Tango-Evolution beendet?



Die Debatte zwischen “Tango Voice” und Yokoito geht fröhlich weiter! Man hat nun den Evolutionsbegriff in selbige eingeführt:

Tango Voice gibt zwar zu, Evolution bestehe aus Veränderung; sie sei aber vor allem eine Anpassung an ökologische Nischen. Und die für den traditionellen Tango sei halt im Buenos Aires der letzten 60 Jahre nahezu gleich geblieben. Dessen Adaptierung an die Umweltbedingungen in der „Ersten Welt“ werde allerdings durch Ignoranten verhindert, die sich weigerten, die traditionellen Codes anzuerkennen.

Also, lieber Tango Voice, die zentrale Eigenschaft der Evolution ist halt die, dass sie einfach passiert  – und stetig weitergeht, ohne richtungsmäßige Anweisungen zu akzeptieren. Ökologische Nischen kann man nicht per Vorschrift ummodeln! Und es ist bei all den historischen und gesellschaftlichen Veränderungen mehr als fraglich, ob diese Nischen im heutigen Argentinien seit Jahrzehnten unverändert existieren. Eher dürften sich in der Großstadt Buenos Aires soziologische Parallelen zu den Metropolen der „Ersten Welt“ finden.

Und wenn doch nicht, dann wäre traditioneller Tango der seltene evolutionäre Sonderfall des „lebenden Fossils“, quasi der „Quastenflosser vom La Plata“. Eine solche Spezies kann man unmöglich exportieren: hoch spezialisiert und empfindlich gegen Umweltveränderungen! Überleben kann sie nur in ökologischen Nischen, die sich seit Jahrmillionen kaum gewandelt haben, zum Beispiel die Tiefsee oder die mullahseits überwachte traditionelle Milonga.

Motor der Evolution ist die Variabilität: neue Musik, neue Tanzstile. Im Prozess der Selektion entscheidet sich, was davon besser zu den (sich ebenfalls verändernden) ökologischen Nischen passt. Das Bessere ist somit der Feind des Guten – mit Vorschriften, wer da gewinnen soll, ist nix zu machen! Ein Motor der Evolution ist auch die Überproduktion: Insofern ist es gar nicht schlecht, wenn auf dem Tangomarkt das Angebot die Nachfrage übersteigt. Blödsinn kann so auch ausselektiert werden: Möge das Beste gewinnen!

Doch der Mensch kann tatsächlich in begrenztem Rahmen in die Evolution eingreifen: Man nennt dies „künstliche Zuchtwahl“ – sprich die Entwicklung von Haustierrassen. Da wird dann einfach von oben entschieden, wie’s weitergeht, wer sich mit wem paaren darf, die angebotenen Nischen sind ausgesprochen unnatürlich (siehe Massentierhaltung). Domestikationsmerkmale sind u.a. Fellreduktion (z.B. Hausschwein), Verlust natürlichen Verhaltens (u.a. Scheu vor dem Menschen), infantile Verhaltensweisen im Erwachsenenalter (Bellen bei Hunden) sowie Ausdehnung des Sexual- und Brutpflegeverhaltens (Milchkühe).

Parallelen zum Tango verkneife ich mir tapfer. Und natürlich kann man die kulturelle Evolution nicht eins zu eins mit der biologischen vergleichen – aber ich hab ja mit dem Schmarrn auch nicht angefangen! Immerhin gesteht Tango Voice (im Land des Kreationismus!) die Existenz der Evolution ein. Sein Verständnis dieses Prozesses ist allerdings – das  muss ich als studierter Biologe schon sagen dürfen – ziemlich naiv. Eine künstliche ökologische Nische zu basteln und dann zu hoffen, die Evolution würde darin enden, dürfte kaum funktionieren.

Und wenn, dann wäre oberhalb der Rasse des domestizierten Tangodackels damit Schluss. Und da ich diesen schon kenne, kann ich gerne darauf verzichten!

P.S. Zum Thema "ökologische Nische" noch mein Lieblings-Biologenwitz:
In einem Ost-Zoo wird nach der Wende von Fördermitteln ein neuer Löwe eingekauft. Bei der Fütterung dann die Enttäuschung: Seine Kumpels kriegen Fleisch, er Bananen. Auf seine Beschwerde hin kriegt er vom Zoodirektor die Auskunft: "Na ja, du weißt ja, wie es bei der Verwaltung von Sondermitteln ausschaut - wir mussten ein wenig tricksen. Kurz und gut: Du sitzt auf der Planstelle von einem Affen!"  

 

Kommentare

  1. Lieber Gerhard,
    vielen Dank für den wunderbaren Artikel.
    Jetzt hab ich noch mehr Grund reine Tradimilongas weitgehendst zu meiden, wegen der Evolution wärat`s. Kann es sein, daß die eingeschlafenen Füße damit zu tun haben ? Laufe ich Gefahr, daß sie sich zurückbilden ?Auf Quastenflossen etwa ? Und muss ich nun tatsächlich auch noch Haarausfall fürchten ? (als Tango-Sau quasi ) Daß man mit zunehmendem Alter infantiler wird, wußte ich ja, aber ich hatte gehofft, noch ein bissal Zeit zu haben ....

    Ich habe den link in deinem Artikel angklickt, aber ich muss gestehen, daß mir das dann doch zu viel wurde und meine Leidensfähigkeit echt auch begrenzt ist. Aber eine Frage tut sich mir aus aktuellem Anlass auf: separated seating ! Glaubst Du, daß man, wenn man im Paarbereich Platz genommen hat, diesen dann auch mal verlassen darf und zB bei den Damas Platz nehmen darf, falls man einen Fremdtanz möchte, oder ist das dann auch verboten ?????
    Fragen über Fragen ....

    Ich wünsche Dir und Deinen Lesern einen wunderbaren Abend und liebe Grüße aus Wien
    Alessandra

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    1. Liebe Alessandra,

      die Rückbildung von Extremitäten gab es in der Evolution tatsächlich – so entstanden die Wale aus landlebenden Huftieren. Dass Solches durch Nichtgebrauch (evtl. Traditango) erfolgt, gilt allerdings in der Evolutionstheorie als widerlegt – siehe Lamarckismus. Und von Haarausfall sind eher die Männer betroffen. Infantil werden aber kann bei den heutigen Verhältnissen im Tango sogar eine Gnade sein…

      Zur Platzwahl habe ich leider schlechte Nachrichten: Wenn man auf Milongas „platziert“ wird (wie in den Restaurants der ehemaligen DDR), darf man selbstverständlich nicht wechseln – einmal Paar, immer Paar! Am besten getrennt und im Abstand von einer Viertelstunde dort erscheinen!

      Herzliche Grüße nach Wien
      Gerhard

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    2. Lieber Gerhard,

      zu meiner Frage gab es ja einen aktuellen Anlass: in Prag durften wir erstmals separated seating erleben ... http://tan-do.net/atango/2016/06/29/tangon-in-prag-die-zweite/
      Wir haben aber unser Niescherl eh nur selten verlassen.
      Ich hab auch noch alle Haare und Peter auch ... ;)

      Herzlichst Alessandra

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  2. Das atemberaubend Freche bei Tangovoice ist ja die Forderung, die Umwelt hätte sich gefälligst an die Spezies anzupassen. Aber immerhin- TV hat es fertigbekommen, mich aus meiner fernöstlichen Ausgeglichenheit rauszukriegen und streckenweise echt sauer zu machen.

    Wenn er doch zumindest was Positives anzubieten hätte. Sowas wie: Sushi schmecken am besten, wenn man dabei Kimono trägt. Statt rumzujaulen, dass hierzulande Leute auch mal einen Rotwein zu Sushi trinken oder Avocado reinzurollen.

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    1. Warum bin ich da nicht drauf gekommen? Natürlich, laut TV muss sich die Umwelt der Spezies anpassen!

      Übrigens schreibst Du nach meinem Eindruck am besten, wennst richtig sauer bist… nur so als Tipp.

      Und mit Sushi kannst dem Herrn nicht kommen, eher mit Empanadas (natürlich nur original argentinischen)!

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    2. Hallo,
      ich bewundere Dich und Gerhard zutiefst dafür, daß ihr es geschafft habt dieses TV Manifest ganz zu lesen ... mir hat es schon nach drei Seiten "den Vogel rausgehauen" ... Danke jedenfalls, denn mit euren Beiträgen (und wörtlichen Zitaten) spare ich eine Menge Zeit und hab trotzdem was zum Lachen !

      Liebe Grüße
      Alessandra

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    3. Es war mir ein Vergnügen (jedenfalls teilweise). Aber danke fürs Danke.

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