Wenn ich Tangolehrer wäre…
…hätte
meine Frau ja schon längst meine Betreuungsverfügung (§ 1897 Abs. 4 BGB) beim
Amtsgericht eingereicht (habe ich so festgelegt) und es somit verhindert! Kann also gar nicht sein...
Um
nicht missverstanden zu werden: Ich habe schon mit diversen Menschen Tango
geübt, auch mit totalen Anfängern – und etliche beschlossen daraufhin, keine
Kurse (mehr) zu benötigen. Sie fielen (und fallen) dennoch auf den Milongas ziemlich
positiv auf.
Es
gibt tendenziell wenige, die seit 16 Jahren Tango tanzen und trotzdem nicht
unterrichten. Manche entdecken ja schon nach weitaus kürzerer Zeit an sich selbst, dass sie
Tangolehrer seien, bieten ihrer verblüfften Umwelt Unterricht an – und, noch
erstaunlicher, bekommen sogar genügend Schüler! Zwar bietet die Szene auch
Ausbildungsmöglichkeiten für jenen nicht offiziell anerkannten Berufsstand,
aber die paar tausend Euro, welche hierfür verlangt werden, mögen nicht viele
springen lassen – und zwar bis auf wenige halbwegs seriöse Angebote (wie von Juan
D. Lange oder Michael Domke) völlig zu Recht!
Was
mich immer wieder verstört: Auf den Milongas sehe ich fortwährend massenweise
neue Anfänger – ebenso wie Paare, die schon einige Jahre tanzen. Deren
Fähigkeiten auf dem Parkett rangieren naturgemäß zwischen unterirdisch und halbwegs
erträglich. Doch jenseits dieses Bereichs ist weitestgehend Schluss. Bei dem
Run, welcher schon seit Jahren auf den Tango argentino herrscht, müsste sich
doch inzwischen eine solide Spitzengruppe herausgebildet haben! Stattdessen
bleiben viele nach einiger Zeit weg oder tanzen zwar schon lange, aber immer
noch ziemlich mäßig.
Im
tangoseits oft geschmähten Standard- und Lateinbereich dagegen gibt es eine
solide „Oberliga", insbesondere in den Tanzsportclubs und auf dem Turniersektor.
Über die Ursachen darf man spekulieren. Für mich steht im Vordergrund die
unterschiedliche Qualifikation des Lehrpersonals. Bereits ein normaler
Tanzschullehrer bringt es auf gut tausend Stunden Ausbildungszeit (und nicht
nur zirka ein Zehntel wie im Tango), gerade im Turnierbereich gibt es kaum
Ausbilder, welche nicht über jahrelange Wettkampferfahrung und eine Trainer-Lizenz verfügen – und: Die
sportiven Tänzer bilden sich vor allem durch Einzelunterricht fort.
Gerade
bei einem Improvisationstanz wie dem unseren erreicht man mit Gruppenunterricht noch weniger als im
Standard. Den noch mittels des methodischen Steinzeitverfahrens „vormachen –
nachmachen“ zu erteilen sowie hierzu zwei
Anfänger miteinander herumstolpern zu lassen, reduziert die Erfolgsquote weiter.
Den Focus schließlich auf „Figuren“
zu lenken (und das repräsentiert neunzig Prozent des Tangounterrichts hierzulande)
senkt die Aussichten einer Weiterentwicklung auf nahezu Null. Das bisschen
Fortschritt, welches ich auf Milongaparketts sehe, resultiert eher aus der
praktischen Erfahrung dort. Gut, dass zumeist kalorienarme EdO-Musik dudelt –
so fällt das Elend weniger auf…
Wäre
ich also Tangolehrer, würde ich vorwiegend Einzelstunden
geben – höchstenfalls für eine Gruppe von drei oder vier Personen. Ein
Lernender, der im Körperkontakt mit einem erfahrenen Tänzer die Bewegungen
spürt, kommt ungleich schneller voran, als wenn ein Partner, der es auch nicht
kann, an ihm zerrt – und das gilt für Folgende und Führende gleichermaßen! Oder
sitzt in einem Fahrschulwagen rechts vorne jemand, der keinen Führerschein hat?
Den
Einwand, dass sich Einzelstunden nicht rechnen, lasse ich nicht gelten – und
zwar hinsichtlich beider Seiten: Spitzen-Standardtrainer kriegen dreistellige
Stundenlöhne, und auch für die Schüler lohnt sich die Investition bei einem
wirklich guten Privat-Lehrer. Sie kommen weit schneller voran als in den üblichen
Kursen, sodass sich der finanzielle Mehraufwand in engen Grenzen hält.
Jammernde Tango-Instruktoren müssten eventuell zur Kenntnis nehmen, dass es
keine Garantie gibt, von diesem Tanz leben zu können. Und für Lernende, die
stets nur zum nächstgelegenen Kurs rennen, gilt ein Wort von Werner Schneyder zum einstigen Glykol-Skandal: „Wer für 1,98 € eine Spätlese will, der gehört vergiftet.“
Was würde ich meinen
Schülern beibringen?
Mir
fällt immer wieder auf, dass auf dem Parkett zwar einigermaßen stimmige
„Figuren“ abgetanzt werden (siehe die berühmte „Achterbasse“), aber halt eher
auswendig gelernt denn im gegenseitigen Kontakt. Und nun wird es
überraschenderweise richtig argentinisch: Ohne eine wirklich gute Umarmung („abrazo“) geht nichts. Sie ist für mich die Basis der
gegenseitigen Verständigung, zuallererst über die Frage, auf welchem Bein jeder
steht, wie ein Belastungswechsel sich anfühlt. Das bedeutet jedoch nicht, dass man ständig aneinander kleben muss!
Und
das Geschwafel vom „Führen und Folgen“
setzt beide Seiten unter Druck: Die Männer müssen die Partnerinnen „in den
Griff kriegen“, die Frauen belastet die Angst, ungenügenden „Gehorsam“ zu
liefern. Wie wäre es stattdessen mit dem Bild vom „gemeinsamen Gespräch“? Leute, nehmt die (Ver-)Spannung raus, anstatt sie mit Vokabeln wie „richtig" oder „falsch" noch zu steigern!
Und
genauso wenig funktioniert ohne einen zumindest leichten Andruck nach vorne („apilado“),
verbunden mit dem Aufsetzen der Ballen vor dem der Ferse. Reihenweise laufen
gerade die Frauen mit dem Oberkörper nach hinten den Männern davon, anstatt
nach vorne zu belasten und sich schieben zu lassen – und sie stehen den
Partnern mit nach vorne zeigenden Beinen im Weg. Beobachten Sie einmal, wie
viele Herren (auch in fortgeschrittenem Zustand) ständig außen um die Damen
herumtanzen, anstatt ein schönes, einspuriges Gehen „inside“, also in die
Rückwärtsschritte der Tanguera hinein, zu vollführen!
Wie
mein alter Standardlehrer uns immer wieder eintrichterte, ist es eine
Daueraufgabe, die einzelnen „Kasterl“ unseres Gestells immer wieder so zu
sortieren, dass es passt und nichts wehtut. Insbesondere gilt dies für eine
gute Spannung der Bauch- und Rückenmuskeln, um das
Becken nach hinten zu bringen und
die „Achse“ zu stabilisieren. Es
reicht überhaupt nicht, dies in der ersten Stunde einmal zu erzählen – solche
Dinge müssen kontinuierlich geübt werden (lasst's doch dafür das Gesabbel über Códigos weg)! Die Schultern gehören entspannt auf ihren angestammten Platz, also nach
unten und hinten. (Nicht so, wie man es bei einer berühmten Lehrbuchautorin sieht, welche
mit dem linken Arm über die Schulter des Partners bis zu dessen Nierenregion tastet und so mit
der eigenen Schulter ihr Ohr zuhält – wahrlich, das Buch sollte „Caminar medio sordo“ heißen...) Und aus
der „Ziehharmonika“ müsste ein Hals
werden, welcher in einem schön erhobenen Kopf
endet, anstatt mit Blick nach unten die Füße des Partners zu zählen. (Schon
daher würde ich allen Schülern die Brille wegnehmen – und zudem, weil sonst bei
leichtem Kopfkontakt die Bügel der Sehhilfe erotisch aneinanderplauzen…)
Und
so ginge es weiter: Wie fühlt es sich an, wenn eine Bewegung nach vorne, hinten
oder zur Seite geht? Wie muss ich meine Balance
steuern, damit ich jederzeit anhalten kann – und das fast ausschließlich auf
einem Bein?
Als
„Choreografie“ böte ich in typisch argentinischer Manier das Gehen („caminar“) an: inside
oder außenseitlich links oder rechts, mit den entsprechenden Wechseln der
Seiten und vom Parallelsystem ins gekreuzte System sowie zurück. Nimmt
man noch einfache Wiegen („cunitas“) sowie Tempowechsel
(Verdoppelungen oder Halbierungen) hinzu, hat man schon eine Riesenmenge Stoff –
und kann damit wunderschöne Tangos hinkriegen. Um mit dem Professor Bömmel aus der „Feuerzangenbowle" zu sprechen: „Das mit den Boleos und Ganchos krieje mer später." Stattdessen erlebe ich ständig,
wie sich Anfänger mit griechisch-römischen Beinhaklereien gegenseitig zur Fall
bringen wollen. Ich könnte öfters schreiend aus einer Milonga laufen –
und die Beginner zu ihrem eigenen Schutz gleich mitnehmen!
Und,
liebe Tangolehrer, wie wäre es, wenn ihr den Leuten nicht ständig neue Schritte
beibringen würdet, sondern ihnen die Aufgabe stellt, mit einfacher Choreografie
sowohl Di Sarli und D’Arienzo als auch Sexteto Milonguero oder Otros
Aires zu interpretieren? Also die gleichen
Schritte zu unterschiedlicher Musik
statt umgekehrt? Und: Schon mal was von der Achterphrasierung der Tangomusik gehört? Ach nee, lasst stecken...
Zurück zum Thema: Wie sähe es aus, wenn ich selber Tango unterrichtete? Bei der
momentan aufs Parkett gelockten Population wäre ich wohl nach vier
Wochen die letzten Schüler los – „weil die
im anderen Kurs schon viel mehr Schritte gelernt haben“ oder „dort die Musik nicht so schwierig ist“.
Ein
älterer Lehrerkollege erzählte mir einmal, er habe als Referendar eine
Lehrkraft kennengelernt, die so mitreißende Stunden hielt, dass die Schüler oft
beim Läuten spontan sowie stehend applaudiert hätten. Der Kollege habe dann nur
bescheiden gemeint: „Ach Kinder, ich mach‘
das doch nicht für euch!“
P.S. Und, liebe Tangolehrer, wenn ihr wieder mal eines eurer hochmögenden Lehrvideos ins Netz stellt: Zeigt doch mal, wie eure Schüler tanzen! Dass ihr es selber hinkriegt, glaube ich ja - aber dann würde ich sehen, ob ihr es auch vermitteln könnt!
Wieder einmal hatten wir bezüglich Tango Argentino den gleichen Gedanken.
AntwortenLöschenIch bin gerade dabei, "Das Lehrbuch für den Tango Argentino: Band I" durch eine DVD zu ergänzen und führe dabei alles mit einer Tangoschülerin von mir vor - die sich übrigens erst seit einem Jahr mit Tango Argentino beschäftigt.
Viele Grüße nach Pörnbach
Egon Wenderoth
Lieber Egon,
AntwortenLöschenna eben - geht doch! Ich finde, dieses 1:1 Lernen ist durch nichts zu ersetzen.
Viel Erfolg mit Deiner DVD!
Gerhard
A propos Angst haben, nicht richtig zu folgen...ich glaube, diese Dame ist da relativ angstfrei: https://youtu.be/IH59qnuyOww
AntwortenLöschenIn der Tat - es gibt noch Frauen, die selber tanzen, werden aber immer weniger. Je besser ein Tango, desto mehr teilen sich "Führen und Folgen" gleichmäßig auf.
AntwortenLöschenSchönes Video, kann es leider im Kommentarbereich nicht verlinken.(Kurzanleitung: Link kopieren und in Suchmaschine geben, dann kommt's!)
Eine ganz blöde Frage meinerseits: Wenn man regelmäßig mit einer Partnerin tanzt (bisher absolvierten wir einen Anfängerkurs), welche Vorgangsweise ist dann hinsichtlich Einzelstunden empfehlenswert? Die Dame mit einem Lehrer, der Herr mit einer Lehrerin, oder beide mit einem Lehrerpaar? Oder?
AntwortenLöschenGar keine blöde Frage!
LöschenIch würde schon zusammen mit meiner Partnerin bei einem Lehrerpaar Unterricht nehmen. So sieht man eher, ob es mit einem „normalen“ Tanzpartner klappt oder nur mit einem sehr versierten. Ein Einzellehrer wäre auch ok, wenn er beide Rollen beherrscht, aber erfahrungsgemäß ist das doch nicht hundertprozentig gegeben.
Wichtig beim Unterricht wäre mir, ob man von meinem persönlichen Tanzstil ausgeht oder mir der Lehrer seinen eigenen aufdrücken will.
Viel Erfolg!
Merci!
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