Tango Voice II: Das Grauen kehrt zurück
§ 183 StGB: Exhibitionistische Handlungen
(1) Ein Mann, der eine andere Person durch eine exhibitionistische Handlung
belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe
bestraft.
(2) Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, dass die
Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der
Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält.
Mein
Beitrag über das „Manifest“ des amerikanischen Bloggers „Tango Voice“ (http://milongafuehrer.blogspot.de/2016/06/deklaration-der-rechten.html) erzeugte bei meinem
Kollegen Yokoito „eine seltsame Mischung aus Grusel und
Faszination“, worauf er sich entschloss, sich auf eine Diskussion mit
diesem Verkünder traditioneller Rechte einzulassen. Auf seinem Blog berichtet
er nun darüber:
Ich
finde diese Debatte höchst aufschlussreich. Wer möchte, kann sie in voller
Länge bei den Kommentaren verfolgen:
Um
sie einer breiteren Öffentlichkeit zu erschließen, erlaube ich mir eine
Übersetzung in Auszügen:
Yokoito:
“Ich fürchte, die
Motive hinter solchen Versuchen, die Lufthoheit über den Tangostammtischen zu
erobern, sind weniger nobel als sie vorgeben. (…)
Es ist in der Natur
und der ganzen Gesellschaft nicht unüblich, wenn Gruppen versuchen, Regeln so
zu gestalten, dass sie zu ihren eigenen Fähigkeiten passen. Ein bejahrter
Tangotänzer, der spürt, dass seine körperliche Gewandtheit abnimmt, wird
natürlich eine Sicht auf den Tango vorziehen, welche mehr Wert auf langsame
denn auf dynamische Bewegungen legt. Bei reduzierter Fähigkeit zu improvisieren
wird man eine „überraschungsfreie“ Umgebung bevorzugen, sowohl was Bewegung als
auch Musik betrifft." (...)
"Natürlich haben
solche Gruppen jedes Recht zu versuchen, passende Sub-Ökosphären innerhalb des
größeren Tangouniversums zu schaffen. Es wird jedoch gefährlich, wenn solche
Bestrebungen zu großen Einfluss erhalten.“
Dass
der Herr „Tango Voice“ ob solcher frecher
Kommentare angefressen ist, merkt man schon an der fehlenden Anrede bei seiner
Antwort. Stattdessen geht er gleich medias in res.
Tango
Voice:
„Dieser Kommentar
zeigt einige der Herausforderungen, denen sich Tango-Traditionalisten stellen,
wenn sie eine Milonga-Umgebung schaffen, welche die Traditionen der
argentinischen Tangokultur unterstützt. Anstatt lieber den Tangotänzern Respekt
zu zeigen, welche die traditionellen Kulturpraktiken fördern, welche auf den
Milongas in Buenos Aires heute vorherrschen, drücken viele
Erste-Welt-Tangotänzer (entweder aus Unwissen oder mit Absicht) einer ganzen
Tangogemeinschaft ihre Erste Welt-Version des Tango (Tango extranjero) auf, der
die traditionelle kulturelle Praxis des Tango missachtet oder sogar
untergräbt.“ (...)
„In ihrer Opposition
zu traditionellen Tangowerten stellen sie Tango-Traditionalisten als arrogant
und selbstgerecht dar, doch die wirkliche Arroganz zeigen die
Tango-Non-Traditionalisten in ihrer Respektlosigkeit für die kulturellen
Traditionen des Tanzes, den zu lieben sie vorgeben."
„Wahrscheinlich
ist diese aggressive Reaktion auf das Schaffen einer sicheren Umgebung für das Praktizieren
von Tangokultur-Traditionen auf ein innewohnendes Gefühl der Unsicherheit zurückzuführen,
vielleicht eine (eventuell unbewusste) Wahrnehmung, dass der traditionelle Tango
und seine kulturelle Ausübung eine Bedrohung für den nicht-traditionellen Tango
darstellt, einer vermarktete Anpassung, die auf schwachen Füßen steht und daher
eine ungewisse Zukunft hat.“
Wenn ich da
vielleicht auch mal was dazu sagen darf:
Gerade
diese Zeilen zeigen eine immense Phraseologie. Unablässig werden in Bandwurmsätzen
tönende (und daher hohle) Sprüche von „Tradition“ und „Tangokultur“ geklopft,
ohne ein einziges Mal zu erklären, was genau man darunter versteht. Sind Piazzolla & Co. kein Teil der
argentinischen Tangokultur? Gerät der Tango nuevo fünfzig Jahre nach dessen
Entstehung nicht vielleicht schon in Traditionsnähe? Gehören die „otros ritmos“
früherer Milongas in Buenos Aires nicht auch zur „Tangokultur“? Mantras statt
Differenzierungen – da liegt der Griff zur Ironie nahe…
Yokoito:
“Ich wusste nicht,
dass Nordamerika so etwas wie das ‚Land Mordor’ für die armen Traditionstänzer
ist. Ich nahm an, es sei dort wie in Deutschland, wo es viele traditionelle
Milongas gibt, sogar einige 150 Prozent tradtionelle Encuentros mit
Gästeauswahl (und manchmal auch Geschlechter- und Rollendiskriminierung) plus
einige gemischte Milongas sowie sogar noch weniger reine Non-Tango-Events." (...)
„Wenn es also wirklich
jenseits des Großen Teichs so schlimm ist, entschuldige ich mich für meine
lieblosen Worte – meine herzliche Sympathie für die schreckliche Situation, in
der Sie sich befinden." (…)
„Die Tango-Orks segeln
jedoch hierzulande mehr unter der traditionellen Flagge – sie wirken nicht so,
als ob sie Gefangene machen oder Kompromisse kennen. Es gibt einige Leute, die
versuchen, Meinungsführer zu sein, indem sie daran festhalten, dass ein einziges
Nicht-EdO-Stück den ganzen Tangoabend verdirbt." (…)
„Ich sehe tatsächlich
ganz oft einen Typus von Exhibitionismus, den ich ‚Tantra Tango’ nenne – Leute,
welche die zirkulierende Ronda durch ultra-langsame Bewegungen blockieren, was
ebenso nervig ist wie ihr ‚wildes' Pendant." (…)
„Ich bin kein Experte für argentinische Seelen. Um jedoch auf den Punkt dynamischer Ausdruck und Musik
zurückzukommen: Aus dem Anschauen von Videos aus Buenos Aires auf weniger
bevölkerten Tanzflächen schließe ich, dass Lebensfreude und Bewegung mehr mit
der argentinischen Mentalität zu tun haben, als Sie es sich gerne vorstellen."
Tango Voice:
„Exhibitionismus und
die Schaffung von Kollisionsgefahren hängen zusammen, definieren sich aber
unterschiedlich (…). Im Einzelfall kann man solche Risiken schaffen, ohne ein
Exhibitionist zu sein, und nicht jeder Exhibitionismus schafft potenzielle
Kollisionsgefahren. (…) Die Ablehnung des Exhibitionismus durch
Tango-Traditionalisten basiert darauf, dass er Aufmerksamkeit erregt, dass es
Angeberei ist und von schlechtem Geschmack zeugt.“
Yokoito:
„Wenn Exhibitionismus
bedeutet, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sollten wir vor anderen Gefahren
auf der Hut sein. Wenn ich selber eine besonders gut aussehende Frau oder eine
mit besonders guter Haltung oder Bewegungen erblicke, geschweige denn Kleidung,
spüre ich, wie meine Blicke von dieser Person angezogen werden. Ich meine
daher, solche Personen, die es schamlos wagen, sich besser zu bewegen oder
auszusehen, sollten auch irgendwie eingeschränkt werden. (…)
Einige Kulturen haben
schon Werkzeuge und Regularien entwickelt (z.B. Kleidung, die beleidigende
Körperteile verhüllt) – wenn wir also von anderen Kulturen lernen sollen: Warum
bei Argentinien aufhören?“
An
dem Punkt kann man sich jedoch auf die männliche Mentalität – selbst bei
Traditionstänzern – fest verlassen: Nein, so bekam Yokoito zu lesen, das sei ja
wohl ein alberner Vorschlag: Alles außer ganz nackt wäre völlig in Ordnung…
Auf
dem eigenen Blog zieht Yokoito ein Resümee:
„Es ist lange her,
dass ich mit Zeugen Jehovas diskutiert habe. Könnten locker mal 30-40 Jahre
gewesen sein. Woran ich mich noch erinnere, ist diese unerschütterliche,
lächelnde Gewissheit – beziehungsweise das Gefühl, dass egal, was man sagt,
nichts die Sicherheit dieser Leute erschüttern kann, das Richtige zu tun und zu
denken. (…)
Das Bild, das ich im
Moment von diesem Tango Voice-Autor habe, ist sowas wie eine Mischung aus einem
Soziologie- oder Politologiestudenten im 42. Semester, einem
Befreiungstheologen, Hans Landa, vielleicht noch mit einer Prise Torquemada,
wenn es dafür mal wieder ein gesellschaftliches Mandat gibt.
Auf jeden Fall sagt
man ja, dass Dinge, die heute im Amiland stattfinden, in ein paar Jahren auch
nach Europa kommen. Wollen wir mal nicht hoffen.“
Heute
setzte „Tango Voice“ noch eins
drauf:
Wenn
man eine traditionelle Milonga betrete, habe man eben vor dem ersten Tanzschritt
herauszufinden, was von einem dort erwartet werde – und dann beim Tanzen den
Ball und die Füße ganz flach halten: „Die
gewählten Bewegungen sollten keine unangemessene Aufmerksamkeit erregen, weil
sie sich von denen der meisten anderen Tänzer auf dem Parkett unterscheiden.“
So, my dear Mister „Tango
Voice”, hier meine germanisch-undiplomatische Antwort:
Auch
in unserem rücksichtslosen Erste-Welt-Land ist es durchaus üblich, sich
angemessen zu verhalten, anstatt dem Gastgeber ansatzlos mit dem Hintern ins
Gesicht zu springen. Verschiedenheit aber ist hierzulande – außer bei rechten Dumpfbacken – kein Schimpfwort.
Es gibt bei uns einen Begriff namens „Gastfreundschaft“, welcher
bedeutet, es seinen Besuchern so angenehm wie möglich zu machen, ihre Wünsche
zu erfüllen und neugierig auf die neuen Impulse und Ideen zu sein, welche sie
mitbringen.
Zu
erwarten, sich zur edlen Besuchsstätte im Kriechgang zu begeben und in dieser Haltung auch dort
zu verharren, mag zu einem Land passen, in dem man auf ungebetene Besucher
sofort schießen darf. In unseren Gefilden freilich passt die Erwartung der völligen
Unterwerfung gegenüber dem Gruppenzwang nur noch zu sehr speziellen
Gemeinschaften wie schlagenden Verbindungen, Militär und Hooligan-Clubs.
Zum Thema Exhibitionismus hätte ich eine Frage: gibt es auf Tradi Milongas , Festivals und encuentros auch Show Tänze????
AntwortenLöschenMeines Wissens zumindest auf Encuentros nicht - siehe Exhibitionismus. Außerdem müssen die dort schon die teuren DJs bezahlen, und die Veranstalter wollen ja auch noch was verdienen...
AntwortenLöschenBei Tradi-Milongas gibt es inzwischen adaptierte Showtanzpaare, welche das edle Herumschleichen perfekt vorführen.
Übrigens herrscht in der einschlägigen Szene eine ähnliche Abneigung gegen Livemusik, wegen der Abweichungen von der Schallplatte! Das könnte zu tiefgreifenden Verunsicherungen führen...
... ja was so sensible Ohren oft auch ertragen müssen ... da blockiert es einem auch ganz schnell den Vorderfuß mitten im ocho ...
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