Macht ja nichts!
Texte wie der folgende wabern derzeit in Variationen durchs Internet. Dieser stammt vom Tango-Gefühlsexperten Dimitris Bronowski, über dessen eindrucksvolles Schaffen ich schon mehrfach berichtet habe:
https://milongafuehrer.blogspot.com/search?q=dimitris+bronowski
Gießen wir uns denn ein Tässchen Fencheltee ein (hilft auch gegen lyrische Blähungen) und lesen ergriffen (sowie von mir übersetzt):
„Der kraftvollste Moment im Tango ist der, in dem nichts passiert.
Kein Schritt.
Keine Form.
Keine Show.
Nur Stille.
Nur Atem.
Nur das stille Gewicht zweier Menschen, die nirgendwo hingehen.
In diesem Moment verändert sich etwas.
Du hörst auf, dich zu bewegen.
Du hörst auf, zu führen oder zu folgen oder gut zu sein.
Und du existierst einfach, in den Armen eines anderen, in deiner eigenen Haut, in der Musik.
Es ist nicht leer. Es ist voll.
Voll von Präsenz.
Voll von Aufmerksamkeit.
Voll von einer Stille, die lauter spricht als Worte es jemals könnten.
Wir haben nicht viele Räume wie diesen.
Die Welt bewegt sich schnell.
Wir sind darauf trainiert, zu performen, zu beeindrucken, Ergebnisse zu verfolgen.
Aber Tango?
Tango lädt dich ein, still zu stehen und zu fühlen.
Nicht für immer.
Nur lange genug, um sich daran zu erinnern:
Ihr seid nicht nur ein Körper in Bewegung.
Ihr seid auch ein Körper, der hält.
Ein Körper, der zuhört.
Ein Körper, der ohne Worte sagen kann: ‚Ich bin hier‘.
Das ist der wahre Tanz.
Nicht die Drehung.
Nicht die Pose.
Sondern die Pause.
Der Moment, in dem nichts passiert ... und doch alles passiert.“
Auf Facebook bekennt darob ein Blogger-Kollege:
„Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können.“
Das ist natürlich schade – aber keine Sorge: Das wird schon noch!
https://www.facebook.com/helge.schutt.7 (Post vom 6.8.25)
Ohne Zweifel: Tango entwickelt sich immer mehr zum Non Tango, bei dem man einfach gar nichts mehr macht!
Na ja, doch: Immerhin verfasst man Poeme im Stil eines verliebten Vierzehnjährigen, die dem saupeinlich sind, wenn sie später die liebe Verwandtschaft beim 40. Geburtstag vorträgt.
Und beim Nichtstun kann ich bekanntlich mitreden!
Der Blogger-Kollege Jochen Lüders schrieb dazu:
„Der bekannteste Vertreter der Tunix-Fraktion ist Gerhard Riedl. Er ‚führt so wenig wie möglich‘, bleibt lieber einfach stehen, lässt sich vom ‚Feuerwerk‘ der Frau ‚bezaubern‘ und würde die Begriffe ‚Führen‘ und ‚Folgen‘ im Tango am liebsten ‚verbieten‘. (…)
Tja, wenn der Mann keine Ahnung habe, was er denn eigentlich tanzen möchte, ist es vielleicht wirklich besser, einfach stehen zu bleiben und die Frau machen zu lassen.“
https://jochenlueders.de/?p=15907
Als Mann keine Ahnung haben? Oh nein – das würde ja die Grundfesten der Tangotradition erschüttern!
Aber nun haben wir die optimale Idee des vierbeinigen Fortschritts entdeckt: Es machen einfach beide nichts!
Das schafft natürlich Spielräume auch für tänzerisch Begabungsfreie – und löst die Probleme überfüllter Tanzflächen.
In mir weckt das die Erinnerung an pubertäre Tanzpartys, wo der DJ gen Mitternacht bluesartig Wolkiges auflegte und das Licht schärfstens dimmte, worauf die Mädchen pflichtgemäß zu kreischen hatten.
Der Österreicher nennt dergleichen „Lamourhatscher“.
Perfekt dazu passt der Erfolgshit des Party-Ensembles „Die Flippers“ (benannt nach dem US-Serien-Delfin), den die Bandmitglieder Bernd Hengst und Franz Halmich uns 1969 zum Schwof vor die Füße warfen: „Weine nicht, kleine Eva“:
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Flippers
https://www.youtube.com/watch?v=iCmE4tnn3Xs
P.S. Kollege Wendel hat nun ebenfalls einen Text zum Thema veröffentlicht, den ich sehr interessant finde: https://www.tangocompas.co/naehe-als-marke-ueber-poesie-produkte-und-projektionen-in-der-tangowelt/
Liebe Herr Riedl,
AntwortenLöschenes könnte etwas abgesprochen wirken, wenn wir uns zeitgleich diesen jungen Mann "vorknöpfen", nur ist unsere Herangehensweise eine etwas andere. Bei Ihnen spricht Bronowskis Poesie-Versuch – sein Text, bei mir eher der Analytiker.
Aber seinen Sie versichert, ich hatte diesen "Brief an Dimtri" schon etwas länger auf der Timeline, wusste nur nicht wie ich ihn formulieren sollte. Immerhin habe ich etwas länger recherchiert, um nicht voreilig ins Fettnäpfchen zu treten, denn diesen beliebten Tango-Cyrano öffentlich anzugreifen, könnte manche Dame aus der Tangowelt ziemlich aus der Fassung bringen, aber sollte auch seine gute Seite anerkennen. Nun ja, ich werde ihn etwas später veröffentlichen.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Wendel
Lieber Herr Wendel,
Löschenich rate dazu, beim Bloggen keine Zeit zu verlieren: Das Internet ist schnelllebig.
Das Risiko, mir die Sympathien von Damen zu verscherzen, gehe ich ein. Meine Texte waren noch nie Eisprung auslösend.
Kompliment zum Ausdruck „Tango-Cyrano“ – ich habe ihn sofort beschlagnahmt!
Auf Ihren „Brief an Dimitri“ bin ich jedenfalls sehr gespannt.
Beste Grüße
Gerhard Riedl
Vielen Dank für Ihre Empfehlung meines Artikels.
LöschenMit freundlichen Grüßen
Klaus Wendel
PS: Wobei ich auch ein Kompliment Ihrer politisch geprägten Artikel zurückgeben möchte, wobei ich allerdings Ihre Bezugnahme auf die Tango-Szene oft "sehr gewagt" empfinde. Sie müssen, meiner Meinung nach nicht unbedingt immer diesen Bezug herstellen, nur weil sie den Namen "Tango-Report" als Blog-Titel tragen, und könnten den politischen Teil für sich wirken lassen.
LöschenMit freundlichen Grüßen
Klaus Wendel
Lieber Herr Wendel,
Löschenvielen Dank – ich habe Ihren Artikel gerne empfohlen.
Ich habe auch zahlreiche Texte ganz ohne Tangobezug veröffentlicht. Auf den Blog-Titel kommt es mir dabei nicht an.
Aber für mich ist Tango ein Mikrokosmos, in dem sich öfters auch die „große Welt“ spiegelt. Wenn ich das so sehe, beschreibe ich es halt.
Beste Grüße
Gerhard Riedl
„Tango lädt dich ein, still zu stehen und zu fühlen“ … Das habe ich vor einigen Jahren mal versucht, mit einer mit unbekannten Tanzpartnern zu verwirklichen … Sie sagte nach ner Weile zu mir: „Du könntest jetzt aber mal anfangen zu tanzen“ … diesen Satz höre ich seitdem immer wieder in meinem inneren Ohr.
AntwortenLöschenDas Innehalten auf der Tanzfläche, meinetwegen in einer Ronda, ist fast gar nicht möglich, ohne dass man von hinten die Energie spürt: „Wann tanzen die Stehschmuser denn endlich mal nen Schritt weiter??“
Andererseits … vor meiner Tango-Zeit habe ich verschiedene Arten zu tanzen probiert, zwei drei Jahren lang war es der Butoh (ein japanischer Ausdruckstanz, meist solo, wo die 100%igen weiß gekalkt, kahl rasiert und fast nackt irgendwie durch Bewegung und Kontakt mit den Zuschauern zum Ausdruck bringen, wie z.B. ein Blatt im Herbst sich anfühlt, wenn es sterbend den Baum verlässt und herabfällt) … evt. ein komplett unvertrautes Bild, aber so wurden wir zu einem Tanz inspiriert, was dann herauskam, war nicht vorhersagbar.
Worauf ich aber hinaus will, und hier trifft der Autor des obigen Gedichts einen wichtigen Punkt: Es gibt im Tanz den Moment, wo einfach nur NICHTS passiert, alles ist weg, der rote Faden gerissen … das war damals auch im Butoh fast immer mal da … und es waren die wertvollsten Momente im ganzen Tanz … so einen Moment auszuhalten wird sehr oft durch ein Wunder belohnt, plötzlich ist etwas da, was noch nie da war
Ich fühle seit langem, dass hierin ein Kern dessen verborgen ist, was man als Improvisation bezeichnet. Ich bin fest davon überzeugt, immer wieder mal zu üben, das Nichts auszuhalten (ohne sofort in irgend eine Aktion zu gehen), ist ein Schlüssel zum improvisierten Tanz.
Auf einer Milonga, unter den dort herrschenden Randbedingungen, nicht direkt umsetzbar, somit wäre es ein Vorschlag, solche Dinge außerhalb von Tanzveranstaltungen zu probieren … die Früchte können in der Milonga genossen werden.
Der Langen Rede kurzer Sinn: So schlecht finde ich die Zeilen des Herrn Bronowski gar nicht.
Beste Grüße von hier (Gersthofen)
Peter Pöllmann
Lieber Peter,
Löschenvom Butoh verstehe ich nichts. Aber soviel ich sehe, bewegt man sich da auch.
Und klar, es gibt bei jedem Tanz ruhige, atemlose Momente. Die wirken umso mehr, wenn man sich zwischendurch, gerne auch mal heftiger, bewegt. Stichwort: Kontraste.
Ich halte die momentane Mode, den Tango fürs Rumstehen zu preisen, für ein schlichtes Marketing-Manöver, mit dem man noch die letzten tänzerisch Grenzbegabten aufs Parkett lockt.
Insofern sehe ich den Text des Herrn Bronowski als puren Kitsch. Aber der kann durchaus erfolgreich sein – siehe die Romane von Courths-Mahler, Pilcher oder Lind. Und viele Tangotexte sind ja nicht weit entfernt.
Danke und liebe Grüße
Gerhard
> "Aber nun haben wir die optimale Idee des vierbeinigen Fortschritts entdeckt: Es machen einfach beide nichts!"
LöschenEncuentros kommen diesem Ideal oft schon erfreulich nahe, wie z.B. https://www.youtube.com/watch?v=Ro6sVHRcZLY
Zunächst einmal gilt es möglichst lange jede tanzähnliche Bewegung zu vermeiden, indem man einfach nur rumsteht und quatscht. Leider schwenkt die Kamera weg, aber das Paar (er: schwarze Hose, helles Hemd, sie: heller Rock und ärmellose Bluse) hat vielleicht schon die 45 Sekunden Marke geknackt. Aber da ist natürlich noch Luft nach oben ...
Danach erfüllen fast alle die Vorgaben sich möglichst wenig zu bewegen: 2 Schritte vorwärts und zurück und rechtsherum drehen, wiederholen und linksrum drehen. Vorbildlich auch, dass fast alle brav am Platz bleiben und keine gefährlichen Vorwärtsschritte machen.
Tja, so funktioniert der galoppierende Wahnsinn…
LöschenAber zu dem Video sag ich lieber nix – sonst werde ich noch wegen „Geschäftsschädigung“ verklagt.
Der Veranstalter ist da ziemlich humorlos!