Runter kommen sie immer
Vorausgeschickt sei, dass ich dieses Tangolehrerpaar wirklich sehr schätze, auch wenn die Werbung, welche ich einmal von ihnen las, etwas übertrieben klingt: „Ihnen wurde der Tango Argentino von den berühmtesten Tangolehrern der Welt beigebracht – und Tangolehrer verschiedenster Nationalitäten (auch argentinische Lehrer) bilden sich bei ihnen fort.“ Na gut, neue Schüler kommen heute im Tango nicht mehr automatisch, da muss man sich schon bemühen…
Immerhin
befindet mich selbiger Tanzlehrer für würdig, gelegentlich auf meine Ansichten
einzugehen: In der aktuellen Ankündigung seiner neuen Workshops „DOUBLE TIME –
TANZEN, FÜHREN, GEFÜHRT WERDEN“ schreibt er:
„Wie werden die
Schritte im »double time« gesetzt? Klein und kurz. Außerdem auf den Ballen und
nach »oben« (nicht »ins Knie«) getanzt. Es gibt eigentlich nicht soviele
Anwendungsfälle, wo es passt, während des Tanzens »ins Knie« zu gehen: bei
einer starken Betonung in der Musik mit anschließender Pause oder am Ende eines
Stückes. Ähnlich verhält es sich beim Drehen oder bei der Colgada – man
»schraubt« sich nach oben, nicht nach unten (das ist ein anderes Thema, auf
welches ich demnächst eingehen werde. Damit bin ich anderer Meinung als Gerhard
Riedl, der die Ansicht vertritt, dass man in der Tiefe drehen sollte. Beitrag -
http://bit.ly/1R6iNBG).“
(Quelle: http://www.tango-x.com/tanzen-im-double-time.html)
(Quelle: http://www.tango-x.com/tanzen-im-double-time.html)
Letzteres
finde ich besonders interessant. In meiner Sicht treten beim Tanzen mindestens zwei
Energieformen auf: Bewegungsenergie
(die Physiker nennen das „kinetische Energie“, also halbe Masse mal
Geschwindigkeit zum Quadrat) sowie Lageenergie
(„potenzielle Energie“). Wenn also ein Flugzeug in den Himmel steigt, wandelt
sich kinetische in potenzielle Energie um, im Sturzflug nach unten umgekehrt,
beim Zerschellen am Boden entsteht dann Deformationsenergie. Daher der
Fliegerspruch, mit dem ich meinen Beitrag betitelt habe – und welcher ja in allen
Punkten mit dem Tango kompatibel ist!
Möchte
man daher seinen Tanz mit möglichst großem Impuls
(also Masse mal Geschwindigkeit) beginnen, wäre es gut, aus der Höhe in die
Tiefe zu tanzen, auf dass sich die potenzielle Energie in kinetische umwandle.
Ebenso ist dies im Augenblick einer Drehung zu empfehlen, auf dass man ein
möglichst hohes Drehmoment (Kraft
mal Weg) erziele. Vulgo: Man geht vor der Drehung hoch, dann runter und danach
wieder nach oben, was den Drehschwung ausbremst. Zur Beschleunigung der
weiteren Bewegungen kann man dann wieder sanft nach unten tanzen.
Nach
meinem Eindruck dreht doch hier das Paar, vor allem der Mann, in der Tiefe,
oder? Und ich sehe kaum eine Stelle, an der er nicht ins Knie geht - wirkt einfach elastischer und sanfter!
Was
mir weiterhin auffällt: Eine enge Haltung ist hier eher weniger zu erkennen (wie
auf den meisten ihrer Videos). Nicht, dass mich das stört – nur hatte ich schon
vor einiger Zeit aus dieser Quelle erfahren, nunmehr sei der „Milonguero-Stil“
wieder angesagt:
„Vom experimentellen
Tango, wo es scheinbar keine Grenzen in der Bewegung und in der Interpretation
der Musik gibt, entwickelte sich der Tango nuevo scheinbar zum puren Gegenteil.
Hin zu einem sehr intensiven, nahen, engen Tango. Das, was vor einigen Jahren
von Top-Lehrern als das Neueste propagiert wurde, zeigte sich später als
überholt und wird heute nicht mehr unterrichtet, wenn auch zum Teil noch
getanzt.“ (siehe:
http://www.tango-x.com/vom-weiten-zum-engen.html)
Na
Gott sei Dank auch von den beiden! Da ist doch ziemlich viel „Luft im Paar“, oder?
Aber wenn man aneinander pappt wie frisch verleimt, sind halt heftigere
Aktionen kaum möglich.
An
den Tänzer auf dem Video hätt‘ ich dann nur noch einen kleinen Tipp: Ned so arg
mit den Füßen voraus tanzen, sonst verlagert sich der Oberkörper ziemlich weit
nach hinten…
Dies
stellt aber nur - in aller Bescheidenheit – die Sichtweise eines Provinz-Tangueros
dar, welcher noch nie mit der Upper Class des Tango argentino in Kontakt
gekommen ist. Ich tanz halt nur so einfach zum Spaß auf irgendwelchen
Dorfmilongas. Dafür muss ich werbetechnisch allerdings auch nicht ständig das
Rad neu erfinden – siehe http://milongafuehrer.blogspot.de/2013/11/kraht-der-hahn-auf-dem-mist-trendsetter.html
Was das "früher weit, heute eng" angeht: Eigentlich steckt die Antwort im Zitat selbst. "Das, was vor einigen Jahren von Top-Lehrern als das Neueste propagiert wurde, zeigte sich später als überholt und wird heute nicht mehr unterrichtet, wenn auch zum Teil noch getanzt".
AntwortenLöschenDas ist das einzig Zeitlose. Warum sollte auch der aktuelle Stand der Dinge das "Ende der Geschichte" markieren?
Ich erinnere mich da gerade auch an einen einschlägigen Blog-Kommentar auf du-weißt-schon-wo - daß das Schnitzel der Tangostile nun endgültig, zugunsten von Tradi/bewegungsminimiert, paniert sei.
Auf Claims dieses Typs ist die beste Antwort ein weises asiatisches Lächeln.
Ich lächle ja - nur sieht man das vielleicht nicht immer an meinen Texten! Aber ich arbeite dran.
LöschenNatürlich geht die Evolution auch beim Tanz immer weiter - nur im Gegensatz zur Biologie oft wieder zurück. Dies erklärt hier das Neuauftreten von Dinosauriern!
Zu dem, was die Beiden da tänzerisch anbieten, würde meine geschätzte Tanzpartnerin anmerken: Die Musik stört gar nicht!
AntwortenLöschenMan muss den beiden zugute halten, dass sie hier keine "Tangoshow" tanzen, sondern lediglich den Unterrichtsinhalt der Practica verdeutlichen.
LöschenIch hätte solche Aktionen allerdings eher zu einem Tango nuevo getanzt - aber ja, der "Genosse Trend" ist halt übermächtig!
So ganz kann ich das nicht unkommentiert stehen lassen. Und wie im Artikel angedeutet, werde ich mich demnächst dieser Thematik widmen.
AntwortenLöschenVORBEMERKUNG EINS: Die Mechanik in der Physik gehört zu den Bereichen, wo gefühlte Erfahrungen oftmals nicht mit den mathematischen Erkenntnissen übereinstimmen (ungefähre Formulierung, soweit ich mich erinnere, von Physik-Professor Edgar Lüscher, bei einer seiner Vorlesungen, gestorb. 1990). Man denke dabei nur an den bekannten Fall, wo sich die Katze im freien Fall um sich selbst dreht. Es gibt hier zahlreiche Lösungsmöglichkeiten, der Impulserhaltungssatz wird vorwärts und rückwärts durchgekaut – aber dennoch gibt es noch keine vollständig zufriedenstellende Erklärung.
VORBEMERKUNG ZWEI: Tanzen ist etwas in uns tief Verwurzeltes. In uns herrscht der Zwang, sich auf Rhythmen zu bewegen. Je langsamer die Frequenz, je tiefer der Ton, desto tiefer gehen wir in die Knie. Das hat was mit dem Spüren des eigenen Körpers zu tun.
JETZT: Wird die Musik komplexer, reichen die einfachen Bewegungsformen nicht mehr aus. Der erste Lösungsansatz ist, einfache Bewegungs-(Tanz-)formen mit einer komplexen Musik zu verknüpfen, um daraus eine anspruchsvollere Bewegung zu erzeugen. Das gelingt einigermaßen gut – und für die meisten Leute, die einfach nur just for fun tanzen, genügt das auch (gleich vorweg, das ist keine Wertung).
Tänzer, die sich mit komplexer Musik tief auseinandersetzen, benötigen vielfältige, optimierte Bewegungsformen. Balletttänzer sind, was die Vervollkommnung der Bewegung angeht, sehr weit. Viele grundlegende Bewegungen, zum Bespiel Sprünge und Drehungen, gehen in die Höhe. Das erkauft man sich mit einem »labilen« Gleichgewicht, was durch Üben ausgeglichen werden muss. Im konkreten Fall geht der Tänzer ein wenig in die Knie und stößt sich nach oben ab, um dann Pivots (Drehungen) zu vollführen. Der Tänzer holt sich also den Impuls vom Boden. Mit der seit Jahren zunehmenden Professionalität des Tangos wird dieses Ballett-Wissen in den Tango transportiert.
Nicht umsonst sprechen viele Lehrer, sowohl im Tango als auch im Ballett, davon, dass der Tänzer mit dem Boden arbeiten solle, was nichts anderes bedeutet, als dass man sich den Impuls vom Boden holen soll.
BEMERKUNG EINS: Das Video ist schon ein bisschen älter. Es sei uns zugestanden, dass wir Techniken verändern. Im konkreten Fall geht es hier aber weniger um mich, sondern darum, dass ich die Frau (Patrizia) nach oben führe.
BEMERKUNG ZWEI: Es freut mich, dass Du bemerkt hast (und das meine ich nicht ironisch, es spricht für Dich), dass meine Schritte nach vorne gehen und mein Oberkörper ein wenig nach hinten geneigt ist. Im Video ist das deshalb so deutlich zu sehen, weil wir es extra gezeigt hatten. Es ist ja ein Workshop-Video. Beim normalen Tanzen oder in der Show sieht man es rudimentär. Dennoch: kann es sein, dass sich da gerade was im Tango ändert? Auch dazu wird es demnächst einen Artikel geben.
Lieber Michael,
Löschenich freue mich ja, dass Du meinen Beitrag kommentierst! Ich bin ein großer Freund der Dialektik.
Simple Mechanik beruht (wie vieles in der Physik) auf Empirie und nicht auf mathematischen Erkenntnissen. Dazu müssen wir nicht Prof. Lüscher bemühen – und eine Katze im freien Fall sehe ich in dem Zusammenhang auch nicht.
Hinsichtlich des Vertanzens komplexerer Musik: Völlig einverstanden – ich bin ein großer Anhänger vielfältiger Bewegungsformen, solange sie sich nicht in auswendig gelernten „Figuren“ erschöpfen, zur Musik passen und meine Technik nicht überfordern. Leider hört man solche Aufnahmen kaum noch auf Milongas.
Ballett ist sicher die Königsdisziplin des Tanzes – nur bewegt man sich beim Tango weder auf Spitze noch gibt es zu beruflichen Balletttänzern im Tango irgendein Pendant. Klar kann man mit großer Perfektion auch in der Luft drehen. Auf den Milongas erlebe ich halt viele Paare, die nach oben drehen und dann instabil werden. Zur „seit Jahren zunehmenden Professionalität des Tangos“ sage ich jetzt lieber nichts – Du willst sicher eine ernsthafte Antwort.
„Den Impuls vom Boden holen“: Prima, und auch „in den Boden tanzen“ – aber das mit gestreckten Knien? Und Du erzeugst den Drehimpuls, und zwar durch eine Abwärtsbewegung.
Bevor ich das Video hochlud, habe ich mir einige andere von Euch angesehen. Die Punkte, die ich anführe, zogen sich ebenso durch die restlichen Produktionen. Weiterhin steht es Euch ja frei, Filme, die nicht mehr den aktuellen Stand beschreiben, wieder zu löschen.
Ich bin jedenfalls gespannt auf Deine weiteren angekündigten Veröffentlichungen!
Beste Grüße
Gerhard