es gewohnt wäre, auch auf andere Musikstile zu tanzen.

Vor allem wäre er nicht traditionell eingestellt: Er ging ja zum Tanzen, um aktuelle Musik zu hören – und nicht historische Stücke vom Ende des 19. Jahrhunderts.

Und er würde sich wohl sehr wundern, dass die Klänge aus einem kleinen Etui und nicht von der Bühne kommen…

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