Tango: Was war, was ist, was wird?



„Im Seichten kann man nicht ertrinken.“
(RTL-Chef Dr. Helmut Thoma)

Wenn man Blogs wie „Tango Voice“ oder „Poc@s palabras“ liest, könnte einem um die Zukunft unseres Tanzes angst und bange werden – und zwar nicht, weil dort (gefühlte) argentinische Traditionen oder die Bevorzugung der Musikaufnahmen aus der „Goldenen Ära“ propagiert werden. Beides ist für mich ein integraler Bestandteil des Tango – über Bedeutung und Dosierung kann man streiten.

Was mir Gänsehaut verursacht, ist die unversöhnliche Geisteshaltung und ein pseudomoralischer Rigorismus, der mich an die „Erweckungspredigten“ eines Billy Graham erinnert:
„Die Zeit rückt nahe, die Zielstrecke ist schon abgesteckt... Die Anzeichen des falschen Propheten sind überall zu erkennen, und viele von uns mögen lebendige Zeugen des furchtbaren Augenblicks werden, wenn der letzte Akt dieses uralten Dramas beginnt.“

Schon vor einigen Jahren prägte ich hierfür den Begriff „Zeugen Tangos“ -  und vielleicht wird wenigstens inzwischen klar, was ich damit sagen wollte. Mein Bloggerkollege Yokoito jedenfalls urteilt zum Thema Tango Voice in einer für ihn ungewöhnlichen Schärfe:
„Wir ‚normalen‘ Tänzer sind für ihn offenbar sowas wie die Styroporchips in Paketen. Die uns zugedachte Rolle ist, für die kuschelige Enge zu sorgen, in der sich Tradi-Fetischisten seines Schlages wohlfühlen. Offenbar ist ihm klar, dass er kein echtes Zuckerbrot anzubieten hat – deshalb nimmt er gleich die Peitsche und greift in die Standard-Einschüchterungs-Werkzeugkiste der political correctness – wir sollten seine Befehle befolgen, weil wir sonst böse, Minderheiten marginalisierende arrogante Erstwelt-Kulturimperialisten sind.“

Wird diese Ideologisierung des Tango sich fortsetzen oder gar die Oberhand gewinnen? Wie sieht dann die Szene in zehn Jahren aus? Ich wage eine Prognose, ausgehend von den Kriterien, die von den Kämpfern für eine „gottgefällige Milonga“ immer wieder propagiert werden:

Musikalisch werden sich – so leid es mir tut, die historischen Aufnahmen durchsetzen. Sie waren schon damals auf Mainstream ausgerichtet, und die Masse will nach wie vor simpel tanzen. Als (weniger häufige) „Alternative“ werden sich „Neo-Milongas“ mit tangofreier, aber ebenso anspruchslos gestrickter Popmusik gleichfalls behaupten. Das erinnert mich an meine Standardtanz-Zeit, wo die Bands auf Bällen nach einigen „Pflichtwalzern“ bald zum Runternudeln irgendwelchen Schlager-Einheitsquarks übergingen, und ich nach zwei Stunden „Dumdi-Dumdi“ aus der Veranstaltung floh.

Außerdem hat das Label „traditionell“ so etwas hübsch Solides. Man fühlt sich „authentisch“ und dem Urgrund des Tango verbunden. Ob da nun wirklich alles auf die Gründerväter zurückgeht oder nicht, ob es echte Werte oder doch nur „Werthers Echte“ sind – Hauptsache, die olle Kamelle ist süß und klebrig genug! Und bei zu gründlicher historischer Analyse könnten Romantik-Einbußen erfolgen: Wie, wenn nun die Katholen wieder eine „traditionelle Religionsausübung“ anböten – so mit allsonntäglicher Verbrennung von je einer Hexe pro Diözese? Da bleibt man doch lieber vage…     

Tragischerweise werden Milongas, auf denen schlicht Tangomusik gespielt wird (aus verschiedenen Epochen und mit wechselnden Stilen sowie Interpreten) das Nachsehen haben und ein „Minderheitenprogramm“ bleiben. Die Deppen-Vokabel von der „Tanzbarkeit“ hat hierbei eine geniale Marketingwirkung. Und weil der Deutsche Ordnung schätzt, wird man die Musik weiterhin tandamäßig portioniert und mit dem Zwischengedudel der Cortinas serviert bekommen, auf dass der Tango-Untertan auch weiß, wann er aufzufordern hat…

Immerhin erhalten auf diese Weise Tangofeste, die nichts weiter als vielfältige Musik ohne Scheuklappen bieten, den Status der „Exklusivität“, werden zum „Geheimtipp“ und somit wohl zu einem letzten Rest an Subkultur, aus welcher der Tango sich ansonsten weitestgehend zurückgezogen hat. Mir entlockt es dann doch ein Schmunzeln, wenn etwas, das wir früher für völlig normal und unspektakulär ansahen, nun auf einmal außergewöhnlich erscheint. Na, immerhin…

Optimistischer gestimmt bin ich bei dem ganzen Regularien-Mist, der uns derzeit unter dem Stichwort „Códigos“ angedreht werden soll. Bei aller Reklamierung von „Recht und Ordnung“ gehört der Tanz hierzulande doch eher in die Rubrik „Spaßvergnügen“ – und das will man sich nicht mit einer Vorschriften-Sammlung vermiesen lassen. Verkopfte Gesetze und das Klischee vom „sinnlichen Tango“ beißen sich. Was halt gar nicht ginge, so vormals der oben zitierte RTL-Chef und „Tutti-Frutti“-Kreator, sei „Striptease mit anschließender Diskussion“.

Nach einer Phase, in der Veranstalter voneinander irgendwelche Auflistungen der „Códigos de la Milonga“ abschrieben, bemerke ich momentan ein gewisses Zurückrudern. So werden diese auf der Website des bekannten Tangolehrers Fabián Lugo inzwischen im Archiv versteckt, ziemlich liberal formuliert und in freundliches Licht getaucht: „Sie sind nicht als Einschränkung zu verstehen, sondern ermöglichen ein rücksichtsvolles Miteinander auf der Tanzfläche, so dass man entspannt und auf den Partner konzentriert tanzen kann.“ (http://tango-lugo.de/tango-tanzen-mit-genuss/) Veranstaltungen gar, in welchen explizit die Befolgung solcher Regeln verlangt wird, sind in der absoluten Minderheit: Man will ja mögliche Gäste nicht vergraulen…

Nach meiner Überzeugung wird es nicht gelingen, die Mehrzahl der Milongas zum „Hochamt des rechten Tangoglaubens“ umzumodeln: Um prinzipiell im Gegenuhrzeigersinn zu tanzen, möglichst niemanden zu behindern oder gar zu rempeln sowie vor dem Tanzabend zu duschen, braucht man keine „argentinischen Traditionen“. Tango im Gleichritt als meditative Gruppenübung allerdings ist meilenweit vom europäischen Verständnis des Paartanzes entfernt. Die Ideen, von denen man auf den Encuentros und sonstigen geschlossenen Wochenend-Exerzitien lebt, werden einer Minderheit vorbehalten bleiben.

Und so sehr der Deutsche auf das Wort „Tradition“ anspringt: Eine Blaupause von Buenos Aires-Milongas muss es dann doch nicht sein – schon deshalb, weil man selbst hierzulande selbstkritisch genug ist, um zu erkennen: Man ist doch angesichts emotionaler Blockaden und fehlender Spontaneität, aber stärkerer Disziplin näher am Finnen als am Argentinier…

Dies gilt vor allem für das Lieblingskind aller Traditionalisten, den Cabeceo: Dem germanischen Tanguero ist, schon im Hinblick auf seine gefühlten tänzerischen Fähigkeiten, Schummerlicht lieber als der Halogenstrahler vom Zahnarzt. Und Platzzuteilung sowie getrennte Tribünen für Männer und Frauen wie für verfeindete Fanlager beim Fußball sind Lichtjahre von dem entfernt, was man von Maas bis Memel unter einem „gemütlichen Tanzabend“ versteht. Und das direkte Anstarren anderer Personen war früher schon ein Aufforderungsgrund – allerdings zum Duell! Sicherlich wird der Cabeceo eine Option bleiben, von Situation bzw. Person abhängend – mehr nicht.

Insgesamt meine ich daher, beim Tango wird auch in zehn Jahren das Meiste in einem ganz erträglichen Rahmen, also ideologiearm bleiben. Etliche Probleme sehe ich allerdings in Bereichen, welche unseren Freunden von der Traditionsfront noch nicht aufgefallen sind:

Der Run auf den Tango hat sich meinem Eindruck nach ziemlich gelegt, die Szene wächst kaum noch – im Gegensatz zur Angebotsseite: mehr Häuptlinge für gleich viele (oder gar weniger) Indianer. Dies wird zukünftig zu harten Verteilungskämpfen führen – durchaus mit der Chance, dass man vielleicht mehr auf das Publikum hört und auf dessen Wünsche eingeht. Mal sehen…

Für mich ebenso beendet ist die Mär vom „Frauenüberschuss“: Auf den von mir besuchten Milongas jedenfalls kann davon keine Rede mehr sein. Der Grund? An eine kurzfristige Änderung der weiblichen Natur mit ihrer Präferenz des Tanzes glaube ich nicht, eher an das feminine Gespür für stimmungsmäßige Qualität und männliches Verhalten. Wenn die Zeichen immer mehr auf Langeweile stehen und Männer weiterhin große Probleme damit haben, auch mal mit einer fremden Dame zu tanzen sowie auf Belehrungen zu verzichten, wird man mittelfristig bald von einem „Männerüberschuss“ reden. Also, back to the roots: Gab‘s bekanntlich alles schon mal – vielleicht lernen die Herren der Schöpfung dann ja wieder, miteinander zu tanzen wie anno dazumal…

Die schlimmste Aussicht, die sich mir bietet: Der Tango hat die Jugend längst verloren, und daran sind eindeutig die Schrammelklänge früherer Epochen schuld. Mit 80 Jahren altem Geplürre lockt man keinen jungen Hund hinter dem Ofen hervor. Auch der Anblick einer durchschnittlichen Milonga bietet nichts vom dem, was vielleicht wenigstens mit dem jugendlichen Hormonstatus kompatibel wäre: Sinnlichkeit, Leidenschaft oder gar Erotik wurden flächendeckend ersetzt durch rheumatoide Reha-Gymnastik sowie Zeitlupentanz. Wie wäre es noch mit sputumfarbenem Rentnerbeige und Badelatschen?

Das gab es schon mal im Argentinien der 70-er Jahre – bis dann ein gewisser Piazzolla – in Verbindung mit dem heute so geschmähten Bühnentango – für einen erneuten internationalen Tangohype sorgte. In der Folge versuchten moderne Musikgruppen die Einbeziehung poppiger Klänge in die Tangomusik. Das alles hat man in der Zwischenzeit wieder abgewürgt. Wird es eine solche Wiedergeburt des Tango ein zweites Mal geben?

Nun gut, in meinem Alter muss ich mich mit langfristigen Prognosen nicht mehr abmühen. Ich weiß nur: Im Seichten kann man zwar kaum ertrinken – Schwimmen macht aber auch keinen Spaß…

P.S. Und wie wichtig der Nachwuchs ist, haben wir doch gestern erst wieder beim Fußball erlebt, oder? 

Kommentare

  1. Sehr gut und sehr richtig. Nicht dass sich jetzt all mein Denken auf TV richten würde...einen Post wed ich demnächst noch zum Thema Marketing-Dilemma texten...und dann solls auch mal wieder gut sein.

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    1. Dein neuester Beitrag gefällt mir sehr gut! Zum Evolutionsbegriff: Da irrt der Herr TV gewaltig, was ich ihm als gelernter Biologe nicht durchgehen lasse. Ich werd zum letzten Artikel noch eine Ergänzung schreiben!

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  2. Robert Wachinger5. Juli 2016 um 14:51

    Vielleicht sollte man den traditionellen Tango-Blogwarten schlicht jedesmal mitteilen, daß man ihre Regeln nur in argentinischem Spanisch (besser Lunfardo) und nur mit argentinischer Emailadresse und Blog-Url akzeptiert (also ein ".ar" am Ende ...).
    Von nem hergelaufenen Gringo lässt man sich gar nichts sagen ;-) (und da ich eh nur rudimentär Spanisch spreche, kann ich das alles gleich entsorgen ;-) ).

    PS: ich mag übrigens sowohl Cortinas als auch den Cabeceo (letzteres insbesondere, weil ich nach meiner eigenen Einschätzung besser tanze als spreche ;-) ).

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  3. Ein guter Vorschlag: Auch sprach- und webmäßig akzeptieren wir nur Authentisches!
    Der Gringo war allerdings nach eigenem Bekunden schon öfters in Buenos Aires - da legt er großen Wert drauf.

    In Pörnbach wirst Du allerdings weiterhin auf Cortinas verzichten müssen - aber Du kannst ja beobachten, wann ich eine CD wechsle.

    Und bei Vorliegen von Spezialbegabungen ist der Cabeceo schon in Ordnung!

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    1. Robert Wachinger7. Juli 2016 um 14:00

      Kein Problem. Ich mag zwar Cortinas, aber lebensnotwendig finde ich sie nicht. (Und per Cabeceo aufforden geht sogar in Pörnbach ;-)))) :-P )

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    2. Eben! Beim Tango ist gar nix lebensnotwendig (auch wenn das manche behaupten) - außer, dass man ihn tanzt!

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    3. Robert Wachinger9. Juli 2016 um 17:29

      "Beim Tango ist gar nix lebensnotwendig, außer, dass man ihn tanzt!"
      Grosse Weisheiten können so banal sein ;-)

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    4. ...und müssen halt manchmal auf ein Kalenderblatt passen!

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