Den Geist des Tango einfangen


Zweifellos ist dem Blogger Kollegen Thomas Kröter mit „Lieber lebend“ ein Erfolgsartikel gelungen: Sein Plädoyer für zeitgenössische Tangomusik hat nicht nur Ewiggestrige, sondern auch freiere Geister zu inhaltlich bedeutsamen Kommentaren provoziert.

Den tschechischen DJ Tomáš Kohl inspirierte das sogar zu einem eigenen Text auf seinem Blog „Tango Is Alive!“ und da er am Prager Konservatorium studiert hat, wird er, so hoffe ich, sogar den Kompetenztest eines Klaus Wendel bestehen.

Allerdings kann er nach eigenem Bekunden kaum Deutsch, daher erlaube ich mir, seinen hochinteressanten Beitrag zu übersetzen:  

Den Geist des Tango einfangen

Dieses Blog hat bisher meine Entdeckungen des zeitgenössischen Tangos behandelt.

Es mag scheinen, dass ich mich nur für die Gegenwart interessiere, aber dem ist nicht so: Ich bin tief in die Tango-Tradition involviert. D'Arienzos „Ansiedad“ mit Alberto Echagüe bewegt mich immer noch enorm, so wie vor sieben Jahren, als ich es zum ersten Mal gespielt habe.



Gleichzeitig bin ich sehr daran interessiert, Beweise dafür zu finden, dass der Tango in diesem Jahrhundert weiterleben kann.

Es gibt hier einen gewissen Widerspruch, dass Tango als Sehnsucht nach den längst vergangenen Zeiten wahrgenommen werden und daher nicht in der Gegenwart leben kann, geschweige denn der Zukunft gegenüber offen ist.

Ich stütze diese Behauptung auf die beobachtbare Tatsache, dass traditionelle Milongas, die in den 1940-er Jahren verwurzelt sind, die überwiegende Mehrheit der Aktivitäten in meiner Ecke Europas ausmachen. Ich habe unter anderem in Deutschland, Holland, Portugal und Lettland zur ziemlich gleichen Playlist getanzt.

Man könnte argumentieren, dass dies vom riesigen Repertoire der 1940-er Jahre herrührt, oder dass nur damals der Tango wirklich so getanzt wurde, wie er gehört, und ich bin offen für dieses Argument.

Es scheint mir jedoch auch ein psychologisches Argument möglich zu sein, dass manche Menschen mental in der Zeit zurückreisen möchten und der Tango ihnen diese Gelegenheit zur Flucht gibt.

Ich werde argumentieren, dass es eine schlechte Idee ist, dieses Gefühl zu fördern, und dass wir es durch eine übergeordnete Idee ersetzen können, die mit den gleichen Emotionen verbunden ist, jedoch nicht an eine bestimmte Zeit und oder einen Ort gebunden ist. Wir leben nicht im Buenos Aires der 1940-er Jahre.

Canaro war einst ein zeitgenössisches Orchester. Ich frage mich, was die Tänzer empfanden, als sie sich zu diesen Klängen in der Ronda bewegten. Schauten sie zurück auf ein (hypothetisches) „goldenes Zeitalter" der 1800-er Jahre oder genossen sie einfach die Gegenwart?

Wir wissen es nicht, aber Canaro ist nicht unser Zeitgenosse. Heute tanzen wir zu „Mi musa campera", aufgenommen am Mittwoch, dem 31. Oktober 1934. Unsere emotionale Reaktion basiert nicht darauf, wie wir uns 2019 fühlen.



Die populäre Musik hat sich seit 1934 ziemlich weiterentwickelt.

Sie kann jedoch darstellen, wie wir uns fühlen möchten, das heißt, sie kann uns dazu bewegen, auf das imaginäre „goldene Zeitalter" der Vergangenheit zurückzublicken, das weit genug entfernt ist, so dass wir es romantisch verklären können.

Dies führt zu einem Konflikt, wenn wir heute versuchen, den Tango zu re-interpretieren: Mit der heutigen Aufnahmetechnologie, den spielerischen Fähigkeiten der Musiker und den Einflüssen dessen, was seither in der Musik passiert ist, ist es für eine neue Tango-Aufnahme unmöglich, denselben Klang zu treffen.

Sollte sie auch nicht.

Es muss eine Definition des Tangos geben, die immer wieder erforscht und interpretiert werden kann, ziemlich spezifisch in dem, was sie sucht, aber nicht eingegrenzt auf seine Ursprünge.

Ich stelle dir das Orquesta Típica Andariega mit „Todo te nombra“ vor:



Dies ist ein Cover von Canaros Lied, respektvoll und original in Arrangement und Ausführung. Dennoch fühlt sich das Video eigenartig modern an und provoziert trotzdem ähnliche Bewegungen auf der Tanzfläche.

Emotional ist es verspielt (die Stakkati sind noch schärfer als die von Biagi!). Und es sehnt sich nach etwas. Dieses Gefühl der Not, gepaart mit gelegentlichem Witz, könnte die Tango-Emotionen ausmachen. Vielleicht ein bisschen Bedauern oder Verlust, aber nicht zu viel.

Ich glaube, dies ist der Weg nach vorne: Das Tango-Herz fest an seinem Platz zu halten und sich musikalisch zu entwickeln. Und wenn neue Kompositionen zum Leben erweckt werden, noch besser!


Ein perfekt zu tanzender Walzer aus dem 21. Jahrhundert.

Es ist wichtig, den unveränderlichen Geist des Tangos in der Musik aus Vergangenheit und Gegenwart zu finden und zu definieren, um ihn lebendig und blühend zu halten. Das ist der Job von DJs, Lehrern und Organisatoren. Die Milongueros wollen einfach Spaß haben. Wenn wir versagen und ihnen das „sichere" Repertoire zuführen, werden sie uns nicht beschuldigen!

Unser Versäumnis, dies zu tun, wird sich jedoch in zweifacher Hinsicht negativ auswirken: Viele junge Leute werden ferngehalten, da der quietschende, kratzige Sound von Schellacks für Neuankömmlinge ein echtes Hindernis darstellt und Musiker davon abhalten wird, kreativ zu sein. Und wo landen wir dann, wenn nicht in einem umzäunten Garten, dann letztendlich in einem Altersheim!

P.S. Ursprünglich war dies ein Meinungsartikel, in dem ich die Grenzen des Tangos ausloten wollte – welche Musik noch immer behaupten kann, den Tango-Geist zu tragen, wie zeitgenössisch auch immer sie sich anhört – und ich stellte fest, dass ich mich zunächst der Frage stellen musste, was Tango in erster Linie ist. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, und ich werde es weiter versuchen; Was die Grenzen angeht, so werde ich sie später noch markieren müssen.

P.P.S Einer der Impulse, die ich für das Schreiben hatte, war das Lesen eines Posts von Thomas Kröter: „Lieber lebend“.


Ich darf noch hinzufügen:

Tomáš Kohl ist alles andere als ein „Neo-DJ“. Er legt nach dem üblichen Tanda-Schema Musik von 1940 bis heute auf, die ihm zum Tanzen geeignet erscheint. Und: Sie muss akustisch sein – elektronische Klänge lehnt er ebenso ab wie Titel, welche für ihn ein anderes Bewegungsmuster provozieren.

Vor allem jedoch ist er neugierig. Und das ist gut so.

Seinen Kerngedanken kann ich mit Freuden unterschreiben: Um heute dasselbe Tangogefühl zu erzeugen wie vor 70 Jahren, muss sich die Musik weiterentwickeln.

Oder, in meinen Worten: Um gute Traditionen zu erhalten, müssen wir sie verändern, um das Alte im Neuen zu erhalten. Sonst wird es zum Museumströdel, angestaubt, hinter Glas in einer Vitrine.

Da bin ich konservativ.

   

Kommentare

  1. Hier ein Kommentar von Matthias Botzenhardt:

    Hallo Gerhard,
    (hallo Tomáš),
     
    Ein toller Beitrag. Ich fühle mich in den Gedanken des Autors ganz hervorragend aufgehoben.
    Vielen Dank für den Artikel, vielen Dank für die Übersetzung.
     
    „It will keep many young people away, since the squeaky scratchy sound of shellacs is a real barrier for newcomers …“ In diesem Satz steckt LEIDER sehr viel Wahrheit.
    Möglicherweise werden jugendliche Neuankömmlinge auch durch Abendgarderoben, Veranstaltungsorte oder gewisse Vorschriften abgeschreckt?
    Nur so eine Vermutung.

    In Freiburg waren es vor einigen Jahren (und sind es gelegentlich noch immer) Menschen aus der studentischen Szene, die es einer JÜNGEREN Generation ermöglichten, sich den Tango (am Ende auch in seiner traditionellen Variante) für sich selbst zu erschließen.

    Auch wenn diese Studierenden Freiburg nach einiger Zeit meist wieder verlassen – so tragen sie doch den Tango an die Orte ihres weiteren Berufslebens. Das finde ich toll. Und schön ist es auch, wenn sie gelegentlich wieder in Freiburg vorbeischauen und ihre Erfahrungen aus anderen Städten zurücktragen.
     
    Viele Grüße,
    Matthias

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  2. Lieber Matthias,

    ich finde auch, der von mir zitierte DJ hat da einen ganz feinen Aspekt in die Diskussion eingebracht! Es lohnt sich doch sehr, immer wieder in anderen Blogs zu stöbern.

    Und ja - der heutige Tango schwebt in Gefahr, die Menschen unter Vierzig zu verlieren - wenn das nicht schon in vielen Szenen geschehen ist. Man muss sich nur das Tanzvideo im obigen Beitrag ansehen: So etwas würde junge Menschen anziehen. Die Realität auf vielen Milongas ist davon meilenweit entfernt. Reglementierung von Freizeit-Beschäftigungen kommt zudem in dieser Altersgruppe sehr schlecht an.

    In Städten mit größeren Universitäten mag das anders sein. Immerhin ein Hoffnungsschimmer.

    Beste Grüße
    Gerhard

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