Anleitung zum Niedermachen


„Schon einmal ist Tango beinahe untergegangen, weil er kaum mehr tanzbar war. Wäre Gardel 1935 nicht tödlich verunfallt und hätte d'Arienzo 1935 nicht Biagi engagiert, hätte die Epoca de Oro kaum stattfinden können.“
(Christian Tobler, Schweizer Tangoexperte)

Das Blog „Tangoplauderei“ ist wirklich unerschöpflich! Erst heute kam ich auf zwei Artikel aus dem Jahr 2010, in denen es um die Zeitschrift „Tangodanza“ geht.

Ich muss vorausschicken, dass ich wahrlich kein Fan dieses Organs bin und mein Abonnement schon vor längerer Zeit gekündigt habe. Eben deshalb bemühe ich mich besonders um eine angemessene und faire Beurteilung.

Das sehen nicht alle so: Offenbar war die Zeitschrift damals beim Blogger Cassiel in Ungnade gefallen, da sie zu wenig Wert auf die Musik der alten Orchester legte und stattdessen umfänglich über neue Ensembles und Entwicklungen berichtete (vielleicht auch aus sehr speziellen Gründen, siehe unten).

Flugs arrangierte der Blogger-Kollege dereinst ein Interview mit dem Herausgeber des Blattes, Olaf Herzog:

Was dabei herauskam, war ein recht braver Dialog mit nicht gerade originellen oder gar investigativen Fragen, bei dem man gleichwohl einiges über die Zeitschrift, ihre Arbeitsweise und Probleme erfuhr. An den ersten Kommentaren dazu merkte man: Die Stammleser des Blogs hatten Blut sehen wollen und waren nun enttäuscht:

„Für mein Empfinden ist es zu seicht“ (B.G.)
„Spannungsloser geht ja nicht mehr.“ (Raxie)
„Die Antworten wirkten hier lustlos. Zum Teil waren sie schon FAST beleidigend“ (Anonym)

Als Olaf Herzog dann noch ruhig und informativ antwortete und nach den Wünschen der Leser fragte, drohte die Diskussion zu versachlichen.

Da mussten schwerere Geschütze her! Glücklicher- und zufälligerweise flatterte Herrn Cassiel bald darauf ein Gastbeitrag des Schweizer Tangoexperten Christian Tobler ins Haus, der in gewohnter Vollmundigkeit gehalten war.

Die Wertung des Textes gab der Blogger-Chef schon mal vor:

„Christian hat so fundiert geschrieben, daß ich es mir fast den Atem verschlug. (…) …möchte ich mich ganz herzlich bei Christian bedanken (‚Womit habe ich das verdient?‘)“

In seinem Text verteilte Tobler saftige Ohrfeigen zuhauf an die Zeitschrift und ihren Herausgeber. Ihr ganzer Stil sei zu gefällig und unkritisch:

„Um daran was zu ändern müsste Tangodanza sich kritischem Journalismus anstelle von Hochglanz verpflichten. (…)
Publiziert wurden in den letzten Jahren vor allem Artikeln über drittklassige kontemporäre Formationen, aber nullkommanichts über die 25 wichtigen Gran Orquestas der Epoca de Oro, welche das Rückgrat fast jeder mitreissenden Milonga bilden. Parallel dazu sind auch die CD-Rezessionen über diese Orchester ausgelaufen. In der letzten Nummer wurde zB keine einzige CD von einer der wichtigen Formationen besprochen, dafür Butterfahrtmusik zuhauf.
Ob ein Tänzer das Cuarteto Osterholz-Scharmbeck mit seinen Bremer Stadtmusikanten kennt, ist auf Dauer ohne jede Bedeutung.“

Insbesondere ein Interwiew der „Tangodanza“ mit dem Chef des „Sexteto Milonguero“, Javier de Ciriaco, war ihm viel zu weichgespült. Persönlich hätte er mit dem zunächst eine längere Hör-Session veranstaltet, damit der mal den Unterschied zwischen den alten Orchestern und seinem Zeug erkenne:

„Die Autorin vermittelt nicht den Eindruck, dass sie weiss wovon und mit wem sie spricht. Kennt die Autorin die Schwachpunkte der Formation nicht? Oder sie ist nicht in der Lage, deren Leistungen in einen anschaulichen Kontext zu stellen? Beides darf man bei einem Journalisten voraussetzen. (…)
Schon bald wird es keine Steigerung mehr geben in Richtung lauter, schneller, wilder. Was dann? (…)
Der Höhepunkt ihrer Auftritte ist schon jetzt folgerichtig nicht mehr Tango sondern Folklore, wo der Lärmfaktor noch steigerungsfähig ist. (...)
Im direkten Vergleich wird sofort offensichtlich dass Javiers Stimme in Noches de Colon nicht fliesst, nicht trägt, unter anderem weil er damit stossweise presst. Vermutlich fehlen ihm schlicht klassische Stimmbildung. Zudem ist sein Ausdruck für diesen Titel unpassend. Text und Stimme finden nicht zueinander.“

Weiterhin verfehle die „Tangodanza“ ihre Aufgabe, so richtig über das ganze modernistische Zeug im Tango abzuledern, welches längst wieder auf dem Rückzug sei:

„Mit solchem Unterricht hat ein massgeblicher Teil von Nuevo in den vergangenen zehn Jahren eine ganze Generation junger Tango-Tänzer in die Wüste geschickt, da ihnen kein tänzerisches Fundament vermittelt wurde. Für manche wird sich das als Trip ohne Wiederkehr entpuppen. Wo informiert Tangodanza über diesen sich abzeichnenden Paradigmenwechsel? (…)

Smarte Typen waiden Tango Argentino seit Jahren aus und machen mit ihrer Beute ihr eigenes, ganz anderes Ding. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn sie ihre Ergüsse - zB Musik für Spülmaschinentabs oder Katalysatoren für Bacchata - nicht aus Maketing-Überlegungen mit dem Begriff Tango aufmotzen würden. Warum bezieht Tangdanza dazu nie Stellung? (…)

Noch mehr dieser unsäglichen Tango-Shows für Neckermann-Touris, die auf den Putzfraueninseln besser aufgehoben wären. Warum geht Tangodanza solchen Machenschaften nicht auf den Grund? (…)

Konzertanter Tango interessiert mich nicht und Elektro kann ich nicht ernst nehmen, weil musikalisch erbärmlich: Ein paar drum loops und ein mit drei Akkorden auf Zug über den Oberschenkel gerissenes Bandoneon machen noch keinen Tango“

Hurra! Endlich kriegte die Meute, wonach sie lechzte! Es gab lobende bis begeisterte Kommentare zuhauf:

„Bei diesem Beitrag bleibt einem ja die Spucke weg, allein schon wegen seines Informationsgehaltes. (…)
Ich stimme dir aus vollem Herzen zu, dass vom Standpunkt der Tänzer die modernen Tango-Musiker nicht mit den tollen Aufnahmen der Época de Oro (und früheren) mithalten können. Und dass dies auch ein fast unerreichbarer Maßstab ist, einerseits weil diese Aufnahmen so gut sind, aber auch, weil man sie als Tänzer schon tausendmal gehört hat und man besser auf das tanzen kann, was man kennt.“ (Theresa Faus)

„DANKE! Du sprichst mir aus dem Herzen. Leider hat mir die fachliche Kompetenz gefehlt, meine Kritik so fundiert zu verbalisieren.“ (Raxie)
„So toll hätte ich es nicht schreiben können, aber die Gedanken fühlen sich sehr stimmig an.“ (Anonym)
„Menschen wie Du (Cassiel) und Christian (Tobler) bringen den Tango weiter.“ (Anonym)
„Vielen herzlichen Dank für deine äußerst informativen Zeilen!“ (Aurora)
„Vielen Dank also an Christian für seine Ausführungen und an Dich dafür, hier eine Plattform zur Verfügung zu stellen.“ (Mikel)
„Ich finde die Beiträge von Theresa und Christian sehr bereichernd und interessant zu lesen.“ (Anonym)
„Christian, Theresa und Cassiel, bitte macht doch weiter!“ (Anonym)

Parallel bekam die ungeliebte Zeitschrift natürlich ihr Fett ab:

„Vielen Dank für Deine Mühen, auch wenn es ein ziemlicher Verriss ist. (…) Warum sollen Abonennten für ein seichtes Niveau zahlen.“ (B.G.)
„Ich schildere jetzt nur meinen Eindruck, aber für mich war das Interview von ein Missachtung der Blogger geprägt.“ (Anonym)
„…muß ich leider Christian Toblers vor allem eingangs gemachter Kritik zustimmen: mein subjektiver Eindruck des Herzog-Interviews war der eines müden Gesprächspartners, der bisweilen Züge des Selbstgefälligen annahm.“ (Anonym)

Manchen war die Debatte jedoch immer noch nicht scharf genug:

„Aber manchmal beschleicht mich das Gefühl, daß Diskussionsmöglichkeiten durch zuviel Rücksichtnahme erstickt werden. Es prallen nun mal sehr unterschiedliche Welten aufeinander, und deshalb kann es ruhig mal heftig zugehen.“ (maykel)

Da jedoch musste der Blogger mal wieder einschreiten:

„Es mag meine persönliche Macke sein, aber ich halte sehr wenig von Konfrontation im Tango.“ (Cassiel)

Bumtää, bumtää, Narhallamarsch!

Immerhin brachte es Peter Turowski dann noch fertig, zu behaupten, die „Tangodanza“ habe in den Anfangsjahren 300 DM für Berichte über lokale Tangoszenen gefordert. Nach einem scharfen Hinweis der Zeitschrift nahm er diese Aussage zurück, da er sie nicht beweisen könne…

Fast unnötig zu betonen: Die Mehrzahl der Äußerungen erfolgte ohne Klarnamen.

Besonders gefallen hat mir dieses Kompliment:

„Beim ersten Lesen hatte ich häufig das Gefühl, daß ich mich mit meinen Erfahrungen, die ich in der Tangomusik gemacht habe, diesen Ideen, die du erläutert hast, schon angenähert habe und dann kam nun das Gefühl: ‚Christian Tobler ist schon da‘.“ (rodolfo2)

Tja, wohin Sie auch kommen… Glücklicherweise hat die „Tangodanza“ der Versuchung widerstanden, sich zu einem BILD-ähnlichen Kampfblatt gegen den modernen Tango umzugestalten mit seitenlangen Abhandlungen reaktionärer Bußprediger. Und sie erscheint immer noch vierteljährlich, während Cassiel kaum noch etwas veröffentlicht. So gerecht kann das Leben sein…

Als Olaf Herzog in der Diskussion Herrn Tobler dann noch einmal sachlich antwortete, war der endgültig beleidigt. Der Vorwurf war irgendwie der: Die Zeitschrift wolle sich nicht mit ihm prügeln – wie unverschämt!

„Ich komme mir verschaukelt vor. Mache ich tatsächlich einen dermassen einfältigen Eindruck? (…) Deine Antworten fordern einen Schlagabtausch geradezu heraus weil darin kein Dialog stattfindet. (…) Ich könnte jetzt damit beginnen, dass die Art und Weise wie TD seine Meinung kund tut dermassen von oben herab daher kommt, dass es schwer ist höflich zu bleiben. (…) Aber dann suggeriere bitte nicht Gesprächsbereitschaft. Und damit verärgerst Du nicht nur mich sondern jeden halbwegs intelligenten Leser, Blogger.“

Die Ironie der Geschichte: Die obigen Artikel erschienen im Mai und Juni 2010. Ungefähr zu dieser Zeit hat sich Cassiel wohl bei der Tangodanza" um die Rezension meines ersten Tangobuches beworben. Als man damals einen anderen Kritiker wählte, veröffentlichte er im September 2010 den Verrisss meines Milonga-Führers" mit deutlichen Seitenhieben auf die Zeitschrift. Auch damit gelang ihm wiederum die Auslösung eines Shitstorms. Allerdings brachte er mich so zur Etablierung eines eigenen Blogs. Das Ende ist bekannt.
https://tangoplauderei.blogspot.com/2010/09/gerhard-riedl-der-groe-milonga-fuhrer.html    

Schluss:

Man darf mir gerne vorwerfen, alten Kram von 2010 aufzuwärmen. Ich weise nur darauf hin, dass der immer noch in einem Blog zu lesen ist, zu dessen zehnjährigem Jubiläum einige glaubten, gratulieren zu sollen bzw. ihn immer noch auf ihrer Seite verlinken.

Für mich sind diese Texte eine exakte Gebrauchsanweisung dafür, wie man seine Gefolgschaft zu einem Shitstorm animieren und dann selber den Unschuldigen spielen kann.

Ich finde das erbärmlich. Und nein, Herr Tobler, ich bedaure es sehr, dass Carlos Gardel schon im Alter von 44 Jahren sterben musste – selbst wenn die EdO dann nicht oder anders verlaufen wäre. Und wenn jemand in einem Flugzeug verbrennt, ist es mir vergleichsweise egal, wer damals in welchem Tangoorchester Klavier spielte.

P.S. Die Zitate finden sich alle in den verlinkten Texten. Zur Wahrung ihres intellektuellen Gehalts habe ich auf sprachliche Korrekturen verzichtet.

Kommentare

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